Zehnter Dezember - Teil 25
dir, wovon ich König bin«, sagte Harris.
»O Harris, das ist zu viel, das ist wirklich ekelhaft«, sagte Ma.
Harris hob beide Hände über den Kopf, so: Sieger und auch noch Champion.
»Wir bringen dich in deinem alten Zimmer unter«, sagte Ma.
2.
Auf meinem Bett lagen ein Jagdbogen und ein violettes Halloween-Cape mit eingebautem Gespenstergesicht.
»Der Piep da ist von Harris«, sagte Ma.
»Ma«, sagte ich. »Harris hat es mir gesagt.«
Ich ballte meine Hand zur Faust und hielt sie mir oben an den Kopf.
Sie warf mir einen verständnislosen Blick zu.
»Vielleicht hab ich ihn bloß nicht richtig verstanden«, sagte ich. »Geschwulst? Er sagte, du hättest eine –«
»Vielleicht ist er bloß ein großer Pieplügner«, sagte sie. »Er denkt sich ständig irgendwelchen verrückten Piep über mich aus. Das ist so sein Hobby. Dem Postboten hat er erzählt, ich hätte ein falsches Bein. Eileen im Deli hat er gesagt, ich hätte ein Glasauge. Im Haushaltswarenladen hat er behauptet, ich würde Ohnmachtsanfälle kriegen und Schaum vorm Mund, wenn ich mich aufrege. Jetzt beeilt sich der Typ jedes Mal, mich so schnell wie möglich wieder rauszukriegen.«
Um zu zeigen, wie gut es ihr ging, machte Ma einen Hampelmann.
Harris trampelte nach oben.
»Ich sag ihm nicht, dass du das mit der Geschwulst verraten hast«, sagte Ma. »Und du sagst ihm nicht, dass ich dir verraten habe, dass er ein Lügner ist.«
Jetzt kam es mir wieder so vor wie in den guten alten Zeiten.
»Ma«, sagte ich, »wo wohnen eigentlich Renee und Ryan?«
»Äh«, sagte Ma.
»Die haben eine süße Wohnung drüben«, sagte Harris. »Und schwimmen im Geld.«
»Ich weiß nicht, ob das die beste Idee ist«, sagte Ma.
»Deine Ma hält Ryan für einen Schläger«, sagte Harris.
»Ryan ist ein Schläger«, sagte Ma. »Einen Schläger erkenne ich sofort.«
»Er schlägt?«, fragte ich. »Er schlägt Renee?«
»Das hast du nicht von mir«, sagte Ma.
»Der soll sich bloß hüten, das Baby zu schlagen«, sagte Harris. »Martney, so süß und klein. Echt supergoldig.«
»Obwohl, was soll das fürn Piepname sein?«, sagte Ma. »Hab ich Renee gesagt. Genau so.«
»Ist das ein Jungen- oder ein Mädchenname?«, fragte Harris.
»Was redstn du für einen Piep?«, sagte Ma. »Du hast es doch gesehen. Im Arm gehalten.«
»Sieht wie ein Elf aus«, sagte Harris.
»Aber Mädchenelf oder Jungenelf?«, sagte Ma. »Guck dir das an. Er weiß es wirklich nicht.«
»Na ja, es hatte was Grünes an«, sagte Harris. »Das hilft mir schon mal nicht.«
»Denk nach«, sagte Ma. »Was haben wir ihm gekauft?«
»Du meinst, ich müsste Junge und Mädchen auseinanderhalten können«, sagte Harris. »Wo es mein Enkel ist, verdammt.«
»Ist ja gar nicht dein Enkel«, sagte Ma. »Wir haben ihm ein Boot gekauft.«
»Boot geht für Jungen und für Mädchen«, sagte Harris. »Nur keine Vorurteile. Mädchen können ein Boot lieben. So wie ein Junge eine Puppe lieben kann. Oder einen BH.«
»Tja, aber wir haben ihm keine Puppe gekauft und auch keinen BH«, sagte Ma. »Wir haben ihm ein Boot gekauft.«
Ich ging nach unten und holte mir das Telefonbuch. Renee und Ryan wohnten drüben in der Lincoln. Lincoln 27.
3.
Lincoln 27, das war im guten Teil vom Zentrum.
Das Haus, unglaublich. Die Türmchen. Das hintere Tor war aus Redwood und öffnete sich so weich, als wären die Angeln hydraulisch.
Der Garten, unglaublich.
Ich hockte mich ins Gebüsch vor die mit Fliegengitter geschützte Veranda. Drinnen unterhielten sich Leute: Renee, Ryan, Ryans Eltern, wie es sich anhörte. Ryans Eltern hatten sonore/selbstbewusste Stimmen, die klangen, als wären sie durch plötzliche Geldzufuhr aus früheren, weniger sonoren/selbstbewussten Stimmen fabriziert worden.
»Über Lon Brewster kannst du sagen, was du willst«, sagte Ryans Dad. »Aber damals, als ich einen Platten hatte, ist er bis nach Feldspar rausgefahren und hat mich geholt.«
»In dieser unmöglichen Gluthitze«, sagte Ryans Mom.
»Und kein Wort der Klage«, sagte Ryans Dad. »Ein absolut reizender Mensch.«
»Fast so reizend – sagst du jedenfalls – wie die Flemings«, sagte sie.
»Und die Flemings sind wirklich furchtbar reizend«, sagte er.
»Und sie tun so viel Gutes!«, sagte sie. »Ein Flugzeug voller Babys haben sie hier rübergeflogen.«
»Russische Babys«, sagte er, »mit Hasenscharten.«
»Gleich nach der Ankunft wurden die Babys in OP-Säle im ganzen Land gebracht«, sagte sie. »Und wer hat das bezahlt?«
»Die Flemings«, sagte er.
»Haben sie nicht auch einiges Geld für das Studium beiseitegelegt?«, sagte sie. »Für die Russen?«
»Diese Kinder waren eben noch Behinderte in einem zusammenbrechenden Staat und bekamen kurz darauf ein Leben in dem großartigsten Land der Welt geschenkt«, sagte er. »Und wer hat das bewirkt? Ein Unternehmen? Die Regierung?«
»Ein privates Ehepaar«, sagte sie.
»Wahrhaft visionäre Leute«, sagte er.
Es gab eine lange Pause der Bewunderung.
»Obwohl, man würde es nicht meinen, so schroff redet er mit ihr«, sagte sie.
»Na ja, sie kann auch furchtbar schroff zu ihm sein«, sagte er.
»Manchmal ist er bloß schroff zu ihr und sie dann gleich schroff zurück«, sagte sie.
»So Henne oder Ei«, sagte er.
»Nur mit Schroffheit«, sagte sie.
»Trotzdem, die Flemings muss man einfach lieben«, sagte er.
»Man sollte so viel Gutes tun«, sagte sie. »Wann haben wir denn das letzte Mal ein russisches Baby gerettet?«
»Na ja, es geht uns ganz gut«, sagte er. »Wir können uns zwar nicht leisten, einen Haufen russische Babys einfliegen zu lassen, aber ich finde, auf unsere eigene unvollkommene Weise führen wir schon ein gutes Leben.«
»Wir können nicht mal einen Russen einfliegen lassen«, sagte sie. »Sogar ein kanadisches Baby mit Hasenscharte würde unsere Mittel überschreiten.«
»Wir könnten wahrscheinlich da hochfahren und eins abholen«, sagte er. »Aber was dann? Die Operation können wir uns nicht leisten und das Studium auch nicht. Dann würde das Baby bloß hier rumsitzen, in Amerika statt in Kanada, und immer noch mit der Schartengeschichte.«
»Haben wir euch Kindern das erzählt? Wir expandieren, fünf Läden. Fünf Läden in der Dreistädteregion. Jeden mit Erfrischungsangebot.«
»Das ist toll, Mom«, sagte Ryan.
»Das ist so toll«, sagte Renee.
»Und vielleicht können wir, wenn die fünf Läden gut laufen, noch drei oder vier weitere aufmachen und dann das ganze Thema mit den russischen Hasenscharten noch mal prüfen«, sagte Ryans Vater.
»Ihr seid immer wieder erstaunlich«, sagte Ryan.
Renee ging mit dem Baby nach draußen.
»Ich gehe mal mit dem Baby nach draußen«, sagte sie.
4.
Das Baby hatte seinen Tribut gefordert. Renee wirkte breiter, weniger quirlig. Auch blasser, so als wäre jemand mit einem farbauslaugenden Strahl über ihr Gesicht und ihre Haare gefahren.
Das Baby sah wirklich wie ein Elf aus.
Das Elfenbaby schaute zu einem Vogel hin, zeigte auf den Vogel.
»Vogel«, sagte Renee.
Das Elfenbaby schaute zu ihrem irrwitzigen Pool.
»Zum Schwimmen«, sagte Renee. »Aber noch nicht. Noch nicht, verstanden?«
Das Elfenbaby schaute in den Himmel.
»Wolken«, sagte Renee. »Wolken machen Regen.«
Es war, als forderte das Baby mit den Augen: Beeil dich, erklär mir diesen ganzen Mist hier, damit ich das schneller beherrschen und ein paar Läden aufmachen kann.
Das Baby schaute mich an.
Renee ließ das Baby beinahe fallen.
»Mike, Mikey, heilige Scheiße«, sagte sie.
Dann fiel ihr offenbar etwas ein, und sie hastete zur Verandatür zurück.
»Ry?«, rief sie. »Königsryter? Kannst du mal kommen und unsern Martzipan nehmen?«
Ryan nahm das Baby.
»Liebe dich«, sagte er.
»Liebe dich noch mehr«, sagte sie.
Dann kam sie zurück, ohne Baby.
»Ich nenne ihn meinen Königsryter«, sagte sie errötend.
»Hab ich gehört«, sagte ich.
»Mikey«, sagte sie. »Hast du es getan?«
»Kann ich reinkommen?«, fragte ich.
»Heute nicht«, sagte sie. »Morgen. Nein, Donnerstag. Seine Eltern fahren Mittwoch ab. Komm mal am Donnerstag, dann bequatschen wir alles.«
»Was bequatschen?«, fragte ich.
»Ob du reinkommen kannst«, sagte sie.
»Mir war nicht klar, dass das fraglich war«, sagte ich.
»Hast du?«, fragte sie. »Es getan?«
»Ryan wirkt nett«, sagte ich.
»O Gott«, sagte sie. »Buchstäblich der netteste Mensch, der mir je begegnet ist.«
»Außer wenn er zuschlägt«, sagte ich.
»Wenn was?«, sagte sie.
»Ma hat’s mir erzählt«, sagte ich.
»Was hat sie dir erzählt?«, sagte sie. »Dass Ryan zuschlägt? Mich schlägt? Das hat Ma gesagt?«
»Sag ihr nicht, dass ich’s dir verraten hab«, sagte ich, etwas in Panik, wie früher.
»Ma ist gestört«, sagte sie. »Ma hat echt nicht mehr alle Tassen in ihrem Scheißschrank. Typisch Ma. Weißt du, wer hier geschlagen wird? Ma. Und zwar von mir.«
»Warum hast du mir nicht geschrieben, was mit ihr los ist?«, sagte ich.
»Was soll mit ihr los sein?«, fragte sie misstrauisch.
»Dass sie krank ist?«, sagte ich.
»Das hat sie dir erzählt?«, sagte sie.
Ich ballte die Faust und hielt sie oben an meinen Kopf.
»Was soll das sein?«, fragte sie.
»Eine Geschwulst?«, sagte ich.
»Ma hat keine Geschwulst«, sagte sie. »Sie hat ein ramponiertes Herz. Wer hat dir erzählt, sie hätte eine Geschwulst?«
»Harris«, sagte ich.
»Ah, Harris, perfekt«, sagte sie.
Im Haus fing das Baby an zu weinen.
»Geh jetzt«, sagte Renee. »Wir reden Donnerstag. Aber vorher.«
Sie nahm mein Gesicht in die Hände und drehte meinen Kopf, so dass ich zum Fenster reinschaute, wo Ryan in der Küchenspüle ein Fläschchen warm machte.
»Sieht so ein Schläger aus?«, fragte sie.
»Nein«, sagte ich.
Tat er auch nicht. Kein Stück.
»Himmel«, sagte ich. »Sagt hier überhaupt irgendjemand die Wahrheit?«
»Ich ja«, sagte sie. »Und du auch.«
Ich schaute sie an, und einen Moment lang war sie acht und ich war zehn, und wir versteckten uns in der Hundehütte, während Ma und Dad und Tante Toni im Pilzrausch den Patio demolierten.
»Mikey«, sagte sie. »Ich muss das wissen. Hast du es getan?«
Ich riss mein Gesicht aus ihren Händen, drehte mich um und ging.
»Besuch deine eigene Frau, du Blödmann!«, rief sie hinter mir her. »Besuch deine eigenen Babys.«
5.
Ma war auf dem vorderen Rasen und schrie einen Fettsack mit hängender Hose an. Harris lauerte im Hintergrund und haute oder trat ab und zu auf irgendwas ein, um zu zeigen, wie furchterregend er im erbosten Zustand werden konnte.
»Das hier ist mein Sohn!«, sagte Ma. »Der gedient hat. Der gerade nach Hause gekommen ist. Und so behandeln Sie uns?«
»Ich danke Ihnen, dass Sie gedient haben«, sagte der Mann zu mir.
Harris trat gegen die metallene Mülltonne.
»Würden Sie ihm bitte sagen, er soll damit aufhören?«, sagte der