Zwei Frauen warten auf eine Gelegenheit - Kapitel 12
ist. Jemand hat mich kurz nach Mitternacht aus dem Auto geworfen.
Ich habe heute Geburtstag, sagte der Mann. Wollen Sie mit mir frühstücken?
Ich konnte mein Glück kaum fassen. Gern! Wie alt sind Sie?
Schweigen. Wie alt sind Sie?
Dreiundvierzig.
Gleicher Jahrgang, lachte ich.
Der Mann sagte, dass er schlecht hört.
Warum? Warum!
Ich habe zwanzig Jahre lang als Spulenaufsetzer in einer automatischen Weberei gearbeitet.
Da ist es so laut? Da ist es so laut!
Ja. Unerträglich.
90 M, Wien, Am Graben. – Alles, was recht ist. Ziehe mir die Muttergottes nicht aus der Grotte! Sie lebt und achtet darauf, dass wir nicht unter der Brücke landen.
Süß finde ich, dass Du Dein richtiges Alter nennst. Ich hätte gelogen.
Heute ist ein alter Mann mit seinem Spazierstock auf den Busfahrer losgegangen. Er hat ihm mit dem Stock auf den Kopf geschlagen, wollte dann wegrennen, ist hingefallen, und als die Rettung kam, war er tot. Der Busfahrer wurde durch einen neuen ersetzt. Mein Lieblingskleid ist mir leider zu klein geworden. Habe etwas zu viel von den Zimtsternen gegessen. Jetzt kam mir die Idee, Heinrichs Kaschmirschal zu zerschneiden, die Seitennähte aufzutrennen, um dann ein Stück Kaschmir einzufügen. Es sähe dann aus wie ein Kleid von Karl Lagerfeld. Ich liebe meine Nähmaschine! Die Baumwollfäden! Die Synthetikfäden, das Stichprogramm und die Schneiderkreide!
91 I, Hannover, Ernst-August-Platz. – Liebe Freundin, Musik ist nicht immer Trost für mich. Aber wenn sie es ist, stürzt sie sich auf mich wie der Wasserfall mit seinen brechenden Wänden.
Zu Weihnachten hat mir Jakob eine CD geschenkt.
Jon Balke Batagraf: Say And Play. Darauf gibt es ein Stück, The Wind Calmer, in dem ein Gedicht rezitiert wird, Jakten pa jaet. Das Gedicht ist von dem norwegischen Dichter und Dramatiker Torgeir Rebolledo Pedersen, der es auch vorträgt.
Es gibt eine englische Übersetzung des Gedichts von John Irons, The hunt for the yes. Jakob hat mir eine deutsche Übersetzung der englischen Übersetzung gemacht.
Da mich der Liedtext sehr berührt, schicke ich ihn Dir.
DIE JAGD NACH DEM JA
Liebe ist
ein ewiges
Vorsprechen, um zu patzen
nah beieinander
bis auf die Knochen
um füreinander
die Hauptrolle zu spielen
mit Gesten groß
wie Giraffen
Dann dreht der Wind
bläst eine Stadt weg
Ich laufe ihr nach
Schrei Geliebte
Hab keine Angst
vor den Brechern
Schrei
Hab keine Angst
vor dem, was am meisten ängstigt
denn ich, ich bin der Besänftiger der Winde
werde die Winde beruhigen
und polieren die See
Schein
nur auf mich
Fräulein Sonnenschein
Dann werd ich schießen
auf Dich mit den
hoffnungsvollsten hellgrünsten
Lettern, Fräulein Laub
Fräulein Mörder
Fräulein Hebamme
meines Herzens Freude
meines Schmerzes geschnitzte Not
Du betrunkener Rhododendron voll
von dir, du Festspiel
Zum Wohl auf die große
Ähnlichkeit
zwischen dir und mir
Dass wir beide
von diesem sterblichen Stoff sind von
dem das sich Leben nährt
Diesem sterblichen Ja
Nähen kann ich nicht. Knöpfe mag ich. Leert man sie auf den Tisch, liegen sie da wie Schotter. Und man wühlt darin wie nach Gold und Edelsteinen. Als junges Mädchen habe ich in einer Jacquardweberei weben gelernt. Die Qualität eines Kleiderstoffes erkenne ich beim Drüberfahren mit der Hand. Ich gehe nie in ein billiges Kleidergeschäft. Lieber trage ich jahrelang dasselbe Gewand.
Ich nenne immer mein richtiges Alter. Aber gibt es ein Produkt, das jünger machen soll, probiere ich es aus. Mit dem Resultat, dass meine Gesichtshaut danach brennt und mich die Leute fragen, ob ich unter Wanderröte leide.
Warum isst Du so viele Zimtsterne? Sind die nicht bockhart? Trinkst Du Tee dazu?
Jakob mag Madeleines und Mutzemandeln.
Meine Lieblingskekssorte ist von Arco: Vanillekipferln mit Schokoüberzug und einer draufgeklebten Walnuss. Drei Kilo Körpergewichtszunahme in der Woche sind garantiert. Dazu Glühwein. Schrecklich, ich weiß. Aber an Festtagen mag ich es verschwenderisch. Wie die reiche Kellermaus. Die sich durch den Käse wühlt und sieben Monate davon zehrt. Oder weniger?
Meine Mama hat früher auch Kleider genäht. Dabei sah ich ihr gerne zu. Beeindruckt hat mich, wenn sie mit dem gezackten Kopierrad über das Schnittmuster radelte. Das sah aus wie ein Rauchfangkehrer auf dem Einrad.
92 M, Wien, Am Graben. – Das habe ich mir gleich gedacht, dass Dein Jakob so eine Art Proust ist, taucht er die Madeleines in Tee und schließt die Augen? Heute komme ich mir dumm vor wie eine Kuh, was sage ich denn, wie eine Herde von Kühen! Ich habe Kuhaugen, wenn einer es gut mit mir meint, sagt er, dass sie wie Haselnüsse sind.
Ich liebe Stoff. Wenn ich mich in einem Stoffgeschäft aufhalte, bekomme ich feuchte Hände wie Heinrich in einem Buchladen. Nähen kann ich trotzdem nicht, ich nähe zwar ständig, und meine Nähmaschine kommt gleich nach meinem Schreibcomputer, aber es sieht dann meistens etwas merkwürdig aus. Jedenfalls sind es Unikate. Ich ändere überhaupt alles, was ich kaufe, und sei es, dass ich mir Bündchen an einen Pullover stricke, den Halsausschnitt ändere oder bei Kleidern Bordüren über den Stoff nähe. Ich habe die Haare ein Stück geschnitten, mit der Stoffschere bin ich hineingefahren, jetzt sehe ich aus wie Keith Richards.
Fenster müssen blank sein.
93 I, Hannover, Ernst-August-Platz. – O nein! Jakobs Vorliebe für Madeleines hat nichts mit Proust zu tun. Sondern mit der vorzüglichen Konditorei in unserer Nähe. Nirgendwo sonst gibt es so gute! Ich mag keine Madeleines. Sie kleben mir irgendwie an den Zähnen. Genauso wie Mutzemandeln.
Selber die Haare schneiden. Machst Du mir das nach? Früher habe ich dabei wenigstens noch gut gesehen. Aber heute nicht einmal mit Brillen. Im Gegenteil, die sind dabei hinderlich. Wegen der Fassung. Deswegen schneide ich mir oft ins Ohr. Wie das dann blutet! Jakob ist jedes Mal ganz konsterniert, wenn er mich so sieht, und nennt mich Van Gogh. Da Du Dir die Haare mit der Stoffschere schneidest, dürfte Dein Schnitt gerader sein als meiner. Ich hantiere mit der Nagelschere. Und mit der Zitterhand erwische ich oft das Haarbüschel nicht.
94 M, Wien, Am Graben. – Du wirst es mir nicht glauben, aber es ist die Wahrheit. Ich hatte Dir doch erzählt, dass zwei Kanalarbeiter bei mir waren und Schäden am Haus beseitigt haben. Dann war alles in Ordnung. Ich ließ mir ein Taxi kommen, weil ich Heinrich überraschen wollte. Also, da komme ich in die Wohnung – leise habe ich die Tür aufgesperrt – leise die Wohnzimmertür geöffnet, und da sitzt Heinrich mit einer blonden schnittlauchhaarigen Frau auf dem Sofa, sie haben Whiskygläser vor sich und weißen Käse. Er sieht mich, die Frau springt auf, eilt zu mir, gibt mir die Hand: »Doktor Schreiber, mein Name, ich bin eine ehemalige Kollegin Ihres Mannes. Wohne wieder in Wien, und weil ich niemand mehr kenne, habe ich Heinrich angerufen.« Eine Schwäbin. Wenn ich Schwäbisch höre, dreht es mir den Magen um. So ein Gudrun-Ensslin-Typ. (Mir fällt eine Redewendung von ihr ein: »Bewusstsein der Pflicht zum Widerstand.«)
»Hat er Ihnen einen Heiratsantrag gemacht?«, frage ich.
Sie wird über und über rot.
Heinrich sagt: »Meine Frau ist gern provokant.«
Er drückt mich an sich, er riecht, wie er immer riecht, sehr appetitlich, sein Kuss schmeckt, wie eben Heinrichküsse schmecken. Habe ich Dir eigentlich je erzählt, dass Heinrich früher Kardiologe im Hanusch-Krankenhaus war? Seit zehn Jahren arbeitet er nicht mehr. Er hasst es, über diese Zeit zu reden. Er hat es mir verboten, darüber zu reden (als ob man mir etwas verbieten könnte). Ich hatte ihn damals gefragt: »Wieso darf man nicht darüber reden, ist ein Patient unter deinen Händen dahingegangen?«
Wir gehen zu dritt in die Cantinetta und essen gut. Die Schreiber ist keine Gefahr für mich. Sie ist zickig, und ihr Lacher ist eine katastrophale Tonleiter.
Das war nur die Einleitung meiner Geschichte. Am nächsten Tag bin ich wieder ins Freudenhaus gefahren, weil ich meinen Computer vergessen hatte. Die Tür war zugesperrt, und ein Schlüssel steckte von innen. Ich ging ums Haus herum, bog den Bambus zur Seite und stieg durchs Kellerfenster ein. Weißt Du, wer im Haus war? Die zwei Kanalarbeiter. Ich hatte ihnen bei der Auszahlung gesagt, dass ich mit meinem Mann verreisen werde und länger nicht ins Freudenhaus komme. Als sie mich sehen, erschrecken sie, und der Ostdeutsche beginnt zu reden, der andere verhält sich still.
»Wir dachten«, sagt er, »Sie sind verreist«, so redet er, als ob ihm schon das Haus gehörte. Ich will mich schon aufbäumen, da überlege ich. Offensichtlich haben sie sich einen Nachschlüssel machen lassen. Ich bin im Nachteil. Muss mich geistreich verhalten. »Wir dachten«, redet der Ostdeutsche weiter, »weil wir Sie als großzügig erlebt haben, dass wir eine Woche bei Ihnen wohnen könnten. Sie hätten garantiert nichts bemerkt. Alles hätten wir wieder so hingestellt. Aber weil sie schon da sind …«, und da höre ich im oberen Stock jemand husten, sehr heftig, es klingt, als huste ein Kind, und es klingt, als würden kleine Füße auf und ab tappen.
»Wer ist im oberen Stock?«, frage ich. Sie nehmen mir mein Handy weg. Der Ostdeutsche ist frech und nicht verlegen, er sagt: »Sie sind mehr oder weniger krank da oben, fiebrig, die Eltern der Kinder sind beim Arbeiten, es sind Zigeuner, ihr Pate hat uns Geld gegeben, wenn wir sie zwei Wochen beherbergen. Ziemlich viel Geld, wir können es teilen mit Ihnen. Also. Nach einer Woche ist alles wieder beim Alten.«
»Was heißt arbeiten?«, frage ich, und er sagt: »Betteln, was denn sonst.« Der andere ist immer noch stumm.
»Aber«, sage ich weiter, »das, was ich eben gehört habe, klingt verdammt nach Keuchhusten, wissen Sie, wie gefährlich das ist?« Und im Reden werde ich schlau und sage: »Wahrscheinlich Tuberkulose, das ist bei den Zigeunern verbreitet. Wissen Sie eigentlich, wie ansteckend das ist? Möchten Sie sich anstecken und daran sterben?« Schon halte ich mir mein Halstuch an den Mund. Ich merke, dass der Ostdeutsche nervös wird.
»Hören Sie«, sage ich scheinbar souverän, »ich bin Ärztin, lassen Sie mich das Kind anschauen, ich kann Medikamente holen. Haben die Kinder heute schon gegessen, haben sie Decken? Soviel ich weiß, sind nur zwei Decken im