Zehnter Dezember - Teil 15
aufgeben wollten, würde er sagen, Ihr habt doch sicher schon unter den Podesten da nachgeschaut?
Ähm, na ja, nein, würde Donfrey sagen.
Lohnt vielleicht den Versuch, würde Roosten vorschlagen.
Sie würden ein paar Typen dazuholen und die Podeste verschieben. Und da würden sie dann liegen, das Portemonnaie und die Schlüssel.
Wow, würde Donfrey sagen. Du bist unglaublich.
Nur eine Ahnung, würde Roosten sagen. Ich habe einfach im Kopf alle anderen Optionen ausgeschlossen.
Ich fürchte, ich habe dich unterschätzt, würde Donfrey sagen. Wir müssen dich bald mal nach Hause einladen.
In die Villa?, würde Roosten sagen.
Und Al?, würde Donfrey sagen. Entschuldige, dass wir damals einfach aus deinem Laden rausgegangen sind. Das war unhöflich. Und Al? Entschuldige, dass ich dich vorhin Ed genannt habe.
Ach, war das so?, würde Roosten sagen. Ist mir eigentlich gar nicht aufgefallen.
Das Abendessen in der Villa würde gut laufen. Bald wäre er praktisch ein Teil der Familie. Und würde einfach so vorbeischneien. Das wäre sehr nett. Nett, mal in einer Villa abzuhängen. Manchmal würden vielleicht die Jungs mitkommen. Obwohl, wehe, die Jungs machten was kaputt. Ringen müssten sie draußen. Denn was er wirklich nicht gebrauchen konnte, war ein Trümmerfeld in der Villa eines Freundes. Er sah Donfreys göttliche Frau vor sich; entsetzt über all die Dinge, die die Jungs kaputtgemacht hatten, sank sie in einen Sessel und fing an zu weinen.
Danke, Jungs, super, vielen Dank dafür. Geht jetzt nach draußen. Geht raus und setzt euch mal still hin.
Jetzt steht der Vollmond im Panoramafenster, er und Donfrey tragen Smoking, und Donfreys Frau trägt etwas tief Ausgeschnittenes in Gold.
Dieses Essen ist großartig, sagt er. Wie jedes Essen bei euch.
Das ist doch das Mindeste, sagt Donfrey. Du hast uns damals so sehr geholfen, als ich so dämlich war, meine Schlüssel zu verlieren.
Haha, ja, genau, apropos?, sagt Roosten.
Dann erzählt er ihnen alles: wie er etwas Unglückliches tat, wie ihm ein Licht aufging, wie er zurückraste, um zu helfen.
Der Brüller!, sagt Donfrey.
Dazu gehört Mut, sagt Donfreys Frau. So zurückzukommen.
Ich würde sagen, es braucht Zivilcourage, sagt Donfrey.
Für deine Ehrlichkeit bewundern wir dich umso mehr, sagt Donfreys Frau.
Mag war auch da. Was tat sie da eigentlich? Na ja, schon in Ordnung, sie durfte bleiben. Mag war eine gute Haut. Ganz brauchbar im Gespräch. Die Donfreys würden ihre guten Seiten schon zu schätzen wissen. So wie sie ja auch seine guten Seiten zu schätzen wussten. Darüber würde sich Mom doch riesig freuen, dass ihre Kinder endlich bekamen, was ihnen zustand, von so gepflegten Leuten in einer wunderschönen Villa.
Ein seltsames, unabsichtliches Geräusch der Zufriedenheit riss Roosten aus seiner Träumerei.
Ha.
Was zum Teufel? Wo war er?
Der Yorkie schnüffelte am Hintern des Huhns. Dem Huhn schien das nichts auszumachen. Oder nicht aufzufallen. Das Huhn war auf ihn, Al Roosten, konzentriert, wie ein Laserstrahl.
Ja, klar. Als würde irgendwas davon je passieren. Als würde er jetzt zurückrasen. Die würden ihn doch durchschauen. Die würden ihn in die Pfanne hauen. Es war immer so, dass die Leute ihn durchschauten und in die Pfanne hauten. Einmal, als er Kirk Desner seinen Sonnenbrillen-Clip klaute, durchschauten ihn die anderen Kids aus der Mannschaft sofort und hauten ihn in die Pfanne. Und als er Syl betrog, durchschaute sie ihn, löste ihre Verlobung und betrog ihn mit Charles, was ihn insgesamt wahrscheinlich schlimmer in die Pfanne haute als jede andere Erfahrung des In-die-Pfanne-gehauen-Werdens, in einem Leben, das, wie es in letzter Zeit aussah, eine schlichte Kette immer schlimmeren In-die-Pfanne-gehauen-Werdens war.
Er wandte sich im Geist an Mom, wie immer, wenn er ein ermutigendes Wort brauchen konnte.
Was, dieser Donfrey-Dödel hat noch nie einen Fehler gemacht?, sagte Mom. War nie unabsichtlich in etwas Unglückliches verwickelt, das leider geschehen ist? Und jetzt will er dich zum Sack, zum Dreck, zum bösen unreifen Menschen abstempeln, weil du einen kleinen Fehler gemacht hast? Ist das etwa fair? Meinst du nicht, dass er irgendwann in seinem Leben auch einmal Vergebung gebraucht hat?
Wahrscheinlich, sagte Roosten.
Oh, ganz sicher, sagte Mom. Ich kenne dich seit deiner Geburt, Al, und du hast keine Faser Böses im Körper. Du bist Al Roosten. Vergiss das nicht. Manchmal meinst du, irgendetwas wäre mit dir nicht in Ordnung, aber jedes Mal stellt sich raus, dass es gar nicht stimmt. Warum machst du dich deswegen selber fertig und verpasst dadurch das Hier und Jetzt in all seiner Schönheit?
Moms muntere Stimme in seinem Kopf heiterte ihn auf.
Er setzte aus der Einfahrt zurück. Mom hatte recht. Die Welt war wunderschön. Hier war der Friedhof der Pioniere mit seinen schiefen, vergilbten Grabsteinen. Hier war die überaus lebendige Autowerkstatt. Ein dichter Batzen Vögel flog geradeaus und ließ sich dann in den Ästen eines vom Blitz gespaltenen Baumes nieder. Er wusste, dass das nicht Mom war, die in seinem Kopf sprach. Er stellte sich nur vor, was Mom gesagt hätte. Wer wusste schon, was Mom gesagt hätte? Zum Ende hin konnte sie eine ganz schön verrückte alte Hippe sein. Aber er vermisste sie sehr.
Wieder dachte er an das verkrüppelte Mädchen. Sie hatten den Termin verpasst und mussten einen neuen finden. Die einzige Möglichkeit war erst in Monaten. Im Dunkel der Nacht fasste sie ihren verkrümmten Fuß an und stieß ein Stöhnen aus. Sie war so nah dran gewesen, so nah dran, einen –
Das war Quatsch. Das war negativ. Man musste den Heilungsprozess zulassen. Das wusste doch jeder. Man musste sich selbst lieben. Was war positiv? Der Laden: sich Wege ausdenken, wie man ihn verbessern, halbwegs ordentlich machen, wieder zum Leben erwecken konnte. Er würde einen Cafétresen einbauen. Den alten fleckigen Teppich rausreißen. Da, schon ging es ihm besser. Man brauchte Freude im Leben. Freude gab einem Schwung. Sobald er den Laden wieder in Gang hätte, würde er weitermachen, ihn großartig machen. Wenn er morgens ankäme, würden ihn lange Schlangen vor der Tür erwarten. Und während er sich im Geist durch die Menschenmenge schob, schien ihn jeder lächelnd und schulterklopfend zu fragen, ob er sich vorstellen könne, für das Bürgermeisteramt zu kandidieren? Ob er dasselbe für die Stadt tun würde, was er für die »Gute alte Zeit« getan hatte? Haha, das würde ein großer Spaß, für das Bürgermeisteramt zu kandidieren. Welche Farben würden seine Plakate bekommen? Was war sein Slogan?
AL ROOSTEN, ALLEN EIN FREUND.
Das war gut.
AL ROOSTEN, DER BESTE VON UNS.
Bisschen eitel.
AL ROOSTEN: WIE DU, NUR BESSER.
Haha.
Hier war der Laden. Keiner wartete darauf, eingelassen zu werden. Eine verdreckte Plane war vom Schrottplatz herübergeweht worden und hing vor dem Fenster. Gegenüber vom Schrottplatz war das Viadukt, wo die Penner hausten. Diese Penner ruinierten ihm sein –
Er glaubte, sie nannten sich lieber »Obdachlose«. Hatte er das nicht gelesen? Weil »Penner« abwertend war? Himmel, wie dreist. Da arbeitet ein Kerl nicht einen Tag in seinem Leben, läuft bloß rum und klaut anderen die Wurst vom Brot, und dann jault er rum, von wegen seine Rechte? Er würde gern mal zu einem Obdachlosen gehen und ihn einen Penner nennen. Das würde er machen, jawohl, er würde den verdammten Penner am Kragen packen und sagen, Hey, du Penner, du ruinierst mir das Geschäft. Ich kann jetzt schon zum dritten Mal hintereinander meine Miete nicht bezahlen. Geh doch zurück ins Ausland, wo du wahrscheinlich –
Er hasste diese Bettler, ehrlich, die mit ihren plumpen Schildern an seinem Laden vorbeiliefen. Hätten sie nicht wenigstens richtig buchstabieren können? Gestern war einer mit einem Schild vorbeigelaufen, auf dem stand, BITTE HILFE ODACHLOS. Er hatte Lust gehabt zu rufen, Hey, tut mir leid, dass du odachlos bist! Die verbrachten doch genug Zeit da unter ihrem Viadukt, konnten sie nicht wenigstens Korrektur lesen, bevor sie –
Als er das Auto parkte, wurde sein Geist plötzlich merkwürdig leer. Wo war er? Am Laden. Uff. Wo war sein Schlüssel? An derselben alten hässlichen Kordel, unmöglich, die aus der Tasche zu zerren.
Himmel, er ertrug den Gedanken nicht, da jetzt reinzugehen.
Er würde den ganzen Nachmittag allein da drinnen hocken. Warum musste er das tun? Für was? Für wen?
Mag. Mag und die Jungs zählten auf ihn.
Er saß einen Moment da und holte tief Luft.
Ein alter Mann in dreckstarrenden Kleidern taumelte die Straße entlang, er zerrte ein Stück Pappe hinter sich her, auf dem er ganz bestimmt schlief. Seine Zähne waren schaurig, seine Augen feucht und rot. Roosten stellte sich vor, wie er aus dem Auto sprang, den Mann zu Boden schlug und immer wieder trat, ihm auf diese Weise also eine wertvolle Lektion erteilte, wie er sich zu benehmen hatte.
Der Mann lächelte Roosten schwach an, und Roosten erwiderte das Lächeln schwach.
DIE SEMPLICA-GIRL-TAGEBÜCHER
3. September
Habe mir das Großprojekt vorgenommen, wo ich grad 40 geworden bin, dass ich jeden Tag in dieses neue schwarze Buch schreiben will, das ich mir eben bei BüroMax geholt habe. Aufregender Gedanke, dass ich in einem Jahr, bei einer Seite pro Tag, 365 Seiten geschrieben haben werde, was für ein Bild von unserem Leben und unseren Zeiten für Kinder & Enkel, sogar Urenkel, egal, jeder darf sehr gern (!) sehen, wie das Leben wirklich war/jetzt ist. Was wissen wir schon wirklich von anderen Zeiten? Wie Kleider rochen und Kutschen klangen? Werden Menschen der Zukunft zum Beispiel noch wissen, wie sich nachts über uns hinwegfliegende Flugzeuge anhörten, von wegen Flugzeuge bis dahin passé? Werden Menschen der Zukunft wissen, dass Katzen manchmal nachts kämpften? Weil bis dahin irgendwas Chemisches erfunden, dass Katzen nicht mehr kämpfen? Letzte Nacht geträumt von zwei Dämonen bei wildestem Sex und festgestellt, bloß zwei kämpfende Katzen draußen vorm Fenster. Werden Menschen der Zukunft eine Vorstellung von »Dämonen« haben? Werden sie unseren Glauben an »Dämonen« putzig finden? Wird es überhaupt noch »Fenster« geben? Interessant für Generationen der