Was soll denn aus ihr werden? - Teil 8
er wollte bis zuletzt bei ihr sein. Detto hielt sie an der Schürze fest und Marietta hinten am Schürzenband. So kamen sie heraus. Die alte Maja kam eben aus dem Holzbehälter hervor. Ihre betrübte Miene hatte sich etwas gelichtet.
»Ach, Dori, mir ist es wie ein Wunder, daß ich auch einmal wieder etwas fertig bringen konnte und zwei Schritte vor mich sehen kann. Ach, wie dank’ ich dir’s, du weißt nicht, was es ist, wenn man nichts mehr vor sich sieht und wie erdrückt wird von einem Berg von Lasten und Sorgen und die Kraft nicht mehr hat für die Kinder. Wie hast du’s nur gemacht, daß sie still waren bis jetzt? Ach, Dori, ich darf es nicht sagen, aber wenn du mir so alle Wochen einen halben Tag diese Kinder abnehmen wolltest, so wie du’s verstehst, sie hängen ja alle drei an dir, als wollten sie dich nicht mehr loslassen! Aber was würde die Mutter sagen?«
»Alle Tage komm ich nun, Maja, ich verspreche dir’s, und der Mutter ist es auch recht; aber nun erwartet sie mich, gute Nacht!« Dori machte die kleinen Hände, die sie immer noch festhielten, los, und rannte davon.
Ihrem Versprechen gemäß trat Dori am andern Tag um dieselbe Stunde aus ihrer Tür. Sobald sie in Sicht war, kam Giacomo ihr entgegengelaufen; er hatte schon lange gelauert, ob sie erscheinen werde. Sowie Detto und Marietta das große Buch unter Doris Arm erblickten, kamen auch die beiden herangerannt; sie wollten sehen, ob der Wolf die Geißlein gefressen habe, oder ob sie noch da seien. Aber diesmal ging es nicht, wie sie meinten, nun wollte Dori ihren Willen haben; heute mußte das Lernen beginnen. Ein neues Bild und die Geschichte dazu sollten das Ende der Lehrstunden bilden, wenn diese gut ausgefallen sein würden. Dori holte nun, was nötig war, aus der großen Tasche hervor, die sie wieder mitgebracht hatte, und es begann ein regelrechter Unterricht im Schreiben. Dori wußte noch sehr gut, wie da angefangen und fortgefahren werden mußte, war es doch noch gar nicht sehr lange, seit sie selbst mit ihrem Vater dieselbe Arbeit von Anfang an durchgemacht hatte. In dieser ersten Lehrstunde machte Dori eine Erfahrung, die sie mit großer Freude erfüllte und einen ganz neuen Eifer für ihre Lehrtätigkeit in ihr erweckte. Mit der größten Leichtigkeit erfaßte der achtjährige Giacomo alles, was Dori ihm beibrachte, führte es so gut aus, als es zu tun war, und vergaß es nicht wieder.
Als so die ersten Lehrstunden zu Ende waren, hatte Giacomo eine Reihe schöner Buchstaben hingeschrieben und kannte sie alle einzeln, ohne sich zu irren. In seinen dunkeln Augen war der finster blitzende Ausdruck verschwunden; sie glühten jetzt voller Lerneifer und schauten immer wieder erwartungsvoll zu Dori auf. Auch die kleine, fünfjährige Marietta war tätig geworden und machte dem Giacomo alle Strichlein ganz genau nach, wie ein kleines Äffchen, denn sie hatte einen großen Nachahmungstrieb; aber ihre kleinen Buchstaben konnte sie nicht voneinander unterscheiden. Der siebenjährige Detto machte ganz erstaunliche Figuren, er meinte, die Hauptsache sei, daß die Tafel zu Ende überkratzt sei, daß man zum Wolf und den Geißlein übergehen könne. Heute war es völlig dunkel geworden, bevor Don zu Ende gekommen war mit allem, was sie sich zu vollführen vorgenommen hatte. Denn nachdem der Unterricht beendet war, mußte ja das versprochene Bild gezeigt und die Geschichte dazu noch erzählt werden.
Völlig erfüllt von dieser wunderbaren Geschichte drängten sich alle drei Kinder immer noch näher an Dori heran, um kein Wort davon zu verlieren, als die alte Maja hereinkam und ausrief: »O du guter Engel, Dori, bist du denn noch da! Mir ist, es sei mir alle Sorge abgenommen, seit ich nun von Tag zu Tag weiß, daß du wieder kommst!«
»Großmutter! Großmutter!« schrieen die Kinder alle auf einmal, »sag nichts mehr, sei doch ganz still, die Geschichte ist nicht aus, der kleine Tom muß vielleicht erfrieren.«
»Die Geschichte ist gleich aus«, sagte Dori, »der kleine, verlaufene Tom war nun so müde vom Suchen seines Weges, daß er unter einer Tanne niederfiel und gleich liegen blieb. Und wie die Sternlein so freundlich zu ihm niederschauten, da kam es ihm in den Sinn, daß der liebe Gott dort oben nun gewiß so auf ihn niederschaue und ganz gut wisse, wie schlimm er daran sei. Da fürchtete er sich kein bißchen mehr und rief in den Himmel hinauf: »Lieber Gott, weil mir doch sonst niemand den Weg zeigen kann und ich ihn nicht mehr finde und so stark friere, so zeig mir ihn dann auch morgen, jetzt muß ich gewiß zuerst schlafen, ich bin so müde. Dann schlief er ein. Und dann hätte er erfrieren müssen. Aber der liebe Gott gab dem Holzhacker ins Herz, daß er beim Heimgehn sich ein wenig nach den Tannen umsehe; da sah er im Schnee den kleinen Tom liegen und schlafen. Schnell nahm er ihn auf und trug ihn heim, denn er wußte schon, wem der kleine Tom gehörte. Nun ist’s aus.«
»Dann will ich es auch so machen, wenn ich verlaufe«, sagte schnell Marietta.
»Ja, ja, lieber nicht verlaufen, gewiß hast du es schon im Sinn«, sagte besorgt die Großmutter.
Dori wollte schnell aufstehn, aber die Kinder baten alle drei so dringend, nur noch einmal den kleinen Tom unter der Tanne im Schnee liegend anschauen zu dürfen, nun sie sicher waren, daß er nicht erfrieren mußte, denn vorher hatten sie mit großer Angst das Bild angeschaut. Aber es war nichts mehr zu sehn, die Nacht war da und Dori rief nur tröstend noch einmal zurück: »Morgen komm’ ich ja wieder, dann dürft ihr’s gleich sehn!«
Dori kam so erfüllt von ihren Erfolgen, von der Freude der Kinder, von dem erleichterten Herzen der alten Maja, von dem Lerneifer des auflebenden Giacomo zurück, daß sie die Mutter mit ihren Nachrichten völlig überschüttete und mit sich fortriß. Zum erstenmal, seit Dorothea ihren Mann verloren, schaute sie mit Lächeln auf ihr Kind und folgte den beredten Worten mit einer Teilnahme, wie sie sonst für gar nichts mehr gezeigt hatte. Als Dori bemerkte, daß die Mutter einmal wieder zuhörte und teilnahm an dem, was sie zu berichten hatte, kam ihr plötzlich ein Gedanke: Wenn die Mutter alles mit ansehn und anhören könnte, da müßte ihr erst die rechte Freude an der Sache ausgehen.
»O Mutter, ich weiß, was wir tun könnten!« rief Dori jetzt aus. »Ich könnte jeden Nachmittag die Kinder zu mir kommen lassen. Dann würde ich unser Schulzimmer auf der Terrasse einrichten und du säßest mit deiner Arbeit daneben und könntest alles sehen und hören. Wolltest du nicht auch gern dabei sein? Die kleine Manetta würde dich so zu lachen machen, und Giacomo gefiele dir so gut in seinem Eifer, alles gerade so zu machen, wie es mir gefällt, und Detto ist so drollig in seinen Erfindungen, wenn er alles verkehrt macht; nicht wahr, Mutter, du willst sie kommen lassen?«
Die Mutter willigte ein. Gleich am andern Nachmittag holte Dori ihre drei Schüler in den neuen Lehrsaal herüber. Das war ein ganzes Fest für die Kinder. Lustig tanzten die Schatten der Rosenblätter auf dem sonnenbeschienenen Steinboden und über die offene Terrasse zog ein frischer Windhauch und brachte hin und wieder liebliche Düfte von der Rosenhecke herauf. Mitten in dem offenen Raum stand der wohlgeordnete Tisch mit den nötigen Büchern und Papieren bedeckt. Auf allen vier Seiten standen die Sitze bereit für die drei Schüler und ihre Lehrerin. Auf einem eigenen Stühlchen lag das geschlossene, freudenverheißende, große Buch und in der Ecke, beim dichten Weinlaubgehänge saß Frau Dorothea mit ihrer Arbeit und hieß die eintretenden Schüler freundlich willkommen. Die Arbeitszeit wurde aufs beste angewandt, sogar Detto machte heute aus Respekt vor der neuen Umgebung einige erkennbare Striche. Das Schwierigste war, nachdem dann auch der Genuß von Bild und Geschichte gefolgt hatte, die Kinder wieder fortzubringen, denn die neue Lehranstalt gefiel ihnen über die Maßen wohl. Es gelang auch an diesem Tage weder Dori noch ihrer Mutter, die drei beglückten Schüler zum Aufbruch zu bringen, bis die alte Maja erschien, die den Grund des langen Ausbleibens der Kinder ahnte und herüber gelaufen kam, um mit tausend Danksagungen die Widerstrebenden heimzuholen. Jetzt erzeigte es sich, wie nützlich auch die Salz-Peppe an ihrer Stelle war, obschon Dori im stillen oft schon ausgedacht hatte, wie nett es wäre, wenn man die Salz-Peppe nie mehr sehen und hauptsächlich nie mehr hören müßte mit ihrer kratzenden Stimme. Aber es war gut, daß sie jetzt auf dem Platze war. Von nun an kamen immer schon am frühen Morgen Detto und Marietta herbeigerannt und wollten in ihr Schullokal vordringen, denn sie kannten kein größeres Vergnügen mehr, als dort mit Dori ihre Zeit zuzubringen.
Dieses Andringen der zwei kleinen Geschöpfe an das Haus, zu dem sie gehörte, war aber der Salz-Peppe ein Dorn im Auge, und sobald sie die kleinen Füße herantrippeln hörte, guckte schon der Kopf mit dem roten Tuch darüber um eine Ecke herum, und gleich schoß die Salz-Peppe hervor und hob so drohend ihren Besen in die Höhe, daß die beiden noch viel schneller, als sie herangekommen waren, wieder davonrannten. Das war nun eine gute Wache für Dori, die sonst ihre ganze Zeit nur mit Abwehren der Kinder hätte zubringen müssen, und sie hatte doch viel anderes zu tun, das nicht zu vernachlässigen war. Der Vater hatte sie so gut gelehrt, wie sie der beiden Sprachen, in denen er sie unterrichtet hatte, immer mächtiger werden und das Beste sich davon aneignen konnte. Sie hatte täglich mit ihm einige