Zehnter Dezember - Teil 35
Leben. Jodi-Jode. Kleines Sommersprossengesicht. Schwanger jetzt. Nicht verheiratet. Nicht mal in Beziehung. Blöder Lars. Was für ein Mann ließ denn so ein hübsches Mädchen sitzen? Ein totaler Schatz. Kam gerade ein bisschen in ihrem Beruf voran. Man konnte sich doch nicht so lange Zeit freinehmen, wenn man gerade erst angefangen hatte –
Wenn er die Kinder so in Gedanken aufrief, wurden sie wieder ganz wirklich für ihn. Was – nein, den Ball willst du nicht wieder ins Grollen bringen. Jodi war schwanger. Ins Rollen. Er hätte lang genug durchhalten können, um das Baby zu sehen. Das Baby zu halten. Das war traurig, ja. Dieses Opfer musste er bringen. Das hatte er in seiner Nachricht erklärt. Oder? Nein. Hatte keine Nachricht hinterlassen. Konnte er nicht. Aus irgendeinem Grund hatte er es nicht gekonnt. Aus welchem noch mal? Er war sich ziemlich sicher, dass es da irgendeinen –
Versicherung. Es durfte nicht so aussehen, als hätte er es absichtlich getan.
Kleine Panik.
Kleine Panik jetzt.
Er war dabei, sich aus dem Verkehr zu ziehen. Und dabei hatte er einen Jungen in die Sache reingezogen. Der unterkühlt durch den Wald lief. Zwei Wochen vor Weihnachten zog er sich aus dem Verkehr. Mollys Lieblingsfeiertag. Molly hatte was mit der Herzklappe, was mit Panik, und diese Sache könnte –
So war er aber – so war er nicht. So was hätte er nicht getan. Nie getan. Nur dass er – es getan hatte. Er war gerade dabei. Es war bereits im Gang. Wenn er sich nicht in Bewegung setzte, würde es – würde es bald geschafft sein. Getan.
Heute wirst du mit mir im Paradiese –
Er musste kämpfen.
Schaffte es aber nicht mal mehr, die Augen offen zu halten.
Er versuchte, letzte Gedanken an Molly zu schicken. Verzeih mir, mein Schatz. Der größte Loser aller Zeiten. Vergiss diesen Teil. Vergiss, dass ich solcherart abgetreten bin. Du kennst mich. Du weißt, ich habe es nicht so gewollt.
Er war in seinem Haus. Er war nicht in seinem Haus. Er wusste das. Aber er konnte jede Einzelheit erkennen. Da stand das leere Krankenhausbett, das Porträtfoto von IhmMollyTommyJodi, wie sie um einen Pseudo-Rodeozaun herum posierten. Da stand der kleine Nachttisch. Seine Medikamente im Pillendöschen. Das Glöckchen, mit dem er Molly rief. Was für ein Ding. Ein grausames Ding. Plötzlich erkannte er glasklar, wie grausam es war. Und selbstsüchtig. O Gott. Was war er für ein Mensch? Die Haustür ging auf. Molly rief ihn. Er würde sich in der Glasveranda verstecken. Rausspringen, sie überraschen. Irgendwie hatten sie umgebaut. Ihre Glasveranda war jetzt die Glasveranda bei Mrs Kendall, der Klavierlehrerin seiner Jugend. Wäre doch nett für die Kinder, Klavierunterricht zu bekommen in demselben Raum, wo er –
Hallo?, sagte Mrs Kendall.
Sie meinte eigentlich: Stirb noch nicht. Hier in der Glasveranda sind wir viele, die ein hartes Urteil über dich sprechen wollen.
Hallo, hallo!, rief sie.
Um den Teich kam eine silberhaarige Frau herum.
Er brauchte nur zu rufen, sonst nichts.
Er rief.
Um ihn am Leben zu halten, häufte sie alle möglichen Dinge des Lebens auf ihn, Dinge, die nach einem Zuhause rochen – Mäntel, Pullover, einen Blumenregen, eine Mütze, Socken, Schuhe –, zog ihn mit erstaunlicher Kraft auf die Füße und bugsierte ihn hinein in ein Baumgewirr, ein Baumwunderland voller Eiszapfen. Er hatte einen Kleiderhaufen auf sich. Er war das Bett bei einer Party, wo alle die Kleider draufwarfen. Sie wusste auf alles eine Antwort: wo er langgehen sollte, wann er Pause machen sollte. Sie war so stark wie ein Ochse. Er war jetzt auf ihrer Hüfte wie ein Baby; sie hatte beide Arme um seine Taille geschlungen und hievte ihn über eine Wurzel.
Sie waren gefühlt stundenlang unterwegs. Sie sang. Schwatzte. Fauchte ihn an, erinnerte ihn mit Stupsern gegen seine Stirn (mitten auf seine Stirn) daran, dass ihr verdammtes Kind zu Hause sei, praktisch erfroren, und deshalb müssten sie sich jetzt ranhalten.
Meine Güte, es gab so viel zu tun. Falls er es schaffte. Er würde es schaffen. Diese Frau würde nicht zulassen, dass er es nicht schaffte. Er würde versuchen müssen, Molly begreiflich zu machen – begreiflich, warum er es getan hatte. Ich hatte Angst, ich hatte Angst, Mol. Vielleicht wäre sie bereit, es Tommy und Jodi nicht zu erzählen. Es gefiel ihm nicht, dass sie von seiner Angst erfuhren. Und erfuhren, was für ein Narr er gewesen war. Ach, scheiß drauf! Erzähl’s doch aller Welt! Er hatte es getan! Er hatte sich dazu getrieben gefühlt, er hatte es getan, und das war’s. Das war er. Das war ein Teil von ihm. Keine Lügen mehr, kein Schweigen, jetzt würde ein neues, ein anderes Leben kommen, wenn er nur –
Sie überquerten den Fußballplatz.
Da stand der Nissan.
Sein erster Gedanke war: Steig ein, fahr den Wagen nach Hause.
O nein, das machen Sie nicht, sagte sie mit ihrem rauchigen Lachen und führte ihn in ein Haus. Ein Haus am Park. Er hatte es eine Million Mal gesehen. Und jetzt war er drinnen. Es roch nach Männerschweiß und Spaghettisoße und alten Büchern. Wie eine Bibliothek, wo verschwitzte Männer hingingen und Spaghetti kochten. Sie setzte ihn vor einen Holzofen und brachte ihm eine braune Decke, die nach Medikamenten müffelte. Redete nur in Anweisungen: Trinken Sie das, geben Sie das her, wickeln Sie sich ein, wie heißen Sie, wie lautet Ihre Telefonnummer?
Was für ein Ding! Erst fast in Unterwäsche im Schnee sterben und dann das hier! Wärme, Farben, Hirschgeweihe an den Wänden, ein altes Kurbeltelefon, wie man es aus Stummfilmen kannte. Das war ein Ding. Jede Sekunde war ein Ding. Er war nicht in der Unterhose im Schnee am Teich gestorben. Der Junge war nicht tot. Er hatte niemanden getötet. Ha! Irgendwie hatte er alles zurückbekommen. Alles war jetzt gut, alles war –
Die Frau bückte sich zu ihm und berührte seine Narbe.
Wow, autsch, sagte sie. Das ist Ihnen aber nicht da draußen passiert, oder?
Da fiel ihm wieder ein, dass der braune Fleck kein bisschen weniger in seinem Kopf saß als zuvor.
Ach Gott, durch all das musste er ja immer noch durch.
Wollte er das immer noch? Wollte er immer noch leben?
Ja, ja, o Gott, ja, bitte.
Weil, okay, die Sache war die – das begriff er jetzt, fing an, es zu begreifen –, wenn ein Mensch am Ende auseinanderfiel und schlimme Dinge sagte oder tat oder Hilfe brauchte, in ganz beachtlichem Maße Hilfe brauchte? Na und? Was war dann? Warum sollte er nicht komische Sachen tun oder sagen oder seltsam oder ekelhaft aussehen? Warum sollte ihm nicht die Scheiße an den Beinen herunterlaufen? Warum sollten die Menschen, die ihn liebten, ihn nicht hochheben und beugen und füttern und abwischen, wo er dasselbe mit Freuden für sie tun würde? Er hatte befürchtet, all das Hochheben und Beugen und Füttern und Abwischen hätte ihn entwürdigt, das befürchtete er immer noch, aber zugleich begriff er plötzlich, dass vor ihm noch viele – viele Tropfen Güte, so kam ihm das jetzt in den Kopf – viele Tropfen glücklicher – guter Gemeinschaft – liegen konnten und dass es ihm nicht zustand – niemals zugestanden hatte –, diese gemeinschaftlichen Tropfen zu hindern.
Verhindern.
Der Junge kam aus der Küche, verloren in Ebers großem Mantel, und jetzt, wo er die Stiefel nicht mehr anhatte, bildete die Schlafanzughose eine Pfütze um seine Füße. Er nahm sanft Ebers blutige Hand. Sagte, es tue ihm leid. Dass er im Wald so ein Dummkopf gewesen sei. Dass er abgehauen sei. Er hätte es einfach nicht mehr gerafft. So vor lauter Angst und so.
Hör zu, sagte Eber heiser. Du hast dich unglaublich gut geschlagen. Du hast es perfekt gemacht. Ich bin jetzt hier. Wer hat das geschafft?
So. Das konnte er doch immer noch tun. Vielleicht fühlte sich der Junge jetzt besser? Und er hatte es bewirkt? Das war ein Grund. Weiter durchzuhalten. Oder? Kannst keinen trösten, wenn du nicht mehr da bist. Kannst nicht mal mehr einen Pups lassen, wenn du weg bist.
Als es auf Allens Ende zuging, hatte Eber in der Schule ein Referat über die Manatis gehalten. Und dafür eine Eins von Schwester Eustace bekommen. Die ganz schön hart sein konnte. An der rechten Hand fehlten ihr zwei Finger von einem Rasenmäherunfall, und manchmal benutzte sie diese Hand, um ein Kind zu Tode zu erschrecken.
Daran hatte er seit Jahren nicht mehr gedacht.
Sie hatte diese Hand auf seine Schulter gelegt, nicht um ihn zu erschrecken, sondern als eine Art Lob. Das war ganz toll. Ihr solltet eure Arbeit alle so ernst nehmen wie Donald. Donald, ich hoffe, du gehst nach Hause und erzählst deinen Eltern davon. Er war nach Hause gegangen und hatte Mom davon erzählt. Die ihm vorgeschlagen hatte, Allen davon zu erzählen. Der an jenem Tag mehr Allen als DAS DA gewesen war. Und Allen –
Ha, wow, Allen. Was für ein Mann.
Ihm kamen die Tränen, jetzt vor dem Holzofen.
Allen hatte – Allen hatte gesagt, das sei großartig. Ein paar Fragen gestellt. Zu den Manatis. Was fraßen die noch mal? Und konnten die sich tatsächlich miteinander verständigen, was meinte er? Das musste vielleicht eine Strapaze gewesen sein! In seinem Zustand. Vierzig Minuten über Rundschwanzseekühe? Inklusive ein Gedicht, das Eber geschrieben hatte? Ein Sonett? Über die Manatis?
Er war so glücklich, Allen wiederzuhaben.
Ich werde es ihm gleichtun, dachte er. Ich werde versuchen, es ihm gleichzutun.
Die Stimme in seinem Kopf war zittrig, hohl, wenig überzeugt.
Dann: Sirenen.
Irgendwie: Molly.
Er hörte sie an der Haustür. Mol, Molly, au weia. Zu Anfang ihrer Ehe hatten sie sich oft gestritten. Die wahnwitzigsten Sachen gesagt. Nachher flossen manchmal Tränen. Tränen im Bett? Und dann machten sie – dann presste Molly