Zehnter Dezember - Teil 3
Boden. Der Kerl zerrte sie hoch. Sie warf sich hin. Er zerrte sie hoch. Es war seltsam, Alison so zu sehen, herumgeschleudert wie eine Stoffpuppe in dem Heiligtum des perfekten Gartens, den ihr Dad für sie angelegt hatte. Sie warf sich hin.
Der Kerl zischte ihr etwas zu, und sie stand auf, plötzlich gefügig.
In seiner Brust fühlte Kyle die ganzen Leitlinien, Große Leitlinien und Kleine, die er gerade alle verletzte. Er stand ohne Schuhe auf der Terrasse, ohne Hemd auf der Terrasse, war draußen, während sich ein Fremder in der Nähe befand, hatte Kontakt zu dem Fremden aufgenommen.
Letzte Woche hatte Sean Ball eine Perücke in die Schule mitgebracht, um noch wirksamer nachzuäffen, wie Bev Mirren auf ihren Haaren herumkaute, wenn sie nervös war. Kyle hatte kurz überlegt, ob er sich einschalten sollte. Beim Abendmeeting hatte Mom gesagt, sie fände Kyles Entscheidung, sich nicht einzuschalten, klug. Dad hatte gesagt, Das ging dich nichts an. Du hättest dir schwere Verletzungen zuziehen können. Mom hatte gesagt, Denk daran, wie viel wir in dich investiert haben, geliebter einziger Sohn. Dad hatte gesagt, Ich weiß, wir kommen dir manchmal streng vor, aber du bist buchstäblich alles, was wir haben.
Jetzt waren sie bei der Fußball-Kickwand, Alisons Arm war auf ihrem Rücken verdreht. Sie gab einen stetigen leisen Laut der Ablehnung von sich, als wollte sie ein Geräusch erfinden, das angemessen ausdrückte, wie sie das fand, was gleich – sie erkannte es erst in diesem Augenblick – mit ihr passieren würde.
Er war doch noch ein Kind. Er konnte nichts tun. In seiner Brust spürte er das intensive Nachlassen von Druck, zu dem es immer kam, wenn er sich einer Leitlinie unterwarf. Dort zu seinen Füßen lag die Geode. Die sollte er einfach anschauen, bis sie weg waren. Es war ein großes Exemplar. Vielleicht das überhaupt größte. Die Kristalle an der Schnittfläche glitzerten in der Sonne. Sie würde schön im Garten aussehen. Wenn er sie dann mal eingesetzt hätte. Er würde sie einsetzen, sobald die weg waren. Dad würde beeindruckt sein, dass er, selbst nach den Ereignissen, daran gedacht hatte, die Geode einzusetzen.
So ist es richtig, Scout.
Wir sind sehr angetan, geliebter einziger Sohn.
Super gemacht, Scout.
Heilige Scheiße. Es lief tatsächlich. Sie marschierte genauso fügsam und treuherzig mit, wie er es immer gewusst hatte. Er hatte sie im Kopf seit der Taufe von Dings. Sergeis Kleinem. In der russischen Kirche. Da hatte sie in ihrem Garten gestanden, und ihr Dad oder irgend so einer hatte sie fotografiert.
Er so, Hallo, Mieze.
Kenny so, Bisschen jung, Alter.
Und er so, Für dich vielleicht, Opa.
Wenn man Geschichte studierte, Kulturgeschichte, dann kam einem die eigene Epoche kleinlich vor. Es gab verschiedene Theorien der Einwilligung. In biblischen Zeiten konnte ein König über ein Feld reiten und sagen: Die da. Und dann wurde sie zu ihm gebracht. Und sie wurden ordentlich vermählt, und wenn sie einem Sohn das Leben schenkte, super, holt die Wimpel raus, die behalt ich. Ob sie in jener ersten Nacht drauf stand? Wahrscheinlich nicht. Ob sie zitterte wie Espenlaub? Egal. Nicht egal waren die Nachkommen und das Weiterleben des Geschlechts. Plus die Begeisterung des Königs, die zu berechtigter königlicher Macht führte.
Da war der Bach.
Er führte sie direkt hindurch.
Die folgenden Punkte blieben in der Entscheidungsmatrix: zur Seitentür des Lieferwagens bringen, reinschubsen, hinterher, Handgelenke/Mund mit Klebeband umwickeln, an Kette legen, Ansage machen. Er hatte die Ansage voll drauf. Hatte sie sowohl auswendig gelernt, als auch mit Aufnahme geübt: Beruhige dich, mein Liebling, ich weiß, du hast Angst, weil du mich noch nicht kennst und das heute nicht erwartet hast, aber gib mir eine Chance, und du wirst sehen, wir werden schweben. Siehst du, ich lege das Messer da drüben hin, und ich gehe davon aus, dass ich es nicht benutzen muss, nicht wahr?
Falls sie nicht in den Lieferwagen einstieg, hart in den Bauch boxen. Dann hochheben, zur seitlichen Tür des Lieferwagens tragen, reinwerfen, Handgelenke/Mund mit Klebeband umwickeln, an die Kette legen, Ansage machen usw. usf.
Stopp, stehen bleiben, sagte er.
Mädchen blieb stehen.
Scheißkram. Seitentür des Lieferwagens war zu. Wie undiszipliniert war das denn. Sichergehen, dass die Tür offen war, gehörte ganz klar zu der missionsvorbereitenden Matrix. Melvin tauchte vor seinem geistigen Auge auf. Auf Melvins Gesicht lag der Ausdruck heißer Enttäuschung, der stets dem Hinternversohlen vorausgegangen war, das stets der anderen Sache vorausgegangen war. Behalt die Hände oben, sagte Melvin, verteidige dich.
Wohl wahr. Kleiner Fehler. Hätte die missionsvorbereitende Matrix noch mal checken sollen.
Keine große Sache.
Freude, keine Angst.
Melvin war seit fünfzehn Jahren tot. Mom seit zwölf.
Die kleine Schlampe hatte sich jetzt umgedreht, schaute zum Haus zurück. Diesen Eigensinn konnte man nicht durchgehen lassen. Der musste im Keim erstickt werden. Er durfte nicht vergessen, ihr früh wehzutun, um eine Grenze zu ziehen.
Dreh dich um, verdammt noch mal, sagte er.
Sie drehte sich um.
Er entriegelte die Tür, riss sie auf. Augenblick der Wahrheit. Wenn sie einstieg und ihn das Klebeband anbringen ließ, hatten sie es geschafft. Er hatte einen Ort in Sackett gefunden, ein Mordsmaisfeld mit Zugang über einen Feldweg. Wenn es ficktechnisch gut lief, konnten sie da gleich auf den Freeway. Praktisch den Lieferwagen klauen. Der gehörte Kenny. Hatte ihn für heute ausgeliehen. Scheiß auf Kenny. Kenny hatte ihn mal dämlich genannt. Dumm gelaufen, Kenny, der Spruch hat dich mal eben einen Lieferwagen gekostet. Wenn es ficktechnisch schlecht lief und sie ihn nicht richtig geil machte, würde er die Aktion abbrechen, die Zielperson kappen, raushieven, Lieferwagen säubern, falls nötig, Mais kaufen gehen, Wagen bei Kenny abliefern und sagen, Hey, Alter, da haste n Riesenhaufen Mais, danke für den Wagen, mit meinem Auto hätt ich niemals ne anständige Menge Mais kaufen können. Dann Ball flach halten, Zeitung lesen, wie damals nach der ungeilen Rothaarigen draußen in –
Mädchen sah ihn flehend an, so, Bitte nicht.
War das ein guter Zeitpunkt? Ihr eine in den Bauch zu verpassen, dass sie keine Luft mehr kriegte?
Genau.
Er tat es.
Die Geode war wunderschön. Was für eine wunderschöne Geode. Was machte sie wunderschön? Was waren die Haupteigenschaften einer wunderschönen Geode? Los, denk nach. Los, konzentrier dich.
Sie wird schon drüber wegkommen, geliebter einziger Sohn.
Das geht uns nichts an, Scout.
Wir sind beeindruckt von deinem guten Urteilsvermögen, geliebter einziger Sohn.
Schwach nahm er wahr, dass Alison einen Boxhieb abgekriegt hatte. Ohne den Blick von der Geode zu lassen, hörte er das leise uuf.
Ihm wurde ganz schlecht bei dem Gedanken, was er da gerade geschehen ließ. Sie hatten Goldfischfutter als Spielgeld genommen. Sie hatten Brücken aus Steinen gebaut. Unten an dem kleinen Bach. In der guten alten Zeit. O Gott. Er hätte niemals nach draußen kommen sollen. Sobald sie weg waren, würde er wieder reingehen, so tun, als wäre er nie draußen gewesen, an der Modelleisenbahnstadt weiterbauen, die ganze Zeit, bis Mom und Dad nach Hause kamen. Und wenn ihm irgendwann jemand davon erzählen würde? Dann würde er so ein Gesicht machen. Er konnte schon das Gesicht auf seinem Gesicht spüren, das er machen würde, so, Was? Alison? Vergewaltigt? Ermordet? O Gott. Vergewaltigt und ermordet, während ich ganz unschuldig an meiner Modelleisenbahnstadt gebaut habe, im Schneidersitz am Boden und ahnungslos wie ein kleiner kleiner –
Nein. Nein, nein, nein. Bald würden sie weg sein. Dann konnte er nach drinnen gehen. Den Notruf wählen. Aber dann würden alle erfahren, dass er nichts unternommen hatte. Und sein zukünftiges Leben wäre versaut. Für immer und ewig wäre er der Typ, der nichts unternommen hatte. Außerdem würde ein Anruf auch nichts nützen. Die wären ja längst weg. Die Schnellstraße war gleich auf der anderen Seite von Featherstone, mit einer Million Nebenadern und Kleeblättern und was da sonst noch alles von abging. Und das wär’s dann. Er würde reingehen. Sobald sie weg waren. Weg, weg, weg, dachte er, los, damit ich reingehen kann, endlich vergessen, was –
Dann rannte er. Über den Rasen. O Gott! Was machte er da, was machte er da? Himmel, Scheiße, die ganzen Leitlinien, die er verletzte! Durch den Garten rennen (schlecht für die Grasnarbe); eine Geode ohne Schutzhülle transportieren; über den Zaun springen, was den Zaun strapazierte, der ein hübsches Sümmchen gekostet hatte; den Garten verlassen; den Garten barfuß verlassen; den Sekundärbereich ohne Erlaubnis betreten; den Bach barfuß betreten (Glasscherben, gefährliche Mikroorganismen), und nicht nur das, o Gott, plötzlich begriff er, was sein leichtfertiger Anteil vorhatte, nämlich eine derart Große und absolute Leitlinie zu verletzen, dass es nicht mal mehr eine Leitlinie war, denn es brauchte keine Leitlinie, um zu wissen, wie total verboten es war, zu –
Er schoss aus dem Bach heraus, der Kerl drehte sich immer noch nicht um, und ließ die Geode gegen seinen Kopf fliegen, aus dem ein komisches randsickerndes Blutrinnsal kam, noch bevor der Schädel eine deutliche Delle kriegte und der Kerl sich auf seinen Arsch setzte.
Ja! Tor! Das machte Spaß! Spaß, einen Erwachsenen zu besiegen! Spaß, mit Hilfe der verblüffendsten gazellenschnellen Laufgeschwindigkeit, die die Menschheitsgeschichte je gesehen hatte, lautlos durch den Raum zu sausen und diesen Monstergoliath zu bezwingen, der andernfalls in diesem Augenblick gerade –
Was, wenn er es nicht getan hätte?
Gott, was, wenn er es nicht getan hätte?
Er stellte sich vor, dass der Kerl Alison zusammenfaltete wie einen bleichen Kleidersack, sie an ihren Haaren riss und grob drauflosstieß, während er, Kyle, geduckt und gehorsam dahockte, das klitzekleine Modellbahnviadukt in seinen lächerlichen Babypfoten und –
Himmel! Mit einem Satz war er da und schleuderte die Geode durch die Windschutzscheibe des Lieferwagens, die implodierte und einen Scherbenregen ins Innere schickte, begleitet von dem Klang tausender kleiner Windspiele aus Bambus.
Er krabbelte die Motorhaube hoch und holte die Geode wieder raus.
Ernsthaft?