Wem gehören unsere Kinder? Dem Staat, den Eltern oder sich selbst?: Ansichten zur Frühbetreuung - Kapitel 2
kostenloslesen.comwirft allerdings eine weitere, ebenso interessante wie herausfordernde Frage auf: Lässt sich voneinander unterscheiden, was einerseits für die Eltern und andererseits für ihre Kinder das Beste ist? Ich glaube nicht.
Obwohl wir auf eine lange Tradition dieser Trennung der jeweiligen Interessen zurückblicken können und obwohl viele staatliche Grundsätze und auch die Gesetzgebung diese künstliche Unterscheidung aufrechterhalten, sind die Interessen von Eltern und ihren Kindern doch so miteinander verflochten, dass es sehr schwierig ist, das eine von dem anderen zu trennen. Oft hört man von Müttern, die glauben, sich dafür rechtfertigen zu müssen, dass sie eine gute Ausbildung und später einen entsprechenden Beruf haben wollen, den Satz: »Wäre es denn besser für mein Kind, den ganzen Tag mit einer unglücklichen und frustrierten Mutter zusammen zu sein?« Die Antwort lautet: »Natürlich nicht!«, aber das ist noch lange keine Antwort auf die Frage: »Ist eine Tageseinrichtung oder die Betreuung in der Familie besser für ein Kind?«
Um diesem Teufelskreis zu entkommen, sollten wir auf wissenschaftliche Untersuchungen zurückgreifen können. Können wir aber nicht. Abgesehen von den alten kommunistischen Systemen waren wir – also die skandinavischen Länder – die ersten und schnellsten, die den Sprung von der familiären zur institutionalisierten Betreuung getan haben. Und das ging alles so schnell, dass wir keine Zeit hatten, seriöse wissenschaftliche Studien anzufertigen. Und als wir endlich damit anfingen, fehlten uns die Kinder, die zu Hause betreut wurden, um eine wissenschaftlich fundierte Vergleichsstudie zu erstellen. Es gibt unzählig viele Studien darüber, was die Betreuungseinrichtungen Gutes tun, und in letzter Zeit auch die eine oder andere Studie darüber, wo sie gescheitert sind. Aber es hat nie eine große Vergleichsuntersuchung gegeben, die, sagen wir, 20.000 Kinder aus beiden Gruppen miteinander vergleicht. Die europäischen Länder, die zurzeit dabei sind, Millionen von Kindern aus der familiären Betreuung in staatliche oder private Einrichtungen zu überführen, würden uns allen einen großen Dienst erweisen, wenn sie so schnell wie möglich diese Art von Studien in die Wege leiten.
Vor dem Hintergrund meiner vierzigjährigen Erfahrung mit skandinavischen Tageseinrichtungen aus nächster Nähe kann ich Eltern, die zurzeit vor der großen Entscheidung stehen: »Krippe ja oder nein«, nur eine sehr allgemeine Antwort geben: Die große Mehrheit dieser Einrichtungen kümmert sich exzellent oder zumindest annehmbar um die Kinder, die ihnen anvertraut werden.
Jedoch sollten wir uns angesichts der bereits beschriebenen rasanten Entwicklung auf diesem Gebiet jetzt die Zeit nehmen, einmal innezuhalten und gründlich darüber nachzudenken, wo genau wir stehen und was wir verbessern könnten. Das finge mit der Ausbildung der Erzieherinnen an und ginge weiter über das Verhältnis von gut geschulten und gar nicht ausgebildeten Mitarbeitern bis hin zum Betreuungsschlüssel. Untersuchungen haben ergeben, dass es besonders unter den Ein- bis Dreijährigen viele Kinder gibt, denen es nicht so gut geht. Circa 22 % von ihnen haben einen viel zu hohen, nicht hinnehmbaren Cortisolspiegel im Gehirn – Cortisol ist ein Stresshormon und wirkt neurotoxisch.
Meine Einblicke in die Kindertagesbetreuung außerhalb von Skandinavien sind nicht so detailliert, aber die größte und offensichtlichste Gefahr besteht darin, dass die meisten Länder über zu wenige qualifizierte Erzieherinnen und Erzieher verfügen, deren Ausbildung zudem noch veraltet ist. Dass sie überdies auch schlecht bezahlt werden, lässt die Aussichten auf Qualitätsverbesserung alles andere als rosig aussehen.
Wenn Eltern die Wahl und außerdem die Möglichkeit haben, sich verschiedene Einrichtungen anzusehen, lautet mein Rat, diese ein oder zwei Tage lang zu besuchen. Wenn du dich willkommen fühlst, akzeptiert und wohl, dann ist die Chance groß, dass es deinem Kind genauso gehen wird. Achte nicht zu sehr auf ihre Flyer, Ideologien oder Lehrpläne – rieche, fühle und erlebe die Atmosphäre. Wenn sich dein Kind nach 4 bis 6 Wochen noch nicht eingelebt hat, hast du vielleicht nicht die richtige Wahl getroffen; entweder war es falsch, dein Kind in fremde Hände zu geben, oder die Wahl der Einrichtung war falsch. Und wenn dir keine andere Wahl bleibt? Dann gilt das auch für dein Kind!
Wer hat das Sagen?
Die norwegische Pädagogikprofessorin Dr. Berit Bae war die erste und bisher einzige Wissenschaftlerin bei uns, die eine Doktorarbeit über die gegenseitige Anerkennung von Erzieherinnen und Kindern in der Vorschulpädagogik geschrieben hat*. In diesem Zusammenhang ist sie der Frage nachgegangen, wer in den Betreuungsinstitutionen eigentlich das Sagen hat, mit anderen Worten, wer über die »Definitionsmacht« verfügt.
* Berit Bae, Dialoger mellem førskolelærer og barn – et beskrivende og fortolkende studie. Høgskolen I Oslo
Um die Bedeutung des Terminus und die potenzielle Gefahr, die von ihm ausgeht, zu erklären, will ich noch einmal zu der österreichischen Vorschullehrerin zurückkehren, von der ich vorhin erzählt habe. Sie war eine junge, intelligente Frau mit etwa vier bis sechs Jahren Berufserfahrung und bereits durchdrungen von der Überzeugung, dass »gute« Kinder jene sind, die sich ohne Schwierigkeiten einer Kindergartenatmosphäre anpassen können. Die anderen waren für sie die »problematischen« Fälle. Eine sehr vereinfachende, primitive und unprofessionelle Projektion, die nichts anderes besagt als: »Weil es mir schwerfällt, eine Beziehung zu diesem Kind aufzubauen, ist das Kind schwierig!«
In den 70er-Jahren haben unser Team am Kempler Institute of Scandinavia und ich viel Zeit darauf verwendet, Gruppen von Erzieherinnen und Pädagogen bei dem aufregenden Prozess zu begleiten, einen Kindergarten zu gründen. Es ging um verschiedene Erziehungsphilosophien, unterschiedliche Aktivitäten, um Regeln, um die Zusammenarbeit mit den Eltern etc. Alle Beteiligten nahmen die Entwicklung neuer Konzepte zum Wohle der Kinder außerordentlich ernst und waren darauf bedacht, vor allem mit jenen Kindern und Eltern in Dialog zu treten, die sich nicht so wohl damit fühlten. Sie waren interessiert und flexibel, und viele Kinder hatten in diesen Einrichtungen ihre ersten positiven Erfahrungen mit Erziehern.
Aber bereits ein Jahrzehnt später begann diese freundliche und alle Beteiligten einbeziehende Kultur zu verschwinden. Heutzutage hört man praktisch keinen Leiter (oder auch Lehrer) mehr sagen: »Wir sind mit unserem Kindergarten sehr zufrieden und tun wirklich unser Bestes, damit sich alle Kinder wohlfühlen. Aber es scheint, dass wir gar nicht so richtig wissen, was euch Kinder glücklich macht. Könnt ihr uns dabei helfen?«
Heute heißt es hingegen: »Wenn du dich hier nicht wohlfühlst, stimmt etwas mit dir oder mit deiner Familiensituation oder mit beidem nicht.« Eine verheerende Botschaft, die den Seelenfrieden einer Familie aufs Höchste gefährden kann.
In einer dänischen Studie, die kürzlich veröffentlicht wurde**, wurde untersucht, wie wohl sich Drei- bis Sechsjährige in den Tageseinrichtungen fühlen. 20 % der Jungen äußerten, dass es ihnen nicht gut gefällt, bei den Mädchen waren es weniger als 10 %. Diese Studie ist bislang einzigartig und insofern besonders, weil sie den Kindern, den Eltern und den Erziehern gleichlautende Fragen stellte. Und das Ergebnis ist alarmierend, weil die hauptsächlich weiblichen Fachkräfte mehr oder weniger einen identischen Anteil von Jungen als »problematisch« bezeichneten – und das nur, weil sich die Jungen wie Jungen benehmen in Einrichtungen, die von Frauen geführt werden, die sich am Umgang mit netten kleinen Mädchen orientieren. Was dazu führt, dass eine relativ große Anzahl von Jungen bereits im Alter von drei bis fünf Jahren als »problematisch« abgestempelt wird.
** Thomas Nordahl, Kvalitet i dagtilbuddet – set med børneøjne. Aalborg Universitet 2012
Das ist ein beängstigendes Beispiel für die »Definitionsmacht«, von der ich sprach. Es ist jene Macht, die wohlmeinende Frauen – mit wenigen oder geringen Kenntnissen, um bei Kindern eine fachgerechte Diagnose zu stellen –, ohne mit der Wimper zu zucken, ausüben, wodurch sie in den betroffenen Familien große Unruhe und viele Probleme auslösen. Der Fairness halber sollte ich erwähnen, dass diese Studie eine von mehreren staatlichen Initiativen ist, um die Qualität in der Kindertagesbetreuung zu untersuchen, und dass zu diesem Programm eben auch die Verbesserung der Ausbildung des Personals gehört. Das wird Kindern in 10 oder 20 Jahren zugutekommen, ist aber wertlos für jene, die jetzt bereits Opfer dieses erschreckenden Mangels an ethisch vertretbaren Erziehungsgrundsätzen und beruflicher Professionalität geworden sind.
Wären beide in ausreichendem Maße vorhanden, klänge das ganz anders und die Erzieherinnen würden sich mit folgender Bitte an die Zuständigen wenden: »Wir haben festgestellt, dass wir wiederholt das Verhalten vieler Jungen infrage stellen und verurteilen, und wir haben erkannt, dass das wahre Problem bei uns, den Erwachsenen, liegt, an unserer Sichtweise und unserer Inkompetenz. Wir benötigen dringend Supervision und Weiterbildung, um aus den Kindern nicht weiter Opfer zu machen.«
Leider aber tritt in den öffentlichen Einrichtungen meistens etwas ganz anderes ein. Nach einer Weile hören die Beschäftigten auf, ihre eigene Kompetenz zu hinterfragen, und wenn die Qualität ihrer Arbeit von außen infrage gestellt wird, reagieren sie häufig damit, vom Arbeitgeber mehr quantitative Zuwendung zu verlangen – das heißt mehr Geld und mehr Mitarbeiter, was aber das Problem nur selten wirklich löst.
All das muss natürlich kein Naturgesetz bleiben, denn ein bestimmtes Maß an Prävention und Schadensbegrenzung ist auch jetzt schon möglich. Es erfordert nur, ein paar einfache Routinen zu ändern, und die Fähigkeit, die eigene Begrenztheit zu erkennen. Dabei geht es nicht um die persönliche Begrenztheit, sondern darum, grundsätzlich eine andere Sicht einzunehmen.
Ein Beispiel zur Anschauung:
Der drei Jahre alte Martin entwickelt ein Verhalten, das vermuten lässt, dass er in Schwierigkeiten steckt. Er reagiert auf die Erwachsenen im Kindergarten zunehmend aggressiv, kann sich nicht länger als fünf Minuten konzentrieren und gerät mit anderen Kindern immer häufiger in Konflikte. In einem solchen Fall sollte das Mindestmaß an Routine folgendermaßen aussehen:
Der Erwachsene, der zu Martin die engste Beziehung aufbauen konnte, nimmt ihn morgens beiseite und lädt ihn zu einem Spaziergang außerhalb des Kindergartengeländes ein. In einem günstigen Moment, wenn es sich gerade richtig anfühlt, fragt sie oder er den Jungen: »Martin, ich habe gemerkt, dass du dich in letzter Zeit nicht wohlfühlst, und ich würde gerne wissen, was dich beschäftigt. Kannst du mir das erzählen?« Wenn Martin mit Schweigen reagiert, sagt der Erwachsene: »Vielleicht fällt es dir schwer, darüber zu sprechen, aber ich wünsche mir, dass … Ich würde dir gerne helfen, wenn du Hilfe brauchst!«
Ganz gleich, was Martin antwortet und ihm oder ihr anvertraut, die angemessene Antwort ist: »Oh, vielen Dank, dass du mir das gesagt hast! Weißt du was – ich werde darüber nachdenken und in ein oder zwei Tagen gehen wir noch mal spazieren … okay?«
Nachdem der Erwachsene darüber nachgedacht, mit den Kollegen gesprochen und die Eltern informiert hat, ist es Zeit für einen zweiten Spaziergang, auf dem sie oder er Martin sagt: »Ich habe über das nachgedacht, was du mir erzählt hast, Martin, und habe entschieden, dass niemand von uns klug genug ist, um allein eine gute Lösung zu finden. Darum habe ich deine Eltern angerufen, und wir werden uns alle in ein paar Tagen treffen, um darüber zu reden. Ich freue mich darauf!«
Bei diesem Treffen sind drei Dinge wichtig:
Martin muss anwesend sein. Natürlich müssen das seine Eltern entscheiden, aber die Erzieher sollten sie darin bestärken, ihn mitzubringen. Das wird für Martin von unschätzbarem Wert sein und sehr hilfreich für »seine« Erwachsenen.
Die Erzieherinnen sind die Gastgeber und verantwortlich für den Ablauf und die Atmosphäre des Treffens. Sie sollten keine bestimmten Vorstellungen und vorgefertigten Vorschläge haben. Der gesamte Ablauf des Treffens ist das Ziel.
Die Erzieherinnen sind dafür verantwortlich, dass ein Machtkampf verhindert wird (und zwar um die »Definitionsmacht«). Das ermöglicht man am besten, wenn sich die Beteiligten immer wieder an eine unumstößliche Tatsache erinnern: Wenn vier Erwachsene über Martin sprechen, dann reden sie über vier verschiedene Jungen – es gibt vier verschiedene Beobachtungen, Meinungen und Perspektiven. Und sie sind alle subjektiv.
Ganz unabhängig davon, wie viel Erfahrung die Erzieher haben, wie gut sie ausgebildet und aufgeklärt sind und wie großartig die Einrichtung im Moment ist, werden sie Fehler machen, und das ist vollkommen in Ordnung, solange sie dafür die Verantwortung übernehmen. (Auch mit demselben Personal verändert sich die Qualität einer Einrichtung ständig!) In dem Augenblick aber, in dem sie einen Sündenbock benennen – egal ob die Eltern oder die Kinder –, verlassen sie die Ebene der Professionalität.
Erzieherinnen und Eltern
Wenn Eltern sich entschieden haben, ihre Kinder in die Obhut einer öffentlichen oder privaten Einrichtung zu geben, erklären sie sich gleichzeitig dazu bereit, die Verantwortung für die Erziehung mit Fremden zu teilen. Dasselbe gilt umgekehrt auch für die Institution, die sich zur Aufnahme des Kindes entschließt. Die Tage, in denen die Erzieherinnen und Erzieher ihre Aufgabe ausschließlich darin gesehen haben, Kinder anzuregen und mit ihnen zu spielen und dabei die Verantwortung für das Wohl der Kinder und für deren psychosoziale Entwicklung bei den Eltern beließen, sind vorbei.
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