Was soll denn aus ihr werden? - Teil 19
Sie lesen gut, so viel kann ich schon beurteilen, und nach allem, was Sie mir erzählt haben, müßte es Ihnen nicht unlieb sein, die Werke, die Ihr Vater liebte, mit mir durchzulesen.«
Dori war so entzückt von dem Vorschlag, daß sie erst vor Freude gar keine Worte fand, sie konnte nicht glauben, daß sie wirklich dem gelehrten Herrn gegen die Wohltat, die er ihr erweisen wollte, etwas zu bieten habe. »Ich kann Ihnen gar nicht genug danken für Ihr Anerbieten, Herr Doktor«, sagte sie endlich in hoher Freude, »ich muß es gleich meiner Mutter mitteilen. O, wenn ich Ihnen doch wirklich etwas dagegen bieten könnte!«
»Das können Sie wirklich«, bezeugte er bestimmt und bot Dori die Hand zur Bestätigung.
Dori kam in großer Erregung zu ihrer Mutter zurück, die in Spannung und Verwunderung ihrer harrte, denn sie hatte ihren Hausbewohner eintreten gesehen und seitdem unaufhörlich gelauscht, ob Dori noch nicht herunterkomme. Sie teilte Doris Freude bei ihrer Mitteilung; wie gönnte sie ihrem Kinde diese so lang ersehnte Vervollkommnung der Kenntnisse, die der Vater so sehr für sein Kind gewünscht, daß er so früh, als es nur anging, mit seiner Anleitung begonnen hatte. Leider war ja sein Unterricht so früh abgebrochen worden.
»Wie würde der Vater sich darüber freuen!« waren Dorotheas erste Worte nach der Mitteilung. Bei jeder Frage, die des Kindes Weg und Leben betraf, war ja immer ihr erster Gedanke: »Was würde der Vater dazu sagen?«
Gleich am folgenden Tage, sobald Dorothea hörte, daß Doktor Strahl von seinen Morgengängen zurückgelehrt war, stieg sie in sein Zimmer hinauf, um ihm für sein Anerbieten zu danken und ihn zu bitten, wenn ihn die Sache ermüden sollte, so möchte er es doch gleich aussprechen, vielleicht stelle er sich vor, Dori sei viel vorgerückter in ihren Kenntnissen, als es wirklich der Fall sei, und diese Unterrichtsstunden könnten ihn mehr angreifen, als er sich denke.
Der Doktor beruhigte Dorothea über ihre Besorgnisse und sagte ihr, die gestrige Unterhaltung mit ihrer Tochter habe ihm so viel Genuß bereitet; daß er sich nun selbst wahrhaft darauf freue, die Lesestunden mit der lebendigen Schülerin zu beginnen, wie auch nachher die Schülerin als Lehrerin kennen zu lernen, von welchem Verkehr er keinen geringen Gewinn für sich selbst erwarte. Er wollte noch von Dorothea wissen, ob das Mädchen Gedichte mache für sich, oder viele solche lese.
Sie antwortete, das erstere glaube sie nicht, sie wenigstens wüßte gar nichts davon. An Gedichten habe schon ihr Mann viel Freude gehabt und Dori viel solche auswendig lernen lassen. Auch habe er soviel mit seinem Kinde gesungen, daß die Tochter eine Menge von schönen Liedern kenne.
Das weltabgeschiedene Leben, das der Maler mit seiner Familie in der schönen Gegend geführt hatte, beschäftigte den Doktor lebhaft, er hatte immer noch eine Frage darüber an Dorothea zu tun, und sie erzählte gern von den schönen, vergangenen Tagen.
Dori sah ihrem neuen Unterricht mit solchem Verlangen entgegen, daß sie seit gestern an nichts anderes mehr dachte und nur immer befürchtete, es könnte noch ein Hindernis aufsteigen und sie ihres Glückes berauben. Als die Mutter so lang von ihrem Besuche nicht wiederkehrte, sah Dori ihre Befürchtung schon verwirklicht und
ganz niedergeschlagen rief sie der endlich eintretenden Mutter entgegen: »Ja, ich kann mir’s schon denken, natürlich, nachdem er nachgedacht, hat er eingesehen, wieviel Zeit er verlieren würde, und nun ist ihm alles verleidet; er will nicht mehr.«
Aber die Mutter konnte Dori beruhigen, daß es nicht so sei, daß der Herr Doktor gleich morgen beginnen und immer die Stunden des Vormittags zu dem gemeinsamen Lesen verwenden wolle, so komme am wenigsten Störung hinein.
Dorothea konnte gar nicht genug sagen, wie freundlich der sonst so einsilbige Mann mit ihr gesprochen und allen ihren einfachen Beschreibungen, die sie ihm von ihrem Leben in Cavandone gemacht, zugehört und immer weiter danach gefragt hätte.
»Hast du auch gesehen, wie viele graue Haare ihm schon zwischen den schwarzen durchschimmern, Mutter?« fragte Dori, »und er kann doch gewiß noch nicht alt sein?«
»Nein, alt ist er wohl noch nicht, aber er kann ja Kummer und Leid gehabt haben, das macht früh grau. Ich habe schon oft gedacht, wenn er so gedankenvoll dahinging, wenn er nur keinen Kummer in sich trägt!« sagte Dorothea teilnehmend.
»Nein, nein, Mutter«, wehrte Dori, »du siehst so bald einen Kummer bei den Menschen, er hat gewiß nur so schrecklich viel zu denken, man kann es sehen, er schaut ja weder rechts noch links, wenn er so vom Haus weg stürmt. Er weiß gewiß alles, was der Vater wußte, und vielleicht noch mehr, glaubst du nicht auch? Er ist auch wohl so alt, wie mein Vater jetzt wäre, nicht?«
Die Mutter meinte, das sei er jedenfalls, vielleicht noch etwas älter. »Dein Vater war 38 Jahre, als er starb. Du warst damals 12 und wirst nun 17«, rechnete Dorothea, denn sie ging immer den Persönlichkeiten nach, um die Jahre zu finden, »also wäre der Vater nun 43 Jahre. So alt mag der Herr Doktor auch sein, mehr aber nicht. Aber wissen kann er ja wohl mehr, als dein Vater wußte, er muß ja soviel studiert haben. Ich weiß nun, daß er Professor der Sprachen ist, er sagte mir’s, darum will er auch so gern Italienisch mit dir lesen. Wie wird er dir alles erklären können! Er kennt natürlich die Sprache ganz anders als du, aber er sagte, er sei nie länger in Italien gewesen und höre darum gern das Italienische vorlesen, so wie es sein muß. Du mußt dir Mühe geben, Dori!«
»O das weiß ich ja schon, Mutter, meinst du, das habe ich nicht gleich im Innersten gefühlt, wie schrecklich nichtig ich zum Vorschein kommen werde?« rief Dori aus; »ich begreife ja durchaus nicht, daß er von mir etwas hören will, aber auf diese Lesestunden freue ich mich doch so sehr, wie ich gar nicht sagen kann.«
Zehntes Kapitel
Dori hatte an die alte Maja geschrieben, um ihr zu erzählen, wie es ihr selbst und der Mutter ergehe, und dann auch zu vernehmen, wie Maja weiter mit den Kindern lebe. Dori wußte wohl, daß die Alte weder lesen noch schreiben konnte, aber Giacomo konnte beides für sie tun, Dori hatte ihn doch nicht vergebens so eifrig unterrichtet. Endlich erschien dann auch eine Antwort von Giacomo. »Der arme Kerl ist nicht frohen Mutes, das kann ich in jeder Zeile lesen, wenn er schon nichts davon schreibt«, sagte Dori, als sie den Brief gelesen hatte und ihn nun der Mutter übergab. Es war ein kurzer Brief; darin stand, die Großmutter sei gesund. Vor kurzer Zeit sei der Vater heimgekommen und sei sehr erstaunt gewesen, daß er alles bei ihnen daheim in so guter Ordnung gefunden hatte, und besonders, daß die Kinder alle drei lesen und schreiben konnten. Die Großmutter habe ihm gesagt, wer das alles getan habe, und der Vater lasse vielfältig Dank sagen dafür. Er habe dann erzählt, in Genf habe er gute Arbeit gefunden und wolle zurückkehren, und weil es so gut stehe mit seinem Erlernten, so wollte er ihn, den Giacomo mitnehmen. Aber er hätte nicht gehen können, um keinen Preis; da habe der Vater den Detto mitgenommen, der gern ging. Er selbst arbeite nun bei den Brüdern, welche die große Gärtnerei in Pallanza hielten; dann setzte er noch kleinlaut hinzu: Verdienen könne er für einmal gar nichts, aber Don sollte doch nur nicht glauben, daß es sei, weil er nicht arbeiten wolle, was er ihr doch versprochen habe, er arbeite gewiß von morgens früh an, immerfort aus allen Kräften, bis zur Nacht, denn zu tun gebe es genug da. Alle untere Arbeit, welche die Gärtner nicht tun wollten, habe er zu verrichten, aber es müsse nun so sein. Die Großmutter sage auch, er solle nur so fortfahren, sie könne sich nun gut durchbringen und ihm auch dann und wann noch zu Kleidern verhelfen. Die Marietta habe so gut stricken und nähen gelernt, daß sie schon für andere Leute etwas arbeiten könne. Dann kam ein Gruß und Giacomos Unterschrift; so kurz, als fürchtete der Schreiber sich vor allen persönlichen Annäherungen und wollte so schnell wie möglich darüber hinwegkommen.
»Wenn der Giacomo nur nichts angestellt hat«, sagte Don plötzlich, als ihre Mutter den Brief gelesen hatte und ihn hinlegte.
»Was fällt dir denn ein, Dori, der verständige, ordentliche Junge, er hat ja doch nie was Krummes gemacht«, entgegnete die Mutter.
»Ich weiß auch gar nicht, was er gemacht haben könnte«, fuhr Dori fort, »es ist nur etwas in dem Brief, sowie wenn Giacomo nicht recht herausreden wollte. Warum soll er auch gar nichts von dem Gärtner bekommen, wenn er so arbeiten muß, wie er sagt? Und was er sagt, ist gewiß so, ich meine nur, er sagt nicht alles heraus, da könnte nicht alles in Ordnung sein.«
»Das ist nichts so Sonderbares, daß er keinen Lohn erhält«, meinte Dorothea, »wenn er Gärtner werden will, so wird er in die Lehre eingetreten sein, da hat keiner Lohn für die erste Zeit.«
»Es ist aber gar nicht so, als sei er in der Lehre, wenn er tun muß, was keiner der Angestellten tun will; oder dann tut der Meister mit ihm, wie es nicht recht ist. Vielleicht kommt’s besser im nächsten Brief.«
Dori war in diesem Augenblick gar nicht geneigt, schweren Gedanken nachzuhängen; so war sie froh, daß die Mutter die Sache anders ansah, und freute sich gern mit darüber, daß es der alten Maja und ja auch den Kindern wohl ging. So steckte Dori schnell ihren Brief ein und sagte: »Ich meine, ich sollte nun die Nonna wieder einmal besuchen.«
Dorothea lächelte. »Ja