Vermisst - Avi Avraham ermittelt - Teil 46
offenbar während der Fahrt zum Gericht oder auf dem Rückweg geboren worden, und auch am nächsten Tag, als sie jeder für sich in ihren Büros auf dem Revier saßen und warteten, wusste Avraham Avraham noch immer nicht, von wem sie stammte. Ilana war clever genug, Schärfstein den Vortritt zu lassen, um ihm den Einfall zu präsentieren.
»Die Idee ist, Avni ohne Untersuchungshaft zu zermürben. Ihn so lange wie möglich hierzubehalten, vielleicht sogar die Nacht über. Und ihn zu bearbeiten. Er scheint mir keine besonders harte Nuss zu sein. Wenn du möchtest, lösen wir uns ab. Du nimmst ihn dir jetzt vor, und ich bleibe heute Nacht bei ihm. Und dann lassen wir ihn immer wieder allein im Verhörraum austrocknen. Außerdem stellen wir uns gelegentlich draußen vor die Tür und sagen etwas in der Art: ›Ich bin sicher, er ist es, kommt, lasst ihn uns sofort verhaften.‹ Wir wollen ihn in Panik versetzen. Und wenn er weichgekocht ist, deuten wir ihm an, dass er sich selbst und uns helfen kann, falls er mit uns kooperiert.«
Avraham Avraham konnte Schärfstein nicht ganz folgen. »Kooperiert – in welcher Form?«
»Wir signalisieren ihm, wir seien bereit, sein Geständnis zu vergessen, ihm die Briefe zurückzugeben und über alles hinwegzusehen, was er getan hat, mangels öffentlichen Interesses, gesetzt den Fall, er ruft Ofers Eltern an und sagt ihnen, er habe die Briefe geschrieben und er wisse, wo sich Ofer befindet.«
Avraham war fassungslos. Ungläubig starrte er Ilana an.
»Was bringt uns das?«, fragte er.
»Das Gespräch wird aufgezeichnet«, erklärte Schärfstein. »Und wenn die Sharabis uns nicht direkt danach davon in Kenntnis setzen, dass ein anonymer Anrufer ihnen gegenüber behauptet hat, er wisse, wo sich Ofer befindet, brauchen wir nicht zweimal zu überlegen, ob wir sie festnehmen.«
»Die Frage ist nur, wie wir das Avni behutsam beibringen«, sagte Ilana.
Schärfstein lächelte und erwiderte: »Wir finden schon einen Weg. Ich sage dir: Nach einer Nacht auf dem Revier, ohne seine Familie, wird er es mit der Angst bekommen, dass wir ihn verhaften und er seine Frau und seinen Jungen wer weiß wie lange nicht wiedersehen wird. Wenn wir ihm dann anbieten, für eine Gegenleistung nach Hause gehen zu können, wird er alles tun, was wir von ihm verlangen. Außerdem hat er doch selbst gesagt, er wolle bei den Ermittlungen helfen, oder? Wir geben ihm die Gelegenheit dazu.«
Avraham Avraham erinnerte sich an die Panik, die er in Avnis Augen hatte sehen können, als er während der Vernehmung auf seine Frau und seinen Sohn zu sprechen gekommen war. Würde er wirklich zu allem bereit sein? Die meisten Menschen würden sich jedenfalls exakt so verhalten, wie Schärfstein annahm.
»Ist das überhaupt legal?«, fragte er.
»Warum nicht?«, gab Schärfstein zurück. »Außerdem, meinst du, er wird irgendjemandem davon erzählen?«
Ilana beobachtete einen großgewachsenen Mann, der vor Schärfsteins Fenster über den Parkplatz ging.
Eine Polizeibeamtin kam ins Zimmer und erklärte: »Der Typ, den ihr in den Verhörraum gesteckt habt, hämmert die ganze Zeit an die Tür und ruft nach Avi. Was sollen wir mit ihm machen?«
Avraham Avraham saß in seinem Büro und schaltete das Tonbandgerät ein, um abermals Avnis Anruf bei den Eltern abzuhören. Seev Avni sprach jetzt nur zu ihm: »Ich habe Ofers Briefe in den Briefkasten gesteckt. Ich weiß, wo sich Ofer befindet.«
Wo mochte Avni jetzt sein? Er nahm an, dass sich der Lehrer zu Hause verkrochen hatte. Als sie ihn früh am Morgen vom Revier auf seine Mission geschickt hatten, hatte man ihm gesagt, er sei frei und könne tun und lassen, was er wolle, aber das stimmte nicht ganz. Ilana hatte dafür gesorgt, dass sich ein Observierungsteam an seine Fersen heftete, bis der Fall gelöst wäre.
»Die Tatsache, dass die Eltern Informationen verschwiegen haben, besagt noch nicht, dass sie auch wissen, was Ofer passiert ist«, hatte sie erklärt. »Wir behalten den Lehrer im Auge, bis wir es wissen.«
Bis dahin warteten sie einfach ab. Und jeder von ihnen wartete auf andere Weise. Schärfstein hoffte offenbar, die Eltern würden nicht anrufen, um den anonymen Anruf zu melden, womit sich seine Vermutung bestätigt hätte. Avraham Avraham hörte förmlich, wie die Sekunden verstrichen, eine nach der anderen, und spürte, welche Mühe es ihm bereitete, die Augen offen zu halten. Und Ilana? Ihm war nicht klar, worauf sie wartete.
Er musste die Vernehmung der Eltern vorbereiten, für den Fall, dass sie nicht anriefen und am nächsten Tag auf dem Revier erschienen. Dann musste er sie mit der Tatsache konfrontieren, dass sie offensichtlich Informationen verschwiegen hatten. Er stellte eine Liste der Tage zusammen, an denen die Briefe in ihren Kasten geworfen worden waren, und las die Schreiben dann noch einmal, um Passagen auszuwählen, die er im Verlauf der Vernehmung vorlesen würde. Es gab darin Zeilen, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließen. Schon nicht mehr der Eure, Euer Sohn Ofer.
Sie hatten beschlossen, dass die Eltern, sollten sie sich nicht melden, beide am Vormittag aufs Revier gebracht und dann getrennt voneinander verhört werden würden. Schärfstein würde den Vater vernehmen und Avraham die Mutter. Möglich, dass die Sharabis unzählige Gründe hatten, sich nicht umgehend zu melden. Vielleicht waren sie unschlüssig, wen sie kontaktieren sollten? Oder sie warteten auf den nächsten Anruf, da der anonyme Anrufer versprochen hatte, sich erneut zu melden?
Avraham Avraham versicherte sich immer wieder, dass sein Mobiltelefon angeschaltet und der Empfang gut war. Er lauschte angespannt, damit ihm kein Klingeln entging, das aus dem Foyer oder einem der anderen Büros des Reviers zu hören wäre. Jeden Augenblick konnte die Tür aufgehen. Alles konnte sich noch zum Guten wenden.
Er holte die Unterlagen aus der Ermittlungsakte und breitete sie auf seinem Schreibtisch aus. Die Liste der Gegenstände, die sich in Ofers Rucksack befunden hatten, weckte seine Aufmerksamkeit wie schon beim ersten Mal, als er sie vor zwei Tagen in Ilanas Büro gesehen hatte. Er fand auch die Kopie von Ofers Stundenplan und starrte auf die beiden Schriftstücke. Seine Augen brannten vor Müdigkeit. Er verließ den Raum, um eine weitere Zigarette zu rauchen.
Einige Minuten, nachdem er in sein Zimmer zurückgekehrt war, öffnete er sein E-Mail-Postfach, das er seit dem vorigen Morgen nicht mehr kontrolliert hatte. Er hatte mehr als zwanzig neue Mails erhalten, die meisten davon waren Spams.
Und eine Nachricht von Marianka.
Als er zu lesen begann, klingelte das Telefon auf seinem Schreibtisch und ließ ihn hochschrecken. Am Apparat war irgendjemand von der Staatsanwaltschaft, der nach dem Ermittlungsmaterial im Fall Igor Kintjew fragte. Den hatte er vollkommen vergessen.
Marianka schrieb ihm auf Englisch: Avi, Du hattest versprochen, mich über Deine Ermittlung auf dem Laufenden zu halten, aber seit Du zurück bist, hattest Du bestimmt noch keine Zeit. Habt Ihr den Jungen gefunden? Ich denke viel an das, was Du mir von ihm erzählt hast, und auch an Dich. Ich bin sicher, Du findest ihn, und bete mit Dir, dass ihm nichts zugestoßen ist. Meine Gedanken sind bei Euch. Schreib mir, sobald Du kannst. Marianka.
»My thoughts are with you« konnte natürlich auch bedeuten, dass sie nur an ihn dachte, und nicht an ihn und Ofer. Er wusste es nicht.
Aber er nahm sich fest vor, ihr zu antworten.
Ilana rief an, um zu fragen, ob es Neuigkeiten gäbe und wie es ihm gehe. Es gab keine Neuigkeiten, und wie sollte es ihm schon gehen?
»Wenn dieser Fall abgeschlossen ist, nimmst du erst einmal Urlaub«, sagte sie. »Es war wirklich schwer für mich, dich gestern und heute so zu sehen.«
Er sagte nur: »Ja.«
»Du musst nach Hause gehen und schlafen, du bist seit gestern früh auf dem Revier. Weißt du, wie spät es ist?«
Es war mittlerweile halb sechs, früher Abend.
»Es wird nichts mehr passieren, Avi, sie werden nicht anrufen«, meinte Ilana. »Und das heißt, dass du morgen einen langen, anstrengenden Tag haben wirst, auch psychisch. Es wird dir nicht leichtfallen, Ofers Mutter zu vernehmen, also musst du Kraft tanken.«
Er nahm ihren Rat nur an, weil er das immer tat und zu müde war, um noch selbst zu denken. Wieder hielt er auf dem Nachhauseweg vor dem verfluchten Haus in der Straße des Gewerkschaftsbundes, er wurde von ihm angezogen, als wäre es ein Ort der Kindheit, zu dem man zurückkehrt, ohne zu verstehen, warum. In der Wohnung, in der Ofer noch vor wenigen Wochen gelebt hatte, war alles dunkel. Am nächsten Morgen würde er dort mit drei oder vier Polizisten an die Tür klopfen und Rafael und Hannah Sharabi bitten, ihn zu einer dringenden Vernehmung aufs Revier zu begleiten. Weigerten sie sich, würde er den Haftbefehl aus der Tasche ziehen.
Plötzlich entdeckte er Seev Avni, wie er über die Straße ging. Zunächst glaubte Avraham nicht, dass er es wirklich war, dachte, die Müdigkeit würde ihm etwas vorgaukeln. Aber es war Avni, der auf dem Weg zurück zum Haus war, einen Kinderbuggy vor sich herschiebend. Seine Frau ging neben ihm.
Als Avni gegen Morgen ihr Angebot begriffen hatte und zu der Überzeugung gelangt war, dass sie nicht versuchten, ihm irgendeine Straftat anzuhängen, die er nicht begangen hatte, und dass sie den Inhalt des Telefonats nicht gegen ihn verwenden würden, bat er, einige Minuten allein im Verhörraum bleiben zu können, um nachzudenken. Sie warteten auf dem Flur, und als sie ihn gegen die Tür klopfen hörten, traten sie wieder ein.
»Ich werde es tun, obgleich ich mir nicht sicher bin, was hinter Ihrem Angebot steckt.« Avni sah Avraham Avraham unverwandt in die Augen und fügte hinzu: »Mir ist wichtig, dass Sie wissen, ich tue das Ihretwegen, weil ich Ihnen vertraue und weil Sie mich darum bitten. Bis jetzt habe ich Ihre Ermittlungen ja eher behindert, aber wenn Sie mich darum