Wir lassen sie verhungern - Die Massenvernichtung in der Dritten Welt - Seite 2
Glauben an die Freiheit beeinflusst. Diese Hoffnung besitzt eine weltlich-eschatologische Dimension. Sie speist eine Untergrundgeschichte, die der real existierenden Gerechtigkeit eine einklagbare Gerechtigkeit entgegensetzt.
Horkheimer schreibt, »dass nicht nur der unvermittelte Zwang diese Ordnung jeweils aufrechterhalten hat, sondern dass die Menschen selbst sie bejahen lernten.«9 Um die Wirklichkeit zu verändern, die Freiheit im Menschen zu befreien, müssen wir wieder an dieses »antizipierende Bewusstsein« anknüpfen,10 diese historische Kraft, die Utopie heißt, Revolution.
Das eschatologische Bewusstsein macht Fortschritte. Vor allem in den weltbeherrschenden Gesellschaften des Westens werden immer mehr Frauen und Männer zu Aufständischen, die gegen die neoliberale Doxa von der Unausweichlichkeit des Massensterbens kämpfen. Dabei zeigt sich eines immer deutlicher: Der Hunger ist das Werk von Menschen und kann von Menschen besiegt werden.
Bleibt die Frage: Wie erschlagen wir das Ungeheuer?
Vorsätzlich totgeschwiegen von der öffentlichen Meinung des Westens, erwachen in der ländlichen Bevölkerung der südlichen Hemisphäre vor aller Augen revolutionäre Kräfte. Transnationale Bauerngewerkschaften, Zusammenschlüsse von Landwirten und Viehzüchtern, kämpfen gegen die Geier des »grünen Goldes« und die Spekulanten, die ihnen ihr Land stehlen wollen. Zugleich verweigern immer mehr Menschen im Herzen der Herrschaftsgesellschaften den neoliberalen Wahnideen ihre Gefolgschaft und stellen sich der kannibalischen Weltordnung entgegen.
Im Epilog komme ich zurück auf diese Kämpfe und die Hoffnung, die sie nähren. Und auf unsere Pflicht, sie zu unterstützen.
1 Als Überbrückungszeit bezeichnet man die Periode, die zwischen dem Aufbrauchen der letzten Ernte und der neuen Ernte liegt – ein Zeitraum, in dem die Bauern Lebensmittel auf dem Markt kaufen müssen.
2 Ziegelsteine aus einer Mischung von Lehm, sandigem Laterit und Kuhfladen.
3 Timothy Snyder, Bloodland, New York, Basic Books, 2010.
4 Max Nord, Amsterdam timjens den Hongerwinter, Amsterdam, 1947.
5 Else Margrete Roed, »The food situation in Norway«, Journal of American Dietetic Association, New York, Dezember 1943.
6 Unter anderen Sally-Anne Way, Claire Mahon, Ioana Cismas und Christophe Golay. Unsere Website: www.rightfood.org. Vgl. auch Jean Ziegler, Christophe Golay, Claire Mahon, Sally-Anne Way, The Fight for the Right to Food. Lessons Learned, London, Éditions Polgrave, Mac Millan, 2011.
7 Blaise Lempen, Laboratoire du XXIe siècle, Genf, Éditions Georg, 2010.
8 König Lear, 4. Aufzug, 6. Szene.
9 Max Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, Frankfurt am Main, S. Fischer 1992, S. 145.
10 Diesem widmet sich Ernst Bloch im zweiten Teil seines Buches Das Prinzip Hoffnung.
ERSTER TEIL
Das Massaker
1
Geographie des Hungers
Das Recht auf Nahrung, wie es sich aus Artikel 11 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte11 ergibt, ist folgendermaßen definiert:
»Das Recht auf Nahrung ist das Recht, unmittelbar oder durch finanzielle Mittel einen regelmäßigen, dauerhaften und freien Zugang zu einer qualitativ und quantitativ ausreichenden Nahrung zu haben, die den kulturellen Traditionen des Volkes entspricht, dem der Verbraucher angehört, und die ein physisches und psychisches, individuelles und kollektives, befriedigendes und menschenwürdiges Leben ermöglicht, das frei ist von Angst.«
Von allen Menschenrechten ist das Recht auf Nahrung dasjenige, welches auf unserem Planeten sicherlich am häufigsten, am zynischsten und am brutalsten verletzt wird.
Der Hunger ist ein organisiertes Verbrechen.
In der Bibel steht zu lesen: »Der Arme hat nichts denn ein wenig Brot; wer ihn darum bringt, der ist ein Mörder. Wer einem seine Nahrung nimmt, der tötet seinen Nächsten. Wer dem Arbeiter seinen Lohn nicht gibt, der ist ein Bluthund.«12
Nach Schätzung der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO / Food and Agriculture Organization) belief sich die Zahl der permanent schwerst unterernährten Menschen 2010 auf 925 Millionen, gegenüber 1023 Millionen im Jahr 2009. Fast eine Milliarde der 7 Milliarden Menschen, die den Planeten bevölkern, leidet also dauerhaft Hunger.
Der Hunger ist ein recht einfaches Phänomen.
Nahrung (oder Lebensmittel), egal, ob pflanzlichen oder tierischen (manchmal auch mineralischen) Ursprungs, wird von Lebewesen zu energetischen oder nutritionellen Zwecken verzehrt. Flüssige Elemente (darunter auch Wasser mineralischen Ursprungs), mit anderen Worten, Getränke (im Fall von Suppen, Soßen etc. zur Nahrung gezählt), werden aus dem gleichen Grund aufgenommen. Aus einer Vielzahl dieser Elemente besteht das, was wir Nahrung nennen.
Nahrung liefert die Lebensenergie des Menschen. Die Einheit, in der diese Energie gemessen wird, ist die Kilokalorie. Mit ihr lässt sich die für die Wiederherstellung des Körpers erforderliche Energiemenge messen. Eine unzulängliche Energiezufuhr, ein Kalorienmangel, bewirkt erst Hunger und dann den Tod.
Der Kalorienbedarf verändert sich mit dem Alter: 700 Kilokalorien pro Tag für einen Säugling, 1000 für ein Kleinkind zwischen ein und zwei Jahren, 1600 für ein Kind von fünf Jahren. Die Bedürfnisse des Erwachsenen betragen je nach dem Klima, in dem er lebt, und der Schwere der Arbeit, die er verrichtet, zwischen 2000 und 2700 Kilokalorien am Tag.
Für Erwachsene hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein Existenzminimum von 2200 Kilokalorien festgesetzt. Darunter kann der Erwachsene seine Lebenskraft nicht mehr ausreichend wiederherstellen.
Der Hungertod ist qualvoll. Der Todeskampf ist lang und verursacht unerträgliche Schmerzen. Er führt zu einer langsamen Zerstörung des Körpers, aber auch der Psyche. Angst, Verzweiflung und ein panisches Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit begleiten den körperlichen Verfall.
Schwere, permanente Unterernährung bewirkt heftiges und schmerzhaftes körperliches Leiden. Der Betroffene wird antriebslos und büßt nach und nach seine geistigen und motorischen Fähigkeiten ein. Soziale Ausgrenzung, Verlust der wirtschaftlichen Selbständigkeit und, natürlich, Dauerarbeitslosigkeit infolge der Unfähigkeit, einer regelmäßigen Arbeit nachzugehen, sind die Folgen. Am Ende wartet unvermeidlich der Tod.
Der Todeskampf des Hungernden weist fünf Stadien auf.
Von seltenen Ausnahmen abgesehen, kann ein Mensch normalerweise drei Minuten leben, ohne zu atmen, drei Tage, ohne zu trinken, drei Wochen, ohne zu essen. Mehr nicht. Dann beginnt der körperliche Verfall.
Bei unterernährten Kindern kündigt sich der Todeskampf sehr viel früher an. Zunächst verbraucht der Körper seine Reserven an Zucker und dann an Fett. Die Kinder werden lethargisch. Sie verlieren rapide an Gewicht. Das Immunsystem bricht zusammen. Durchfälle beschleunigen die Auszehrung. Mundparasiten und Infektionen der Atemwege verursachen schreckliche Schmerzen. Dann beginnt der Raubbau an den Muskeln. Die Kinder können sich nicht mehr auf den Beinen halten. Wie kleine Tiere rollen sie sich im Staub zusammen. Ihre Arme baumeln kraftlos am Körper. Ihre Gesichter gleichen Greisen. Dann folgt der Tod.
Beim Menschen bilden sich die Gehirnzellen bis zum fünften Lebensjahr. Erhält das Kind während dieser Zeit keine angemessene, ausreichende und regelmäßige Nahrung, bleibt es sein Leben lang ein Krüppel.
Muss hingegen ein Erwachsener über einen längeren Zeitraum auf Nahrung verzichten, weil er zum Beispiel bei einer Sahara-Durchquerung eine Autopanne hat, und wird er erst im letzten Augenblick gerettet, kann er sein normales Leben ohne Schwierigkeiten wieder aufnehmen. Eine unter ärztlicher Aufsicht durchgeführte intravenöse »Realimentation« bringt ihn wieder in den Vollbesitz seiner körperlichen und geistigen Kräfte.
Ganz anders, wenn einem Kind unter fünf Jahren angemessene und ausreichende Nahrung vorenthalten wird. Selbst wenn ihm im späteren Leben eine Reihe märchenhaft günstiger Umstände zuteil werden – wenn sein Vater Arbeit findet, es von einer liebevollen Familie adoptiert wird und so fort – ist sein Schicksal besiegelt. Sein frühkindliches Stigma, die hirnorganische Schädigung, bleibt ihm ein Leben lang erhalten. Keine therapeutische Realimentation kann ihm ein normales, befriedigendes und würdevolles Leben verschaffen.
In sehr vielen Fällen verursacht Unterernährung sogenannte Hungerkrankheiten: Noma, Kwashiorkor etc. Außerdem führt sie zu einer gefährlichen Schwächung der Immunabwehr ihrer Opfer.
In seiner umfassenden Aids-Erhebung zeigt Peter Piot, dass Millionen Erkrankte, die an Aids sterben, gerettet werden könnten – oder zumindest mehr Widerstandskraft gegen die Geißel erwerben könnten –, wenn sie Zugang zu regelmäßiger und ausreichender Nahrung hätten. Piot: »Regelmäßige und angemessene Nahrung bildet die erste Verteidigungslinie gegen Aids.«13
In der Schweiz liegt – Männer und Frauen zusammengefasst – die Lebenserwartung bei der Geburt etwas über 83 Jahre. In Frankreich bei 82 Jahren. In Swasiland, einem kleinen, von Aids und Hunger verwüsteten Königreich im Süden Afrikas, beträgt sie 32 Jahre.14
Der Fluch des Hungers reproduziert sich biologisch. Jahr für Jahr bringen unterernährte Frauen Millionen Kinder zur Welt, die von Geburt an verurteilt sind. Der Mangel hat diese kleinen Geschöpfe vom ersten Tag ihres Lebens an fest im Griff. Schon während der Schwangerschaft überträgt die Mutter diesen Fluch auf ihr Kind. Die pränatale Unterernährung verursacht dauerhafte Invalidität, Hirnschädigungen, motorische Behinderungen.
Eine hungernde Mutter kann ihren Säugling nicht stillen. Sie verfügt auch nicht über die Mittel, um Milchersatzstoffe zu erwerben.
In den Ländern des Südens sterben jährlich über 500000 Mütter bei der Geburt, die meisten wegen längeren Nahrungsentzugs während der Schwangerschaft.
Der Hunger ist mit Abstand der Hauptgrund für Tod und Verlust auf unserem Planeten. Jährlich verliert die Menschheit im Durchschnitt ein Prozent ihrer Substanz. Im Jahr sterben also rund 70 Millionen Menschen, davon 18 Millionen durch Hunger und Unterernährung.
Auf welche Weise ermittelt die FAO diese Hungerdaten?
Den Analytikern, Statistikern und Mathematikern der Organisation wird generell eine hohe Kompetenz bescheinigt. Das Modell, das sie bereits 1971 entwickelten und seither Jahr für Jahr verfeinern, ist außerordentlich kompliziert.15
Auf einem Planeten, der von 7 Milliarden Menschen bewohnt wird und in 194 Staaten unterteilt ist, lassen sich keine Einzelerhebungen durchführen. Daher bedienen sich Statistiker einer indirekten Methode, die ich hier absichtlich vereinfache.
Erster Schritt: Für jedes Land erfassen sie die Nahrungsproduktion sowie den Import und Export von Lebensmitteln, wobei sie in jedem Fall den Kaloriengehalt festhalten. Beispielsweise zeigt sich, dass Indien zwar fast die Hälfte aller schwer und permanent unterernährten Menschen der Welt aufweist, in manchen Jahren aber trotzdem Hunderttausende Tonnen Getreide exportiert. So belief sich die Gesamtmenge dieser Exporte von Juni 2002 bis November 2003 auf 17 Millionen Tonnen.
Auf diese Weise erhält die FAO (die UN-Organisation für Ernährung, Landwirtschaft, Fischerei und Forstwesen) die in jedem Land zur Verfügung stehende Kalorienmenge.
Zweiter Schritt: Die Statistiker ermitteln für jedes Land die demographische und soziologische Struktur der Bevölkerung. Wie erwähnt, verändert sich der Kalorienbedarf mit der Altersklasse. Eine weitere Variable ist das Geschlecht: Aus einer ganzen Reihe von soziologischen Gründen verbrennen Frauen weniger Kalorien als Männer. Die Arbeit, die jemand verrichtet, seine sozioprofessionelle Situation, bildet eine weitere Variable: Ein Stahlgießer an einem Hochofen verbraucht mehr Kalorien als ein Rentner, der seinen Tag damit verbringt, geruhsam auf einer Bank zu sitzen.
Diese Daten verändern sich wiederum mit der Region und Klimazone, die betrachtet wird. Lufttemperatur und meteorologische Verhältnisse im Allgemeinen beeinflussen den Kalorienbedarf.
Nach Abschluss des zweiten Schritts können die Statistiker diese beiden Werte korrelieren. Denn sie kennen nun für jedes Land den Kalorienmangel insgesamt und sind infolgedessen in der Lage, die theoretische Zahl der schwer und dauerhaft unterernährten Menschen zu bestimmen.
Allerdings geben diese Ergebnisse keine Auskunft über die Kalorienverteilung innerhalb einer gegebenen Bevölkerung. Deshalb verfeinert man das Modell durch gezielte Erhebungen auf Stichprobenbasis. Es geht darum, besonders gefährdete Gruppen zu bestimmen.
Bernard Maire und Francis Delpeuch kritisieren dieses mathematische Modell.16
Zunächst einmal stellen sie die Parameter in Frage. Ihr Einwand: Die Statistiker in Rom bestimmen die Defizite anhand der Kalorien, das heißt, der Makronährstoffe (Proteine, Kohlehydrate, Fette), die die Kalorien, also Energie, liefern. Dabei klammern sie jedoch die Defizite an Mikronährstoffen aus – den Mangel an Vitaminen, Mineralien, Spurenelementen. Fehlt es nun aber in der Nahrung an Jod, Eisen, Vitamin A und C (neben anderen, für die Gesundheit unentbehrlichen Elementen), müssen jedes Jahr Millionen Menschen erblinden, zu Krüppeln werden und sterben.
Mit ihrer mathematischen Methode kann die FAO also erfassen, wie viele Menschen an Unterernährung leiden, nicht aber, wie viele der Mangelernährung zum Opfer fallen.
Außerdem bezweifeln die beiden Wissenschaftler die Zuverlässigkeit dieser Methode, da sie ganz und gar auf der Qualität der von den betreffenden Staaten gelieferten Daten beruht.
Nun verfügen aber nur wenige Staaten der südlichen Hemisphäre über einen zuverlässigen statistischen Apparat. Doch gerade in diesen Ländern füllen sich die Massengräber am schnellsten mit den Opfern des Hungers.
Trotz dieser – mir durchaus einleuchtenden – Kritik am mathematischen Modell der FAO-Statistiker meine ich, dass wir dank seiner beobachten können, wie sich auf unserem Planeten die Zahlen der unterernährten Menschen und der Hungertoten über einen langen Zeitraum entwickeln.
Jean-Paul Sartre schreibt: »Den Feind erkennen, den Feind bekämpfen.« Selbst wenn die ermittelten Zahlen zu niedrig sein sollten, wird die Methode doch Sartres Forderung gerecht.
Gegenwärtig ist es das Ziel der UNO, die Zahl der Hungernden bis 2015 um die Hälfte zu verringern.
Als die UN-Generalversammlung in New York diese Entscheidung im Jahr 2000 feierlich traf – es handelte sich um das erste der acht Millennium-Enwicklungsziele (MDGs)17 –, hat sie 1990 als Bezugsjahr gewählt. Also geht es darum, die Zahl der Hungernden aus dem Jahr 1990 um die Hälfte zu reduzieren.
Dieses Ziel wird natürlich nicht erreicht. Denn statt sich zu verringern, wächst die Pyramide der Leidenden. Das räumt auch die FAO ein:
»Nach der neuesten Statistik sind gewisse Fortschritte bei der Verwirklichung der MDGs erzielt worden. Angesichts des fortgesetzten (wenn auch im Vergleich zu den letzten Jahrzehnten verlangsamten) Bevölkerungswachstums kann sich hinter dem prozentualen Rückgang der Hungernden aber auch ein Anstieg ihrer absoluten Zahl verbergen. Tatsächlich hat sich die Zahl der Hungernden in den Entwicklungsländern insgesamt erhöht (von 827 Millionen im Zeitraum 1990–92 auf 906 Millionen im Jahr 2010).«18
Um die Geografie des Hungers, die Verteilung dieser Massenvernichtung auf unserem Planeten, besser erfassen zu können, müssen wir eine erste Unterscheidung vornehmen, an der sich auch die UNO und ihre Sonderorgane orientieren: zwischen dem »strukturellen Hunger« einerseits und dem »konjunkturellen Hunger« andererseits.
Der strukturelle Hunger resultiert aus den unzulänglich entwickelten Produktionsstrukturen der Länder des Südens. Er ist permanent, erregt wenig Aufsehen und reproduziert sich biologisch: Jedes Jahr bringen Millionen unterernährte Mütter körperlich und geistig behinderte Kinder zur Welt. Struktureller Hunger bedeutet psychische und physische Zerstörung, Verlust der Würde, endloses Leid.
Der konjunkturelle Hunger dagegen springt ins Auge. Regelmäßig erscheint er auf unseren Fernsehschirmen. Er bricht plötzlich aus, wenn sich eine Naturkatastrophe ereignet, das heißt, wenn eine Region von Heuschrecken, Trockenheit, Überschwemmungen verwüstet wird oder wenn ein Krieg das soziale Gefüge zerreißt, die Wirtschaft ruiniert und Hunderttausende von Opfern in Vertriebenenlager im Land oder in Flüchtlingslager jenseits der Grenzen treibt.
In all diesen Situationen kann weder ausgesät noch geerntet werden. Die Märkte sind zerstört, die Straßen blockiert, die Brücken eingestürzt. Die staatlichen Institutionen funktionieren nicht mehr. Dann ist für Millionen von Opfern das Welternährungsprogramm (WFP) die letzte Chance.
Nyala, in der Region Darfur gelegen, ist das größte der siebzehn Vertriebenenlager in den drei Provinzen des Westsudans, die seit 2008 von Krieg und Hunger heimgesucht werden.
Von afrikanischen – vor allem ruandischen und nigerianischen – Blauhelmen bewacht, drängen sich über 100000 unterernährte Männer, Frauen und Kinder in dem riesigen Lager aus Zelt- und Kunststoffbehausungen. Eine Frau, die sich etwa 500 Meter von dem umzäunten Bereich entfernt – um sich etwas Brennholz oder Brunnenwasser zu holen –, läuft Gefahr, den Dschandschawid, den arabischen Reitermilizen im Dienst der islamistischen Diktatur von Khartoum, in die Hände zu fallen, was mit Sicherheit ihre Vergewaltigung, vielleicht auch Ermordung, bedeutet.
Wenn die weißen Toyota-Lastwagen des WFP mit der blauen UNO-Flagge nicht alle drei Tage mit ihren hochgeschichteten Reis- und Mehlsäcken, Wasserbehältern und Medikamentenkisten einträfen, würden die Zaghawa, Massalit und Fur hinter den von Blauhelmen bewachten Stacheldrahtzäunen in kurzer Zeit zugrunde gehen.
Noch ein Beispiel für konjunkturellen Hunger: 2011 drängen sich 450000 stark unterernährte Frauen, Männer und Kinder, die vor allem aus Südsomalia kamen, im Lager Dadaab, das die UNO auf kenianischem Boden errichtet hat. Regelmäßig verweigern die Vertreter des WFP anderen hungernden Familien den Zutritt zum Lager, weil nicht genügend Mittel vorhanden sind.19
Wer ist vor allem vom Hunger betroffen?
Die drei besonders gefährdeten Personengruppen sind – in der Terminologie der FAO – die arme Landbevölkerung (rural poors), die arme Stadtbevölkerung (urban poors) und die bereits erwähnten Katastrophenopfer. Betrachten wir die beiden ersten Kategorien.
Die arme Landbevölkerung: Die Mehrheit der Menschen, die nicht genug zu essen haben, gehört den Gemeinschaften der armen Landbevölkerung in den Ländern des Südens an. Viele verfügen weder über Trinkwasser noch Elektrizität. Auch Gesundheitsdienste, Bildungsinstitutionen und Sanitäreinrichtungen sind in den allermeisten Fällen nicht vorhanden.
Von den 7 Milliarden Menschen, die den Planeten bewohnen, lebt etwas weniger als die Hälfte in ländlichen Gebieten.
Seit unvordenklichen Zeiten ist die ländliche Bevölkerung – Ackerbauern und Viehzüchter (sowie Fischer) – besonders anfällig für Not und Hunger: Von den 1,2 Milliarden Menschen, die heute nach den Kriterien der Weltbank von »extremer Armut« betroffen sind, leben 75 Prozent auf dem Land.
Zahlreiche Bauern befinden sich aus einem der folgenden Gründe in dieser Notlage: Die einen sind Wanderarbeiter ohne Land oder Teilpächter, die von den Grundbesitzern gnadenlos ausgebeutet werden. So müssen die muslimischen Teilpächter im Norden Bangladeschs an ihre landlords, in Kalkutta lebende hinduistische Grundeigentümer, vier Fünftel ihrer Ernten abführen. Andere besitzen zwar Land, können aber ihr Eigentumsrecht nicht hinreichend belegen. So ergeht es den brasilianischen Posseiros, die auf kleinen unwirtschaftlichen oder brachliegenden Landflächen leben, die sie nutzen, ohne Dokumente zu besitzen, die sie als Eigentümer