Zehnter Dezember - Teil 33
ihnen vorbei zum Mittagessen ins Atrium strebten. Aber nein. Er war jetzt hinüber und vermoderte irgendwo, ohne Hirn im Kopf.
Als er auf die Scheibe Hirn schaute, hatte sich Eber überlegen gefühlt. Armer Kerl. Ziemlich viel Pech, dass ihm das passiert war.
Molly und er waren ins Atrium geflüchtet, hatten heiße Scones bestellt und einem Eichhörnchen zugeschaut, das sich mit einem Plastikbecher anlegte.
Wie ein Fötus um den Baum geschlungen, versuchte Eber die Narbe auf seinem Kopf zu ertasten. Versuchte sich aufzurichten. Keine Chance. Versuchte sich am Baum aufzurichten. Seine Hand wollte sich nicht schließen. Er griff mit beiden Händen um den Stamm, verschränkte die Hände an den Handgelenken und zog sich hoch, stützte sich gegen den Baum.
Wie war das?
Ordentlich.
Gut sogar.
Vielleicht war’s das jetzt. Vielleicht kam er nur bis hier. Er hatte sich vorgestellt, dass er mit gekreuzten Beinen oben auf dem Hügel am Felsen sitzen würde, aber machte das wirklich einen Unterschied?
Er brauchte jetzt nur noch an Ort und Stelle zu bleiben. Indem er sich zu denselben Gedanken zwang, mit denen er sich aus dem Krankenhausbett getrieben hatte, in den Wagen und über den Fußballplatz und durch den Wald: MollyTommyJodi, die sich in der Küche aneinanderschmiegten, voller Mitleid/Abscheu, MollyTommyJodi, die vor einem grausamen Satz von ihm zurückwichen, Tommy, der seinen dünnen Oberkörper umschlang und hochhob, damit MollyJodi mit einem Waschlappen drunterkamen –
Dann wäre es geschafft. Dann wäre er sämtlichen zukünftigen Erniedrigungen zuvorgekommen. Und alle seine Ängste wegen der kommenden Monate wären abgehakt.
Abgehackt.
Das war’s. War’s das? Noch nicht. Aber bald. Eine Stunde? Vierzig Minuten? Tat er das wirklich? Ja, er tat es. Wirklich? Würde er es zurück zum Auto schaffen, wenn er es sich anders überlegte? Wohl kaum. Da war er nun. Er war da. Die unglaubliche Gelegenheit, alles in Würde zu beenden, lag in seiner Hand.
Er brauchte nur noch an Ort und Stelle zu bleiben.
Ich werde von nun an nicht mehr kämpfen.
Konzentrier dich auf die Schönheit des Teichs, die Schönheit des Waldes, die Schönheit, zu der du zurückkehrst, die Schönheit, die in allem steckt, so weit du –
Ach, verdammt noch mal.
Ach du Schande.
Da war ein Junge auf dem Teich.
Dicker Junge in Weiß. Mit Gewehr. Und Ebers Mantel.
Du kleiner Pupser, leg den Mantel hin, schaff deinen Arsch nach Hause, kümmer dich um deine eigene –
Verflucht. Verflucht noch mal.
Jetzt klopfte er mit dem Gewehrkolben aufs Eis.
Man will doch nicht von irgendeinem Kind gefunden werden. Das würde dem einen Schrecken einjagen. Obwohl Kinder andauernd irgendwelches schaurige Zeugs fanden. Einmal hatte er ein Nacktfoto von Dad und Mrs Flemish gefunden. Das war schaurig gewesen. Natürlich nicht so schaurig wie ein grimassierender alter –
Jetzt schwamm der.
Schwimmen war nicht erlaubt. Da stand ein eindeutiges Schild. SCHWIMMEN VERBOTEN.
Der Junge war ein schlechter Schwimmer. Die reinste Strampelorgie da unten. Der Junge sorgte mit seinem Gestrampel für einen schnell größer werdenden schwarzen Tümpel. Mit jedem Strampeln erweiterte der Junge stufenweise den Umfang des schwarzen –
Er war auf dem Weg nach unten, bevor ihm klar war, dass er sich in Bewegung gesetzt hatte. Junge im Teich, Junge im Teich, lief ihm immer wieder durch den Kopf, während er vorantrippelte. Von Baum zu Baum, so ging es voran. Wenn man keuchend dastand, lernte man einen Baum gut kennen. Dieser hier hatte drei Knoten: Auge, Auge, Nase. Der da fing als ein Baum an und wurde zu zweien.
Plötzlich war er nicht mehr nur der sterbende Mann, der nachts in seinem Krankenhausbett aufwachte und dachte, Bitte mach, dass das nicht wahr ist, bitte mach, dass das nicht wahr ist, sondern teilweise wieder der Mann, der Bananen ins Tiefkühlfach packte, sie dann auf dem Tresen zerschlug und flüssige Schokolade über die Trümmer goss, der Mann, der einmal bei einem Unwetter draußen vor einem Klassenzimmerfenster gestanden hatte, um zu sehen, wie Jodi mit dem kleinen rothaarigen Scheißer klarkam, der ihr am Büchertisch Probleme gemacht hatte, der Mann, der an der Uni Futterhäuschen für Vögel bemalte und am Wochenende in Boulder verkaufte, dabei einen Narrenhut trug und einen Jongliertrick vorführte, mit dem er –
Er drohte wieder hinzufallen, fing sich ab, erstarrte in einer gebückten Haltung, stürzte vornüber, klatschte aufs Gesicht, schlug sich das Kinn an einer Wurzel auf.
Man musste lachen.
Man musste beinahe lachen.
Er rappelte sich auf. Rappelte sich beharrlich auf. Seine rechte Hand ein blutiger Handschuh. Dumm gelaufen, harter Mann. Einmal hatte beim Football ein Zahn dran glauben müssen. Später, in der Halbzeit, hatte Eddie Blank den Zahn gefunden. Er hatte ihn Eddie abgenommen und weggeschmissen. Auch das war typisch für ihn.
Hier war die Spritzkehre. Jetzt war’s nicht mehr weit. Spitzkehre.
Was tun? Wenn er hinkam? Den Jungen aus dem Teich schaffen. Und wegschicken. Den Jungen durch den Wald, über den Fußballplatz und zu einem der Häuser an der Poole Street bugsieren. Wenn niemand zu Hause war, den Jungen in den Nissan stecken, Heizung voll aufdrehen, und dann – ins Mater Dolorosa? In die Notaufnahme? Der schnellste Weg zur Notaufnahme?
Noch fünfzig Meter bis zum Anfang des Pfades.
Noch zwanzig Meter bis zum Anfang des Pfades.
Danke, Gott, für meine Stärke.
Im Teich bestand er nur noch aus animalischen Impulsen, keine Worte, kein Ich, blinde Panik. Er beschloss, es richtig zu versuchen. Er griff nach der Kante. Die Kante brach ab. Er ging unter. Er traf auf Schlamm und stieß sich ab. Er griff nach der Kante. Die Kante brach ab. Er ging unter. Es hätte doch einfach sein müssen, da rauszukommen. Aber er schaffte es einfach nicht. Wie beim Jahrmarkt. Es müsste einfach sein, drei Hunde aus Sägespänen von einer Leiste zu ballern. Und es war auch einfach. Nur halt nicht mit der Anzahl von Bällen, die man dafür bekam.
Er wollte ans Ufer. Er wusste, dass das der richtige Ort für ihn war. Aber der Teich sagte immer weiter nein.
Dann sagte er vielleicht.
Die Eiskante brach wieder ab, aber beim Abbrechen zog er sich ein winziges bisschen näher ans Ufer heran, und seine Füße trafen schneller auf den Schlamm, als er dieses Mal unterging. Das Ufer war abschüssig. Plötzlich gab es Hoffnung. Er wurde wild. Er drehte total durch. Dann war er draußen, das Wasser strömte an ihm herab, ein Stück Eis stak in seinem Mantelärmel wie eine kleine Glasscherbe.
Trapezoid, dachte er.
In seinem Kopf war der Teich nicht endlich und kreisförmig und hinter ihm, sondern unendlich und allumschließend.
Er hatte das Gefühl, er sollte besser still liegen, sonst würde das, was ihn gerade hatte umbringen wollen, einen weiteren Versuch starten, es war nämlich nicht nur im Teich, sondern auch hier draußen, in jedem natürlichen Ding. Hier gab es weder ihn noch Suzanne, noch Mom, gar nichts außer dem lauten Schluchzen eines Jungen, das sich anhörte wie ein Baby unter Schock.
Eber humpeltrappelte aus dem Wald und fand: keinen Jungen. Nur schwarzes Wasser. Und einen grünen Mantel. Sein Mantel. Sein früherer Mantel, da draußen auf dem Eis. Das Wasser beruhigte sich schon wieder.
O Scheiße.
Deine Schuld.
Der Junge war nur wegen –
Am Ufer lag neben einem umgedrehten Boot irgendein Ignorant. Mit dem Gesicht nach unten. Bei der Arbeit. Legt sich bei der Arbeit hin. Muss auch schon dagelegen haben, als der arme Junge –
Halt, zurückspulen.
Es war der Junge. Oh, Gott sei Dank. Bäuchlings, wie die Leichen auf den Matthew-Brady-Fotos aus dem Bürgerkrieg. Beine immer noch im Wasser. Als hätte ihn beim Herauskrabbeln die Kraft verlassen. Der Junge war durchgeweicht, der weiße Mantel war grau von der Feuchtigkeit.
Eber zerrte den Jungen heraus. Dazu brauchte es viermal einen heftigen Ruck. Er hatte nicht die Kraft, ihn umzudrehen, aber wenigstens den Kopf konnte er bewegen, so dass der Mund nicht mehr im Schnee lag.
Der Junge hatte ein Problem.
Völlig durchnässt bei minus zwölf.
Todesurteil.
Eber ging auf ein Knie und erklärte dem Jungen mit ernster väterlicher Stimme, dass er aufstehen müsse und sich bewegen, sonst könne er seine Beine verlieren oder sterben.
Der Junge starrte Eber an, blinzelte und blieb liegen.
Er packte den Jungen am Mantel, rollte ihn herum und richtete ihn einigermaßen auf. Das Zittern des Jungen ließ sein eigenes Zittern nach gar nichts aussehen. Als hätte der Junge einen Presslufthammer in der Hand. Er musste ihn wärmen. Wie bloß? Umarmen, sich auf ihn drauflegen? Das wäre wie zwei Eis am Stiel aufeinandergelegt.
Eber fiel sein Mantel ein, draußen auf dem Eis, am Rand des schwarzen Wassers.
Puh.
Einen Ast finden. Nirgendwo Äste. Wo zum Kuckuck war ein guter abgefallener Ast, wenn man einen –
Schon gut, schon gut, er würde es ohne Ast tun.
Er ging fünfzehn Meter am Ufer entlang, trat auf den Teich, ging in einem großen Bogen über das feste Eis, wandte sich dem Ufer zu und näherte sich dem schwarzen Wasser. Seine Knie zitterten. Warum? Er hatte Angst, er könnte einbrechen. Ha. Depp. Angeber. Der Mantel war knapp fünf Meter weg. Seine Beine stießen sich vom Boden ab. Seine Beine waren abstoßend.
Herr Doktor, meine Beine sind abstoßend.
Was Sie nicht sagen.
Er näherte sich trippelnd. Der Mantel war drei Meter weg. Er ging auf die Knie, rutschte auf Knien näher heran. Ging auf den Bauch. Streckte einen Arm aus.
Rutschte auf dem Bauch weiter.
Noch bisschen.
Noch bisschen.
Dann hatte er eine winzige Ecke mit zwei Fingern erwischt. Er zerrte ihn zu sich, rutschte mit so etwas wie einem Rückwärts-Brustschwimmzug zurück, ging auf die Knie, stand auf, wich noch ein paar Schritte zurück und war von neuem ungefähr fünf Meter weit weg und in Sicherheit.
Dann war es wie früher, wenn er Tommy oder Jodi fürs Bett fertig machte und sie schon halb ausgeknipst waren. Man sagte »Arm«, und der Junge hob einen Arm. Man sagte »Anderer Arm«, und der Junge hob den anderen Arm. Als