Was soll denn aus ihr werden? - Teil 31
die erzürnte Pflegerin aus. »Der kleine, boshafte Krüppel –«.
Dori ergriff den Wagen und rollte ihn so weit weg, daß man von den weiteren Worten nichts mehr hören konnte. Dem aufgeregten Jungen liefen jetzt die Tränen über die bleichen Wangen herab.
»Ja, ich weiß es schon«, schluchzte er jetzt auf, »kein Mensch hat mich lieb. Karl und Max gehören zum Papa, und ich gehöre zu gar niemand.«
Dori beugte sich zu ihm nieder und umfaßte ihn: »Du armer Kleiner!« sagte sie zärtlich, »sieh, ich habe es wie du, ich gehöre auch zu niemand.«
Jetzt schlang der Junge seine beiden Arme um ihren Hals. »Gehörst du auch zu niemand? So will ich dir etwas sagen.« Und er zog sie noch ein wenig näher zu sich nieder und sagte ihr ins Ohr: »So komm zu mir, dann wollen wir die böse Lorette fortjagen.«
In diesem Augenblick kam die Pflegerin Lorette rasch dahergegangen und trat an den Wagen heran. »So hast du jemand gefunden, der dich umher führte, Willi? Ich danke Ihnen«, sagte sie dann, mit ausgesucht freundlicher Stimme sich zu Dori wendend, und rollte schnell den Wagen davon.
Dori ging zu der Stelle zurück, wo Melchior arbeitete. Sie wollte gern hören, wer der arme Junge sei, und was Melchior von ihm und der Mutter wisse, die mit hier war, ob er diese kenne.
Melchior wußte nichts weiter, als daß die Dame im Kurhaus wohnte, daß die junge Dienerin täglich viele Stunden lang den kranken Jungen im Garten umherfahre, und nur dann sich dem Gärtner nahe und ihm ihre Mitteilungen mache, wenn sie keine erwünschtere Gesellschaft im Garten finde.
»Der arme Kleine, er muß doch eine sonderbare Mutter haben!« sagte Dori noch ganz erfüllt von dem Eindruck, den ihr der kleine Leidende gemacht hatte.
»Das habe ich auch schon gedacht«, entgegnete Melchior. »Und etwas anderes finde ich auch noch sonderbar, Dori. Warum sitzest du denn nun trübselig unten im Kellerloch und weißt doch, daß oben hell und warm die Sonne scheint und Freude in die Herzen bringen kann?«
Dori erinnerte sich gleich des Gesprächs von damals wieder, da Melchior diesen Vergleich angewandt hatte. Einen Augenblick schwieg sie stille, dann sagte sie kleinlaut: »Ja, Melchior, wenn man es auch weiß, daß oben die Sonne ist, die fröhlich macht, wenn man aber unten im Kellerloch liegt und hat keine Leiter, hinauf zu steigen, wie kommt man hinauf?«
»Man hat da unten Zeit, ein wenig in sich zu gehen, und dann erinnert man sich, daß man einmal gewußt hat, ein barmherziger Helfer würde uns einen rettenden Arm entgegen halten, wenn wir die Hände bittend danach ausstreckten.«
Augenblicklich stiegen in Doris Herzen die Worte auf, die ihr Vater einmal in seinen letzten Tagen ausgesprochen und die ihr einen tiefen Eindruck gemacht hatten. Es war ganz dasselbe, was Melchior hier sagte und wie die Großmutter vom Beten gesprochen hatte. Und das Lied klang wieder an ihr Ohr, das sie von dem Fräulein kennen gelernt und dem Vater noch gesungen hatte, es war dasselbe Flehen: »Nimm meine Hand«. »Ja, wenn man doch so zu einem Vater um Hilfe rufen dürfte! stieg es verlangend in ihrem Herzen auf. Sie hatte nie so gebetet. Sie hatte immer einen Spruch oder einen Liedervers gesprochen, bevor sie einschlief, das war sie gewohnt, das mußte man tun als letztes Tagesgeschäft. Aber in diesem Augenblick kam ihr das Wort, das sie in früherer Zeit so oft gesungen, ganz neu vor, wie ein Gebet, ganz besonders für sie gemacht und für alle diejenigen, die wie sie so weit unten in der Traurigkeit lagen und oben die Sonne in Licht und Freude schimmern sahen und sie nicht mehr erreichen konnten, das flehende Wort: »Nimm meine Hand!«
»Du mußt lang nachsinnen über mein Wort. Kommt es dir so fremd vor, Dori?« fragte Melchior. »Weißt du, was der barmherzige Helfer uns verkündigt hat? Daß wir sagen dürfen: Unser Vater, der du bist im Himmel! Weißt du, was ein Vater ist, und wie man bei einem Vater Hilfe holen kann?«
Jetzt flammten Doris Augen auf: »Ja, gewiß weiß ich, was ein Vater ist, das weiß ich wohl!« rief sie aus. »Wenn mein Vater noch lebte, wüßte ich wohl, wo Hilfe holen, dann dürften sie mir nicht sagen, ich sei ein unnützes Geschöpf, ja, dann wüßte ich wohl, wo mich hinwenden, und wo Schutz und Hilfe zu finden.« Vor Erregung stürzten Dori die Tränen aus den Augen.
Melchior schnitt an seinen Gesträuchern herum, bis Dori sich wieder gefaßt hatte, dann sagte er: »Wer so gut weiß, wie du, was es ist, einen liebenden Vater zu verlieren, der müßte einer der glücklichsten Menschen sein, wenn er es recht erfassen könnte, daß er einen solchen Vater im Himmel hat, den er nie verlieren kann, wenn er sein Kind sein will. Möchtest du ihm nicht auch angehören als sein Kind?«
»Doch«, erwiderte Dori, »aber ich weiß nicht, wie Ihr es meint, unserm Vater im Himmel gehören doch alle Menschen an als seine Kinder.«
«Ja, ja, Dori, das ist schon recht, als das kommt jedes von uns zur Welt, da hast du schon recht«, bestätigte Melchior. »Wenn es dir aber damals beim Vater in der Heimat nicht gefallen hätte, immer so unter seinen Augen zu stehen und zu tun, was er von dir wollte –«
»O, der Vater hatte mich so lieb, er mochte von mir wollen, was er wollte, so merkte ich, daß er es tat, um mir Gutes zu tun, warum hätte ich nicht unter seinen Augen stehen wollen?« warf Dori rasch dazwischen.
»Ich habe mir’s gedacht, es sei ein solcher Vater gewesen, so kannst du um so besser empfinden, was es ist, einen liebenden Vater im Himmel zu haben, der uns auch nur Gutes tun will«, fuhr Melchior gelassen weiter. »Aber nimm nur einmal den Fall an, es wäre möglich gewesen, du hättest einmal tun wollen, was dir allein gefiel, und du hättest dein eigener Herr und Meister sein wollen, so hättest du ja die Freiheit gehabt, fortzulaufen, weit weg von des Vaters Beaufsichtigung, und deinen eigenen Weg zu gehen. Wenn du dann nach Jahren in eine große Not gekommen wärest, aus der niemand dir helfen konnte und wollte, und du hättest dich an die Liebe deines Vaters erinnert, wie der dir immer half und helfen konnte, hättest du da gleich das frohe Gefühl gehabt, der ist mein Vater, ich bin sein Kind, der wird mir helfen? Hätte dir da nichts dazwischen gelegen, das dich von ihm trennte, so als wärest du ja gar nicht sein Kind geblieben?«
Dori sah sinnend vor sich hin.
Der Gärtner schnitt an seinen Zweigen weiter.
»Ja, ich verstehe Euch, Melchior«, sagte sie nach einer Weile. »Und wenn man so für sich gelaufen ist, wie kommt man dazu, denken zu dürfen, ich bin doch das Kind, und er will mein Vater sein, zu dem ich um Hilfe rufen darf?«
»Der es uns zuerst gesagt hat, daß wir einen liebenden Vater im Himmel haben, der muß es wissen«, entgegnete Melchior. »Geh du seinen Worten nach, es ist jedes wie für dich geschrieben. Du wirst wohl manches davon schon im Unterricht gehört haben; aber wenn du die Worte so mit dem Verlangen liesest, daß sie dir Antwort geben möchten, und sie das tun und in dir zur lebendigen Wahrheit werden, die du an dir selbst erfährst, und sie dich dann zum fröhlichen Kinde machen unter des liebenden Vaters Schutz, dann wirst du sagen: ›Ja, der Alte hatte recht, es ist etwas anderes, im Kellerloch zu sitzen und zu wissen, daß droben die Sonne leuchtet und wärmt, oder in der hellen, warmen Sonne zu stehen und ihr erfreuendes und erwärmendes Licht bis ins Herz hinein zu spüren.‹«
Dori stand schweigend und sinnend da, es mußten noch mehr Fragen in ihr arbeiten. Der Alte schnitt und ordnete weiter von Strauch zu Strauch; Dori folgte ihm immer schweigend nach.
»Melchior, ich möchte so gern noch etwas fragen«, fagte sie endlich ein wenig zaghaft.
»Was ich weiß, sag’ ich dir gern, nur zu mit den Fragen«, ermunterte er.
»Wenn man auch so recht den Weg als Kind zu seinem Vater im Himmel fände, dürfte man dann wohl so fragen und bitten, wie ich es zu meinem Vater hatte tun dürfen?«
»Ja, so mein’ ich’s, Dori«, entgegnete Melchior, »aber nicht so, daß man dann nur so vom Himmel herunter bitten könnte, was man wünscht. Dein Vater, der dich lieb hatte, gab dir auch nur, was dir gut war, was er besser wußte als du, das weißt du ja wohl. Das letzte Wort eines jeden Gebetes sollte immer sein: Was du willst, will auch ich.«
»Aber wenn man gern tun würde, was das Rechte ist, damit man sich nicht einmal furchtbare Vorwürfe zu machen hätte, und wenn man nun recht zu Gott beten könnte, daß er uns den rechten Weg zeige, könnten wir dann wohl eine Antwort erhalten, so daß wir unseres Weges gewiß würden?« fragte Dori gespannt.
»Wenn wir mit der rechten Ergebung in Gottes Willen beten und stille sein und warten können, so führt er uns schon so, daß wir seine Antwort verstehen«, gab der Alte ruhig zurück.
»Aber Melchior, wenn wir nicht warten können, wenn wir eine Antwort haben müssen, gleich jetzt, in wenigen Stunden, wie finden wir sie dann?«
Melchior lächelte. »Du bist pressiert, scheint es mir. Ich kann dir nichts anderes sagen; aber ich meine, einem alten Mann, wie ich bin, kann ein junges Kind, wie du noch eines bist, wohl seine Sache anvertrauen, vielleicht weiß ich dann noch etwas zu sagen.«
»Ja, Ihr habt recht, Melchior, ich will alles heraussagen, so könnt Ihr selbst sehen, wie nötig