Was soll denn aus ihr werden? - Teil 38
daß wir so reisen können.«
Doris Herz klopfte vor Wonne. In vier Tagen schon der sonnigen Heimat zu! Aber die Mutter? Dori sagte, für sie wäre noch viel zu besorgen, vielleicht würde die Mutter sich zu so schneller Abreise nicht entschließen können. Aber Frau Lichtenstern bewies unumstößlich, daß jeder Tag darüber hinaus zu viel wäre, daß plötzlich der Winter hier in den Bergen einbrechen könnte, so daß am Ende diese Bergpässe gar nicht mehr zu überschreiten wären und man den ganzen Winter durch in der Talenge lebendig eingemauert säße. Dori versprach, zu tun, was ihr möglich sei und wollte nur noch einige Anweisungen über die Behandlung ihres künftigen Zöglings haben. Aber Frau Lichtenstern ging nicht darauf ein. Sie sagte, schöne milde Luft und gesunde Kost sei die Hauptsache, das übrige werde die Intelligenz der Pflegerin ihr schon eingeben. Dann ging sie auf einige andere Gegenstände über, die Dori nicht zu besprechen verstand. So stand sie auf, um sich zu entfernen.
Dorothea war es geradezu, als wollte die Welt über ihrem Kopf zufammenfallen, als sie hörte, in vier Tagen sollte alles verpackt, besorgt und sie zur Reise bereit sein.
»Aber Dori, siehst du denn auch nicht ein, daß es völlig unmöglich ist!« jammerte sie. »Was meinst du denn auch! Alles das Hausgerät! Alle die großen Stücke, die man nicht mitnehmen kann. Das Haus selbst. Wie kannst du auch nur einen Augenblick an so etwas Unmögliches denken!«
Aber Dori sah keine Unmöglichkeit vor sich. »Laß mich nur machen, Mutter, in drei Tagen will ich mit allem fertig sein«, sagte sie zuversichtlich. »Die Sachen, die nicht mitgenommen werden, übergeben wir dem Melchior, der besorgt uns das besser als wir selbst. Wir könnten ja ein Jahr lang warten, bevor wir das Zeug losgeschlagen hätten. Das Haus übergeben wir ihm ebenfalls, er weiß besser, was damit zu machen ist, als wir es wüßten.«
»Aber die Nonna, die Verwandten, was wird die Nonna sagen! Was werden sie alle sagen! O wie wird alles noch kommen!« jammerte Dorothea wieder.
Dori ließ sich nicht entmutigen. Sie schlug vor, gleich zur Nonna zu gehen, ihr alles zu erklären und sie zu fragen, was mit dem Haus geschehen soll. Aber der Gedanke, welchen Eindruck der Entschluß bei der Nonna und den übrigen Verwandten hervorbringen würde, war für Dorothea das Schrecklichste. Erst mußte sie den Mut erlangen, das Geständnis des Vorhabens abzulegen.
Dori kannte die Mutter gut genug, um zu wissen, daß sie durchaus eine Zeit der ruhigen Vorbereitung bedürfe, um etwas auszuführen, das ihr einen solchen Schrecken einflößte. Sie setzte sich darum ganz fest an den Tisch hin, so als habe sie im Sinn, eine lange Zeit nicht wieder aufzustehen.
»Komm Mutter, heute bleiben wir noch ganz ruhig da, so als hätten wir gar nichts vor«, sagte sie, der Mutter einen Sitz neben sich zurecht machend, »ich habe dir ja auch noch viel mitzuteilen, vor allem noch die Verhandlungen mit Frau Lichtenstern.« Dori hatte den rechten Weg eingeschlagen. Über ihre Mitteilung der Vorschläge, welche die Dame gemacht, und Doris eifrigen Beweisen, wie aus diesen Mitteln in der alten Heimat ein herrliches Leben geführt werden könne, vergaß Dorothea die erschreckende Aussicht und kam weit darüber hinaus mit ihren Gedanken. Sie mußte ausrechnen, ob Doris Beweise richtig seien, ob es wirklich eine Möglichkeit wäre, das alte Leben wieder aufzunehmen. Es kam ihr selbst so schön vor, daß sie es kaum glauben konnte. »Aber das kann ich nicht begreifen«, fuhr Dori in ihren Mitteilungen fort, »daß Frau Lichtenstern mir durchaus keine Anweisungen geben wollte, wie ich den kleinen Jungen zu behandeln habe. Auf meine Frage danach erwiderte sie ganz kurz, die Behandlung des Kindes werde mir die eigene Vernunft eingeben, und sie sei eben jetzt sehr in Anspruch genommen durch die neuesten politischen Ereignisse, das europäische Gleichgewicht sei sehr bedroht. Kannst du denn begreifen, wie so etwas sein kann, daß eine Mutter, die ihr Kind von sich geben muß und dazu noch ein krankes, sich viel mehr darum kümmert, ob Europa das Gleichgewicht verloren hat, als darum, ob das Kind auch so behandelt wird, wie es sein Zustand erfordert?«
»Nein, nein, das begreif’ ich nun schon nicht«, bestätigte Dorothea, »aber ich bin ja auch eine so einfache Frau, für mich waren ja mein Mann und mein Kind alles. Nun bedenk aber eine solche Frau, die so viel kennt und weiß, die muß ja so viel zu denken und zu wirken haben, so Großes, daß ich es nur gar nicht verstehe.«
»Ich meine, gerade eine Mutter müßte sich am meisten freuen, daß sie so viel kann und weiß, weil sie es ihren Kindern zugute kommen lassen kann und ihnen von klein auf immerfort das Beste geben kann, was es auf Erden gibt«, meinte Dori. »Wenn ich denke, welche Freude ich hatte, als ich sah, wie aus dem wilden Kätzchen von Marietta ein ganz nettes Menschenwesen sich entwickelte, nachdem es zu uns kam, etwas lernte und sah und hörte, wie man sein sollte, da meine ich, es müßte doch die allergrößte Freude für eine Mutter sein, aus ihren Kindern das Allerbeste zu machen, und wer selbst so viel ist, der hätte ja so viel zu geben. Ich meine, die Menschen fangen schon als ganz kleine Kinder an, das aufzunehmen und zu werden, was die sind, die ihnen am nächsten stehen und mit ihnen leben. Nun denk nur, Mutter, welch ein Unterschied für ein Kind das ist, wenn eine solche vorzügliche Frau ganz mit ihren Kindern lebt, so daß diese nur immer das Beste und Höchste sehen und hören, oder wenn die Kinder Leuten überlassen werden, die selbst nicht viel Gutes kennen und wissen. Ich weiß recht gut, was ich meinem Vater verdanke, dem ich nicht von der Seite kam, solang ich mich nur erinnern kann.«
»Wir können gewiß die Sache nicht so recht beurteilen, Dori«, meinte die Mutter, »es ist doch vielleicht etwas sehr Großes, wenn eine Frau solche Kenntnisse hat, daß sie Dinge beurteilen kann, von denen wir ja nicht einmal einen Begriff haben, was es sein könnte; ich einmal weiß nun gar nicht, was ein europäisches Gleichgewicht ist. Eine solche Frau kann vielleicht große Dinge ausführen, von denen wir gar nichts wissen, so daß wir vielleicht anders denken müßten, wenn wir etwas davon verstehen könnten.«
Dori war nicht so leicht zu überzeugen. Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nun einmal, daß eine solche Frau doch nichts machen kann, daß Europa wieder ins Gleichgewicht kommt, wenn es einmal daraus gekommen ist; daß ihr aber die Kinder nicht aus dem Gleichgewicht kommen, kann sie sicher am besten verhüten und daran müßte ihr doch am besten gelegen sein. Sie hat selbst zuerst die Freude und den Gewinn davon und dann die andern Menschen auch und das ganze Land, und Europa bleibt gewiß so am allerbesten im Gleichgewicht.«
Es war Dori sehr daran gelegen, daß die Mutter heute recht früh sich zurückziehen möchte, denn morgen sollten doch die Zurüstungen zur Reise beginnen. Dazu müßte sie sich vorher erst recht ausruhen und kräftigen, meinte die Tochter.
Dorothea willigte nicht ungern ein, denn die ganze Sache lag wie ein unübersteiglicher Berg vor ihr. Sobald sie sich zurückgezogen hatte und Dori allein war, begann sie, alles Bewegliche im Haus zusammenzutragen, zu verpacken und die Kisten zu füllen. Jedes Ding kam wieder an seinen Ort darin, es war ja noch nicht lange her, seit die ganze Verpackung zum erstenmal stattgefunden hatte. Als das erste Morgenlicht den Himmel über dem dunkeln Pisoc rötete, hatte Dori ihre Arbeit vollendet, nur die letzten kleinen Dinge, die vorweg noch gebraucht werden mußten, waren noch zu sehen.
Als Dorothea früher als gewöhnlich in die Stube trat, um zur Zeit an die große Unternehmung zu kommen, schaute sie voller Erstaunen um sich. »Was bedeutet das, Dori? wo ist denn alles hingekommen, das hier in allen Schubladen lag?« fragte sie endlich in ängstlicher Weise.
»Das ist alles in die Koffer hineingekommen und bedeutet unsere Abreise, Mutter«, war Doris fröhliche Antwort. »Es ist alles verpackt, du hast nur deinen Kaffee zu trinken, der ist auch bereit und nachher gehen wir gleich und nehmen Abschied von der Nonna und den Basen.«
Nun stieg der große Schrecken plötzlich wieder vor Dorothea auf, aber Dori ließ ihr keine Zeit, sich davon umwerfen zu lassen. Sie begann zu schildern, wie die verschiedenen Dinge gepackt seien, was die Gedanken der Mutter gleich in hohem Grade in Anspruch nahm, und sobald sie ihren Kaffee getrunken und sich vom Tisch erhoben hatte, um noch einen prüfenden Blick auf die nächtliche Verpackung zu werfen, erfaßte Dori den Arm der Mutter und sagte überzeugend: »Nun ist das allerbeste, wir gehen gleich zur Nonna, dann haben wir alles Schwere hinter uns und du wirst sehen, wie du dich am Kommenden freuen wirst.«
Dorothea ließ sich unwillkürlich mit fortziehen, und ehe sie sich recht besann, stand sie schon mit Dori an der Tür der Nonna und trat ein.
Ohne Zögern begann Dori in fließender Weise zu erzählen, wie sich ihr unerwartet eine Aufgabe geboten habe, die ihre baldige Rückkehr in die alte Heimat erfordere, und wie schon alles zu der Reise vorbereitet sei. Die Mutter habe freundlich eingewilligt, mitzukommen, denn ohne sie könnte die Sache nicht ausgeführt werden.
Die Nonna hörte schweigend zu, auch als Dori zu Ende war, saß sie noch schweigend da, sie schien gar nicht reden zu wollen. Endlich sagte sie langsam: »Wo kein Rat gewünscht wird, ist keiner zu geben. Anständig wird es sein, die Verwandten in Kenntnis zu setzen, daß man ein Haus verläßt, das sie zu übernehmen haben, wenn