Vermisst - Avi Avraham ermittelt - Teil 7
Er kontrollierte sein Handy und sah, dass im Laufe der Nacht kein Anruf eingegangen war. Schwer zu sagen, ob das ein gutes Zeichen war.
Er verzichtete auf seinen morgendlichen Fußmarsch und fuhr mit dem Wagen zum Revier, um den Tag über mobil zu sein, falls es notwendig wäre. Noch vor halb acht betrat er ein beinahe verwaistes Revier. Der wachhabende Kollege sagte, während der Nacht sei keinerlei Hinweis auf den vermissten Jungen eingegangen und es habe ihm auch niemand aufgetragen, am Morgen die Mutter anzurufen, um zu klären, ob ihr Sohn wohlbehalten wieder nach Hause gekommen war.
Die zwei Stunden danach waren schrecklich. Nichts passierte. Er verschickte ein paar E-Mails, füllte ein Formular mit persönlichen Angaben aus, das er in der Personalstelle wegen der Reise nach Brüssel einreichen musste, las die Schlagzeilen auf den Internetseiten von Haaretz und ynet und blätterte in Kintjews Akte, um sich auf die weitere Ermittlung vorzubereiten. Das zu einem kleinen Quadrat gefaltete Blatt, auf dem er am vorigen Abend während der Unterredung mit der Mutter kurze Sätze notiert hatte, lag auf dem Tisch, genau dort, wo er es vergessen hatte.
In den Polizeiprotokollen aus der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag war nicht eine Meldung, die mit Ofer Sharabi in Verbindung gestanden hätte. Ein Brand in einer Versicherungsagentur im Erdgeschoss eines Wohnhauses in der Eilat-Straße. Die Feuerwehrleute hatten den Verdacht geäußert, es könnte sich um Brandstiftung gehandelt haben. In der Givat-HaTachmoshet, nur wenige Meter von seiner eigenen Wohnung entfernt, war ein Motorroller gestohlen worden.
Er könnte sie anrufen, um die Ungewissheit loszuwerden, hatte jedoch das dumpfe Gefühl, das Schicksal besser nicht herauszufordern. Solange sie nicht anrief, hieß das vielleicht, dass alles in Ordnung war, und diese Ordnung durfte nicht durch ein Telefonat gestört werden. Und falls nicht, falls das Unglück schon im Anmarsch war, war es besser zu warten und sein Eintreffen nicht noch zu beschleunigen.
Er verließ sein Büro, um sich einen Kaffee zu machen und auf dem Kopierer hinter dem Schalter des wachhabenden Beamten ein Dokument aus Igor Kintjews Untersuchungsakte zu kopieren. Das Revier brummte bereits vor morgendlicher Geschäftigkeit. Vor dem Schalter standen Einwohner Schlange. Zwei Polizistinnen vom Verkehrsdezernat hatten Wachdienst an der Eingangstür und unterhielten sich.
Und da sah er sie. Sie stand draußen vor dem Eingang, er erfasste sie durch die staubbedeckte Glastür. Sie trug, genau wie er es geahnt hatte, dieselben Kleider, in denen sie am Vorabend bei ihm gewesen war. Die abgewetzte Ledertasche hing an einem dünnen Riemen über ihrer Schulter, und in der Hand hielt sie das Mobiltelefon umklammert, als hätte sie es nicht für einen Augenblick losgelassen, seit sie sich verabschiedet hatten. Der Schmerz, den er verspürte, als er sie sah, war überraschend.
Ofer war nicht wiederaufgetaucht.
Avraham Avraham erstarrte für einen Moment, überließ dann den Kopierer sich selbst und eilte zu ihr. Er war schon im Begriff, seine Hand auf ihre Schulter zu legen, bemerkte aber rechtzeitig, dass sie nicht allein war. Er schaute den Mann an, der neben ihr stand, und fragte leise: »Er ist noch nicht zurück?«
»Ich bin Ofers Onkel«, erwiderte der Mann. »Mein Bruder hat mich heute Morgen um sechs angerufen und mir erzählt, was passiert ist. Sie sind der Beamte, der gestern mit Hannah gesprochen hat?«
Avraham Avraham antwortete ihm nicht. Er wandte sich an Hannah Sharabi und fragte: »Sie haben nichts von ihm gehört?« Doch sie schwieg beharrlich, als würde die Anwesenheit ihres Schwagers sie unsichtbar machen.
»Nichts«, erklärte der Onkel. »Sie haben ihr gesagt, dass die Polizei am Morgen mit der Suche beginnt.«
Er führte die beiden schnell in sein Büro, damit niemand etwas mitbekam.
Bis spät in den Vormittag blieben sie auf dem Revier. Avraham Avraham legte den Telefonhörer so gut wie nicht aus der Hand. Klapperte telefonisch abermals die Aufnahmestationen der Krankenhäuser ab, ging die Meldungen und Ereignisse durch, die sich im Laufe der Nacht angesammelt hatten, rückversicherte sich bei den Notrufzentralen des Distrikts. Alle paar Minuten verließ er das Zimmer und versuchte, Ilana ans Telefon zu bekommen, aber ihr Handy war abgeschaltet, und die Sekretärin des Ermittlungsdezernats sagte, sie nehme an einer Sitzung des nationalen Ermittlerstabs teil. Er wollte sich mit ihr beraten, vor allem jedoch wollte er der Erste sein, der ihr von der Geschichte erzählte.
Die Mutter war noch stiller als bei ihrem Gespräch am Vorabend. Er fragte sie, ob sie etwas trinken wolle, und sie schüttelte verneinend den Kopf. Auch als er ihr direkt Fragen zu Ofer stellte, antwortete der Onkel an ihrer Stelle. Erst als sie gefragt wurden, wie groß Ofer sei, und der Onkel sagte: »Eins fünfundsechzig«, mischte sich die Mutter ein und berichtigte: »Eins siebzig.« Dabei wog er nur ungefähr sechzig Kilo. Mit ihrer Unterstützung formulierte er eine kurze Vermisstenmeldung, holte ihre Erlaubnis ein, diese auf der Homepage der Polizei und auf ihrer Facebook-Seite zu veröffentlichen, und erklärte, dies sei auch der Text, der an die Medien gehen würde. Die Mutter legte einen Frischhaltebeutel, wie sie ihn bestimmt zum Verpacken von Schulbroten benutzte, auf den Tisch und zog sechs Fotografien von Ofer daraus hervor. Dies war der Augenblick, der ihm in der darauffolgenden Nacht, ehe er endlich einschlief, keine Ruhe lassen sollte. Am Morgen hatte er keine Zeit gehabt, die Bilder aufmerksam zu betrachten, und in der Nacht wusste er, dass er einen Fehler gemacht hatte. Hätte er darauf etwas sehen können? Vielleicht ja. Aber auch wenn nicht, sie hatte gewollt, dass er sich Ofer anschaute. Dass er etwas über ihn sagte.
Er fragte, welches die aktuellste Aufnahme sei, und brachte dann alle zum Einscannen. Auf dem Rückweg zu seinem Büro fiel ihm ein, dass Igor Kintjew um ein Uhr aus seiner Arrestzelle in der Haftanstalt Abu Kabir vorgeführt werden sollte, weshalb er dort anrief, um die Vernehmung abzusagen. Sie konnten ihn noch vier Tage lang in Untersuchungshaft behalten, das Verhör musste warten. Was ihn den ganzen Morgen über verwunderte, war, dass niemand ihm Vorwürfe machte. Weder der Onkel noch die Mutter. Sie kritisierten ihn nicht wegen seiner Entscheidung, keine Suchmaßnahmen veranlasst zu haben, und erwähnten mit keinem Wort, dass in der vergangenen Nacht – abgesehen von ihm – nicht ein Polizist im ganzen Land gewusst hatte, dass Ofer vermisst wurde. Das machte jedoch sein Gefühl, etwas versäumt zu haben, nur noch unerträglicher.
Gegen Mittag war es ihm gelungen, ein provisorisches Team zu organisieren, fünf Beamte, darunter eine junge Polizistin aus dem Verkehrsdezernat, die ihre Schicht gerade beendet hatte und sich aus freien Stücken bereiterklärte, Überstunden zu schieben, und ein Ermittler aus der IT-Abteilung, der während der kurzen Fahrt vom Revier zu dem Haus in der Straße des Gewerkschaftsbundes mit ihm im Wagen fuhr.
Beim Einsteigen dachte Avraham Avraham, dass dies sicher die erste Fahrt in einem Streifenwagen für Hannah Sharabi sein musste. Er verfolgte im Rückspiegel, wie sie auf dem Rücksitz den Sicherheitsgurt anlegte.
In den darauffolgenden Stunden hatte er vor allem das Gefühl, dass ihm alles entglitt; dass es ihm nicht gelang, sein aus der Not geborenes Team und die Untersuchung so zu leiten, wie er es sich wünschte. Und dass alles Ilanas Schuld war. Ihre Abwesenheit hinderte ihn daran, logisch zu denken, obgleich ihm nicht klar war, warum. Jedenfalls war es ein Skandal – die leitende Beamtin der Abteilung für Sonderermittlungen verschwand mitten am Tag und war nicht mehr erreichbar.
Trotzdem versuchte er, die Ermittlung systematisch und logisch anzugehen. Das war seine eiserne Regel. Vor allem wollte er sich in aller Ruhe ungestört mit Hannah Sharabi unterhalten, doch das erwies sich als schlicht unmöglich. Die Wohnung glich einem Tollhaus. Seine Leute kamen und gingen, Nachbarn schauten herein, der Onkel hatte noch mehr Verwandte herbeigeschafft und ließ die Mutter nicht für einen Augenblick aus den Augen, er klebte an ihr wie ein Leibwächter. Und obendrein klingelte permanent das Telefon: jeden Augenblick ein anderes Telefon oder einer dieser Standardtöne, weswegen drei oder vier Leute gleichzeitig ihre Mobiltelefone herausholten, weil sie meinten, das Klingeln käme aus ihrer Tasche. Er wies die Verkehrspolizistin an, in der Wohnung für Ordnung zu sorgen und weiteren Personen den Zutritt zu verwehren. Für die Unterredung mit Hannah Sharabi brauchte er Ruhe. Er war überzeugt davon, dass dies der Schlüssel zum Erfolg wäre. Wenn er nur ein paar Minuten mit der Mutter zusammensitzen könnte und ihr eine Frage stellen, die er noch nicht gestellt hatte, ja, von der er noch nicht einmal wusste, wie sie lautete, eine Frage, die sich im Gespräch wie von selbst ergeben und ihr eine Information entlocken würde, von der sie selbst nicht einmal wusste, dass sie darüber verfügte – dann würde sich alles aufklären. Sie würde sich an etwas erinnern, das Ofer gesagt hatte. An einen Freund, den sie vergessen hatte zu erwähnen. Und die Polizei würden wissen, wo sie ihn zu suchen hatte. Schließlich waren nur wenig mehr als vierundzwanzig Stunden verstrichen, seit Ofer verschwunden war. Alles war noch möglich.
Er saß in seinem Wagen, um nachzudenken. Ein Beamter vom Revier rief an und teilte mit, Igor Kintjew sei jetzt zur Vernehmung da. Zum ersten Mal an diesem Tag wurde er laut. Polterte, er habe vor zwei Stunden angerufen und die Sache abgeblasen, sie sollten Kintjew gefälligst zurück in seine Arrestzelle schaffen. Eine Frau, die er zuvor in der Wohnung gesehen hatte, kam zu seinem Wagen und fragte, ob es möglich sei, in der Straße Suchanschläge aufzuhängen. Ruhelos wanderte er danach vor dem Gebäude auf und ab, rauchte und versuchte abermals, Ilana ans Telefon zu bekommen. Rinat Pinto, die zu einer ersten Befragung in Ofers Schule geschickt worden war, kam ohne Ergebnisse zurück. Sie liefen sich