Weltsystemcrash: Krisen, Unruhen und die Geburt einer neuen Weltordnung - Teil 1
Gewidmet allen, die auch in verrückten Zeiten den Dialog mit Andersdenkenden suchen.
INHALT
Vorwort
Einleitung
Teil I
Der Weg in die Krise
Kapitel 1
Die Welt vor dem Systemcrash
Von der »Neuen Weltordnung« zum Chaos
Ein neuer Kalter Krieg in Europa und wachsende Spannungen in Asien
Auch im Westen brodelt es
Eine labile Weltwirtschaft
Kapitel 2
Die Vereinigten Staaten von Amerika und das langsame Ende der Nachkriegsordnung
Die amerikanische Weltordnung von 1945 bis 1990
Der Aufstieg der Neokonservativen
Die USA: ein Imperium?
Kapitel 3
Der Aufstieg Chinas
Die Neue Seidenstraße
Die Schweiz und Italien treten der Initiative bei
Die chinesische Expansionsstrategie erreicht Lateinamerika und Afrika
Der Internationale Währungsfonds unter Druck
Vom Billigproduzenten zum Technologieführer
Mit voller Fahrt in den Handelskrieg
Aufrüstung zur See: Wiederholt sich die Geschichte?
Kapitel 4
Der lange Abschied von Bretton Woods
Das Ende der Globalisierung?
Der Nixon-Schock und die Folgen
Ronald Reagan, die neoliberalen Reformen und der amerikanische Unilateralismus
Währungspolitik von Reagan bis Obama
Handel und Wirtschaft – die amerikanischen Regeln
US-Handelspolitik von Clinton bis Obama
Sanktionen und Wirtschaftskrieg
Strukturelle Macht und Erpressung
Teil II
Im Crashmodus
Kapitel 5
Die unbewältigte Finanzkrise
Geldpolitik im Hyperdrive: von Greenspan zu Bernanke
Das Kartenhaus der globalen Schulden
Europa: etwas niedrigere Staatsschulden, dafür ein maroder Bankensektor
Japan, China und die Emerging Markets
Die Folgen von falscher Regulierung und Niedrigzinsen
Der nächste Crash
Kapitel 6
Der Abstieg der Mittelschicht
Lohnzurückhaltung und Globalisierungsfalle
Die Explosion der Vermögenspreise
Volatile Finanzmärkte
Auf dem Weg zum Rentenkollaps
Öffentliche Güter
Der Populismus: Folge, nicht Ursache des Systemversagens
Kapitel 7
Beutewirtschaft, Finanzkapitalismus und die Herrschaft der Superreichen
Die Herrschaft der Superreichen
Eine Reform des Finanzsystems wäre möglich
Solidarische und unsolidarische Eliten
Die Kosten der Ungleichheit
Kapitel 8
Donald Trump, der Populismus und das System
Wahlkampf und Sieg
Auf dem Boden der außenpolitischen Realität: Das Imperium schlägt zurück
Migrations-, Innen- und Wirtschaftspolitik
»Verschwörungen«, Enthüllungen und die Mainstream-Medien: Moskau mischt mit – oder doch nicht?
Im Vorwahlkampf
Kapitel 9
Die Europäische Union: auf dem Weg in die EUdSSR
Das institutionelle Europa: ein komplexer Flickenteppich
Europa als Akteur: zerstritten, wehrlos und fremdbestimmt
Kapitel 10
Der Euro-Crash
Mit Vollgas vor die Wand: Europäisches Währungssystem, Euro und EZB
Das Euro-Desaster: auf dem Weg in die Planwirtschaft
Der »Krieg gegen das Bargeld«
Mehr Planwirtschaft und Umverteilung: Bankenunion, Sicherungssysteme, Arbeitslosenversicherung und Haushalt der Eurozone
Europa vor der Zerreißprobe
Kapitel 11
Deutschlands Abstieg
Modell Deutschland
Deutschland steigt ab
Das »dumme deutsche Geld« und seine Profiteure
Der EZB-Schock: Die Deutschen bilden das Schlusslicht bei der privaten Vermögensbildung in der Eurozone
Die Deutschland AG wird abgewickelt, Deutschland abgezockt
Folgenschwere Fehler Helmut Kohls, rot-grüne Fehlentscheidungen und die katastrophale Kanzlerschaft Angela Merkels
Fallstudie: der Niedergang des deutschen Bildungssystems
Kapitel 12
Deutschland im Weltkrieg um Wohlstand
Nationalstaaten als Wirtschaftsakteure
Produktivkräfte, materielle und immaterielle Wettbewerbsvorteile
Deutschland – ewiger Loser bei grenzüberschreitenden Fusionen und Übernahmen
Der Zermürbungskrieg gegen das deutsche Bank- und Finanzsystem
Der Feldzug gegen die Automobilbranche
Kapitel 13
Fake News, Überwachungsstaat, Repression und die Geburt einer neuen Weltordnung
Drei Zukunftsszenarien
Das Ende der Aufklärung
Lügen in Zeiten des Krieges
Der Weg zur Knechtschaft
Teil III
Auswege
Kapitel 14
Einen klaren Kopf bewahren
Kapitel 15
Wie Sie sich auf die Krise vorbereiten
Rückblick: Welche Vermögen wurden seit der Finanzkrise angegriffen?
1. Treffen Sie Vorkehrungen für den Fall des Systemcrashs
2. Ihre Geldanlagen sind »Chefsache« – und zwar Ihre ganz persönliche
3. Verschaffen Sie sich eine finanzielle Schwimmweste – oder besser noch ein Rettungsboot
4. Machen Sie sich ein Bild über die verschiedenen Vermögensklassen
5. Suchen Sie sich sichere Länder und Banken
6. Erstellen Sie Ihre persönliche Vermögensbilanz
7. Erarbeiten Sie sich einen Einnahmen- und Ausgabenplan
8. Stellen Sie Ihre Einnahmen auf eine sichere und breitere Basis
Kapitel 16
Kapitalanlagen für die Krise
Strategische Vermögensaufteilung für die Krise
Vermögensaufteilung in der Krise
Gold und Edelmetalle
Unsicherheitsfaktor Notenbanken
Gold in verschiedenen Formen
Aktien von Goldminenbetreibern
Bargeld, Anleihen und Devisen
Immobilien
Aktien
Königsaktien finden
Gier, Furcht und der Unternehmenswert
Wir können Krise
Don’t lose!
Anhänge
I – Wirtschaftszyklen, Wirtschafts- und Finanzkrisen: Warum sie immer wieder kommen
II – Angelsächsischer Finanzkapitalismus und das deutsch-mitteleuropäische Gegenmodell
III – Arthur Ponsonby: Die Prinzipien der Kriegspropaganda
IV – Finanzwebseiten und alternative Nachrichtenseiten
Danksagung
VORWORT
Ich habe nicht für Zustimmung und Applaus in der Gegenwart geschrieben, sondern für die Nachwelt; und ich werde zufrieden sein, wenn in der Zukunft Menschen, die sich mit diesen Vorkommnissen befassen oder mit Vorkommnissen, die mit großer Wahrscheinlichkeit in ähnlicher Form erfolgen werden, meine Erzählung nützlich finden werden.
Thukydides, Der Peloponnesische Krieg
Lange habe ich mich gesträubt, einen Nachfolger zu Der Crash kommt zu schreiben. Das hat mindestens fünf Gründe. Erstens ist es natürlich schwer, einen Megaerfolg wie Der Crash kommt zu toppen. Das Buch ging allein in Deutschland fast 500.000-mal über den Ladentisch und wurde in ein halbes Dutzend Sprachen, darunter Bulgarisch, Polnisch und Chinesisch, übersetzt. »Max Otte legte mit Der Crash kommt im Jahr 2006 eine saubere Analyse vor, erklärte komplizierte Sachverhalte breitenwirksam und hatte zudem etwas Glück. Er dürfte deshalb zu Recht der erfolgreichste deutsche Crash-Guru aller Zeiten sein.« Jeder Versuch einer Wiederholung verbot sich daher von selbst.
Zweitens habe ich in dem Zeitraum von mehr als einem Jahrzehnt, der seitdem vergangen ist, mehrere erfolgreiche Unternehmen aufgebaut. Wer selbst Unternehmer ist oder wirtschaftlich auf eigenen Beinen steht, vermag vielleicht nachzuvollziehen, wie viel Energie dafür nötig ist.
Drittens verspüre ich nicht das Bedürfnis, zu allem und jedem ein Buch auf den Markt zu werfen, sondern warte lieber in Ruhe ab, bis die Zeit reif ist.
Viertens kopiere ich mich nicht gern selbst. Immer wieder wurde mir von wohlmeinenden Menschen nach der Finanzkrise und dem Megaerfolg von Der Crash kommt geraten, doch ein weiteres Buch zu schreiben, um an den Erfolg anzuknüpfen. Jemand riet mir, ein Buch mit dem Titel Der Aufschwung kommt zu verfassen. Da würde ich dann gleich den nächsten Hit landen, meinte er. Das habe ich nicht getan. Aber andere kopierten fleißig. Es erschienen nacheinander die Titel Die Inflation kommt und Der Staatsbankrott kommt. Schließlich schrieb ein Vermögensverwalter tatsächlich ein Buch mit dem Titel Der Aufschwung kommt. Das Titelformat hat weiter Konjunktur: In jüngster Zeit erschienen Der Terror kommt sowie Megacrash – Die große Enteignung kommt.
Und fünftens – das war meine größte Sorge – würde dieses neue Buch noch mehr als Der Crash kommt außerhalb der Komfortzone vieler Menschen liegen, weil es noch ungemütlicher würde. Die Welt hat eine Richtung genommen, wie ich sie in Der Crash kommt zwar leise als Gefahr angedeutet, mir sie aber ansonsten für meine Albträume reserviert habe. Der Schuldenstand der Welt ist durch diverse Banken- und Eurorettungsaktionen auf den höchsten Stand aller Zeiten gestiegen, Krieg und Krisen brechen aus, eine Migrations- und Terrorwelle überschwemmt Europa und die Gesellschaften sind zunehmend zerrissen und polarisiert. Es droht nicht nur ein Finanzcrash, sondern ein Crash des Weltsystems. Wenn wir diesen abwenden oder uns wenigstens darauf vorbereiten wollen, müssen wir die Ursachen und Gründe analysieren.
Deshalb lege ich mehr als dreizehn Jahre nach Der Crash kommt dieses Buch nun doch vor.
EINLEITUNG
Prüft jedoch alles und behaltet das Gute!
1. Thessalonicher 5:21
In dem Science-Fiction-Spektakel Matrix muss der von Keanu Reeves verkörperte Protagonist Neo erleben, wie seine gesamte bisherige Welt zusammenbricht und er in einer Welt erwacht, wie er sie sich in seinen düstersten Albträumen nicht vorgestellt hatte. In einer postapokalyptischen Landschaft herrschen die Maschinen. Für ihren eigenen Energiebedarf bauen sie Menschen an, die sie in Millionen Flüssigkeitsbehältern halten. Die unbeweglichen Körper sind über Kabel mit einem System, der »Matrix«, verbunden, das ihnen eine virtuelle Realität vorspielt. Der Moment, in dem die Hauptperson Neo erwacht und zum ersten Mal diese Welt erblickt, ist einer der beeindruckendsten Momente der jüngeren Filmgeschichte.
Eine geschickt aufgebaute Handlung führt zu diesem Moment. Immer wieder erlebt Neo in seiner Welt – seiner Traumwelt, wie sich herausstellt – Inkonsistenzen. Manche Begebenheiten passen einfach nicht. Schließlich wird er von Morpheus, dem Anführer des Widerstandes gegen die Maschinen, vor die Wahl gestellt:
Dies ist deine letzte Chance. Danach gibt es kein Zurück. Wenn du die blaue Pille nimmst, endet diese Geschichte. Du wachst in deinem Bett auf und glaubst, was du glauben willst. Wenn du die rote Pille nimmst, bleibst du im Wunderland und ich zeige dir, wie tief das Kaninchenloch wirklich ist. Denk daran: Ich biete nur die Wahrheit an. Nicht mehr.
Ich bin nicht der Erste, der die Szene von der blauen und der roten Pille zitiert. Im vorliegenden Buch werde ich sehr unangenehme Themen ansprechen und sehr unbequeme Erklärungen anbieten. Einige von Ihnen werden vielleicht denken: »Das kann doch nicht wahr sein!« Vielleicht sogar: »Das kann nicht wahr sein, weil es nicht wahr sein darf.« Manche von Ihnen werden das Buch vielleicht aus der Hand legen, weil es ihnen zu unangenehm ist.
Machen wir uns nichts vor: Die meisten Menschen ziehen es vor, in ihrer Matrix zu leben, und zwar egal, ob die »echte« Welt ein Albtraum oder ob sie eigentlich ganz nett ist. Seit Platon wissen wir, dass die Welt, die wir wahrnehmen, eine Projektion unseres Gehirns ist. Neurowissenschaftler, Anthropologen und Soziobiologen wissen mittlerweile recht gut, wie sich unser Denken entwickelt hat und wie es funktioniert: lückenhaft und selektiv, oft vorschnell und emotional sowie am Gruppenkonsens orientiert. Echtes Denken ist selten. Und anstrengend. Deswegen gibt es zum Beispiel in der Finanzwelt so wenige gute Investoren und so viele Schwätzer. Und deswegen machen wir es uns so gern in unserer selbstgemachten oder für uns von anderen vorbereiteten Matrix bequem.
Aber ich schreibe nicht für alle. Ich schreibe für diejenigen, die wirklich nach Erklärungen suchen für das Chaos, das derzeit auf der Welt herrscht, die Bedrohung der Freiheit, den Populismus, den Abstieg der Mittelschicht, die Kriege. Die bereit sind, ihre eigene Matrix infrage zu stellen. Es wird in diesem Buch auch um Krieg und Leiden gehen, Tatsachen, die im neuen Jahrtausend genauso präsent sind wie im vergangenen.
Dabei greife ich auf einen reichen Fundus von Klassikern und aktuellen politischen Denkern zurück, von Thukydides über Halford Mackinder und Carl Schmitt bis zu Robert Gilpin und Henry Kissinger. Alle diese Denker gehören der »realistischen Schule der Politikwissenschaft« an. Ich bin zwar als Ökonom bekannt, habe aber auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen viel geforscht. In diesem Buch stütze ich mich bei meiner Analyse der Ursachen und Folgen der aktuellen Weltkrise auf die gerade erwähnte realistische Schule der Politikwissenschaft, die meiner Ansicht nach die Welt besser erklären kann als Sozialismus und (Neo-)Liberalismus. Zudem sind in den letzten Jahren große Fortschritte auf dem Gebiet der Gehirnforschung, der evolutionären Erkenntnistheorie, der Anthropologie und der Soziobiologie gemacht worden. Sie stützen meinen Erklärungsansatz. Shit happens. Heute wissen wir viel besser, warum.
***
Es sind verschiedene Mechanismen unseres Gehirns, die uns immer wieder Fehler machen lassen: das (vor)schnelle, instinktgetriebene und intuitive Denken, die selektive Wahrnehmung, das Phänomen der kognitiven Dissonanz und das Gruppendenken. Diese Mechanismen waren im Verlauf unserer Evolution überlebenswichtig – und sie sind es oft immer noch –, aber verleiten uns in der modernen, komplexen und technisierten Welt auch dazu, Fehler zu machen. Sie lassen uns simpler Propaganda folgen, in der Matrix der Medien gefangen bleiben, Gruppendenken und Ausgrenzung betreiben und kolossale Fehler begehen. Im schlimmsten Fall lassen wir uns in unnötige Kriege hineinziehen.
Denn Kriege beginnen fast immer mit Lügen. Das war beim Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 der Fall, als Otto von Bismarck mit der »Emser Depesche« einen Kriegsgrund inszenierte, beim Krieg, den die USA 1903 gegen Kolumbien führten, um Panama abzuspalten und sich die Kontrolle über den Kanal zwischen Atlantik und Pazifik zu sichern, und beim Vietnamkrieg, der mit dem Zwischenfall im Golf von Tonkin Fahrt aufnahm. Auch dieser Zwischenfall, wie sich im Nachhinein herausstellte, war inszeniert.
In jüngerer Zeit begannen beide Kriege der USA gegen den Irak mit Lügen. Im Ersten Irakkrieg 1990 war es die professionell inszenierte »Brutkastenlüge«, die die amerikanische Öffentlichkeit mobilisierte, im Zweiten Irakkrieg die Lüge von irakischen Massenvernichtungswaffen, die der sichtlich gestresste Außenminister Colin Powell der UNO auftischen musste. Zwar brachte Powell einen Disclaimer an – er sagte: »nach dem, was mir meine Quellen berichten« –, aber es war ihm wohl klar, dass er die Unwahrheit verbreiten musste, damit die USA einen Kriegsgrund hatten. In ihren Büchern und Vorträgen zeigen der Politik- und Islamwissenschaftler Michael Lüders und der Friedensforscher Daniele Ganser auf, wie westliche Politik, gestützt auf Lügen und Legenden, den Nahen Osten ins Chaos gestürzt hat, mit Folgen, die wir ab 2015 auch in Deutschland unmittelbar zu spüren bekamen.
Im Bücherschrank meines Vaters stand Psychologie der Massen von Gustave Le Bon, ein Klassiker aus dem Jahr 1895. In diesem Buch legt der Arzt und Psychologe eine Theorie des Herdentriebs vor und zeigt systematisch auf, wie in vielen Massenphänomenen das Unbewusste die Entscheidungen der Menschen beeinflusst: »Die bewusste Persönlichkeit schwindet, die Gefühle und Gedanken aller Einzelnen sind nach derselben Richtung orientiert.« Das »Gehirnleben« tritt zurück, das »Rückenmarkleben« herrscht vor. »In der Gemeinschaftsseele versinkt das Ungleichartige im Gleichartigen, und die unbewussten Eigenschaften überwiegen.«
Heute ist das, was Le Bon so treffend beschrieb, durch viele wissenschaftliche Experimente erhärtet. Der israelisch-amerikanische Psychologe Daniel Kahneman nennt es »schnelles Denken«. Es läuft intuitiv, reflexartig und automatisch ab, während bewusstes, rationales Denken langsam ist. Kahneman erhielt 2002 den Nobelpreis für Ökonomie, und zwar für seine Forschungen im Bereich »Behavioral Finance« (verhaltenstheoretische Erklärungsansätze bei ökonomischen Entscheidungen), in denen er das Herdenverhalten bei Investmententscheidungen auf spezielle Gehirnaktivitäten zurückführen konnte. Probanden wurden in einen Kernspintomografen geschoben und mit Fragen zu Geldanlagen konfrontiert. Diese sollten sie per Knopfdruck beantworten. So wurden sie gefragt: »Hätten Sie lieber 100 Dollar jetzt oder 110 Dollar in vier Monaten?« Die Fragen waren zum Teil sehr einfach, zum Teil aber recht knifflig. Der Kernspintomograf machte sichtbar, welche Bereiche des Gehirns bei der Beantwortung der Fragen besonders aktiv waren.
Die Erkenntnisse waren verblüffend: Immer wenn sich der Proband für die sofortige Geldauszahlung entschied, war besonders der Hirnstamm aktiv, Le Bons »Rückenmark«. Dieser evolutionsgeschichtlich sehr alte Gehirnteil ist auch bei Reptilien vorhanden und wird deswegen auch »Reptiliengehirn« genannt. Das bewusste Denken, für das das Großhirn verantwortlich ist, wurde nur dann »eingeschaltet«, wenn der Teilnehmer der Studie sich für eine spätere Geldauszahlung entschied.
Kahnemans Schlussfolgerung: Ein Großteil unseres Investmentverhaltens wird von Mechanismen gesteuert, die aus einer Zeit stammen, als es nur um eines ging: ums Fressen oder Gefressenwerden. Kampf, Angriff oder Flucht sind Verhaltensmuster, die uns bis heute beeinflussen. Bei der Geldanlage oder bei vielen anderen Entscheidungen sollten jedoch nicht Emotionen den Ausschlag geben, sondern ein kühl kalkulierender Kopf, der zukünftige Renditen und Risiken möglichst sachlich und nüchtern analysiert. Spontane Reaktionen sind absolut kontraproduktiv. Wir steuern unsere Investmententscheidungen mit Mechanismen, auf die sich auch Reptilien verlassen. Erfahrene Anleger haben damit den Beleg für das, was sie schon immer wussten: 90 Prozent des Anlageerfolgs bestehen darin, die eigenen Emotionen unter Kontrolle zu halten. Das Kahneman-Experiment hat gezeigt, warum Anleger sich gelegentlich extrem idiotisch verhalten. Und was für Anlageentscheidungen gilt, gilt auch für viele andere Bereiche des Lebens.
Der kognitive Archäologe Steven Mithen, langjähriger Leiter der School of Human and Environmental Sciences an der University of Reading hat mit Prehistory of the Mind eine Entstehungsgeschichte menschlichen Denkens geschrieben. Nach Mithen hat sich das Denken in verschiedenen relativ unabhängigen Modulen entwickelt, die in uns angelegt sind, so der allgemeinen Intelligenz, der Sprachfähigkeit, der Umwelterkennung und der sozialen Intelligenz. Erst relativ spät in unserer Entwicklung vernetzten sich die verschiedenen Module zum Denken des modernen Menschen.
Der Mensch ist als Gruppenwesen stark geworden, als wir durch die Savannen Afrikas streiften. Nur in der Gruppe konnten wir überleben. Mithen – wie viele Evolutionsbiologen – geht davon aus, dass mehr als die Hälfte unseres Denkens von der sozialen Intelligenz in Anspruch genommen wird. Wir vergleichen uns ständig mit anderen und versuchen, unsere Position in der Gruppe zu bestimmen. Wir registrieren, wenn wir auf- oder absteigen oder wenn sich das Gefüge in der Gruppe verändert. Auch das permanente Vergleichen in der Statusgruppe ist »Problemlösung« – soziale Problemlösung. Wenn sich jemand zu sehr vom Gruppenkonsens entfernt, läuft er oder sie Gefahr, ausgestoßen zu werden. So wird bei einer nüchternen Betrachtung klar, warum sich so wenige Menschen trauen, das Gruppendenken zu verlassen, und warum wirklich unabhängiges Denken selten ist.
Unsere menschliche Wahrnehmung ist zudem fokussiert und zielorientiert. Die menschlichen Augen gleichen Raubtieraugen, der Blick ist nach vorn gerichtet, um Objekte und Beute zu fixieren. Die Augen von Pflanzenfressern hingegen sind seitlich am Kopf platziert, um ein möglichst breites Umfeld zu überblicken. Das Grundmuster des Verhaltens von Menschen und Raubtieren ist ein »hin zu«, während bei Pflanzenfressern zuerst die Fluchtinstinkte angesprochen werden: »weg von«. Erstmalig hat diese Muster der Universalphilosoph Oswald Spengler in seiner Schrift Der Mensch und die Technik beschrieben.
Diese ererbte Zielorientierung hilft uns auch in Zeiten, in denen wir nicht mehr durch die Steppen und Savannen streifen und nach dem nächsten Beutetier Ausschau halten. Wir