Vermisst - Avi Avraham ermittelt - Teil 45
starrte auf die Kartonschuber. Überrascht drehte er sich um, als die Tür aufging. Ofers Ermittlungsakte war in keinem der Schuber. Avraham Avraham hatte sie am Vortag mit nach Hause genommen und am Morgen in die Schublade seines Schreibtischs gelegt.
Der Inspektor schaltete das Tonbandgerät ein und bat Avni, sein Geständnis zu wiederholen.
Welche Vermutung hegte er in dieser Phase der Ermittlungen? Er musste sich beherrschen, dass ihn seine Hoffnungen nicht falsche Schlüsse aus den Informationen, über die er verfügte, ziehen ließen. Doch das war unmöglich nach zweieinhalb Wochen fruchtloser Ermittlungsarbeit mit unzähligen kleinen Niederlagen, dem wachsenden Gefühl, dass ihm die Ermittlung entglitt, und der zunehmenden Sorge um Ofer. Er hätte Avni verhören müssen, ohne voreilige Schlüsse zu ziehen, hätte die Ermittlungen in alle Richtungen offenhalten müssen, doch er glaubte, der Anfang eines Fadens, der zu Ofer führte, wäre gefunden und dass er diesen Anfang in der Hand hielt, und dieses Gefühl war stärker als er.
Hatte Avni Ofer geholfen, sich irgendwo zu verstecken? Das war die erste Möglichkeit. Die zweite war grauenerregender. Er betrachtete den Lehrer, der vor ihm saß, taxierte seine Statur, sah ihm in die Augen. Noch erblickte er darin nichts Endgültiges.
Avraham ließ die Vernehmung verschiedene, abrupt wechselnde Richtungen nehmen, um Avni durcheinanderzubringen und seine Selbstbeherrschung zu erschüttern, und er registrierte, dass Avni zusehends seine Sicherheit verlor und im Begriff war, etwas preiszugeben, das er nicht preisgeben wollte. Avraham stand unmittelbar vor einem Triumph, er musste nur noch den Beweis erbringen, dass Schärfstein und Ilana sich geirrt hatten.
Da erzählte Avni ihm von den Briefen.
Es brauchte einige Zeit, bis die Wirkung eintrat.
Schließlich verließ Avraham erneut den Raum und rief Maalul an. Er fragte ihn, ob er etwas von anonymen Briefen gehört habe, die Ofers Eltern erhalten hätten, als Avraham in Brüssel war.
Aber Maalul wusste von nichts: »Warum fragst du? Was für Briefe denn?«
Doch Avraham Avraham hatte bereits aufgelegt und Schärfsteins Zimmer betreten, ohne vorher angeklopft zu haben. Was sich in seinem Bewusstsein auszubreiten begann, war nicht Erkenntnis, sondern Panik. Er fragte Schärfstein: »Haben Ofers Eltern versucht, mit dir in Kontakt zu treten, während ich in Brüssel war?«
Schärfstein verneinte. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, von welchen Briefen Avraham sprach.
Anschließend stand Avraham vor dem Revier und rauchte eine Zigarette. Nach zwei Tagen drückender Hitze war es ein frischer, beinahe kühler Morgen. In einiger Entfernung, am Tor des Technologischen Instituts, sah er eine junge Frau sich umdrehen und weggehen. War das Avnis Frau?
Er war unschlüssig, was er Ilana sagen sollte, aber dann rief er sie an und berichtete.
»Und was schließt du daraus?«, fragte sie, als wollte sie, dass er es für sie ausspräche.
»Dass die Eltern allem Anschein nach die Briefe unterschlagen haben, auch wenn ich nicht weiß, warum. Jedenfalls haben sie uns Informationen vorenthalten.«
»Bist du zu hundert Prozent sicher, dass er ihnen die Briefe in den Kasten gesteckt hat?«
Avraham zögerte, ehe er antwortete: »Ich denke, ja. Warum sollte er so etwas gestehen, wenn es nicht stimmt?«
Eine halbe Stunde später war Ilana bereits auf dem Revier. Sie nahm ihm die Briefe aus der Hand.
Da Avni bei Avraham im Büro saß, drängten sie sich in Schärfsteins von einem Ventilator mehr schlecht als recht belüfteten Raum. Ilana hatte darauf bestanden, ihn an der Entscheidung zu beteiligen.
Auf Ilanas Bitte hin berichtete Avraham kurz von den Begegnungen mit Avni und fasste dann die Gespräche mit ihm zusammen. Die Geständnisse gab er detailliert wieder, schließlich waren sie der Grund, weshalb Avraham Avrahams Verdacht gegen Avni erwacht war. Avraham meinte, der Lehrer mache zwar den Eindruck eines etwas labilen Menschen und seine Aussage müsse auch noch verifiziert werden, dennoch sei er der Ansicht, dass Avni nicht lüge. Sowohl den anonymen Anruf als auch die Briefe habe er schließlich aus eigenem Antrieb gestanden.
Danach sprachen sie über die Eltern.
Schärfstein war gegen Ilanas Vorschlag, sich einen Durchsuchungsbefehl für die Wohnung zu besorgen, um die Briefe zu finden und eventuell weitere Beweise für eine Behinderung der Ermittlungsarbeiten. »Wenn sie die Briefe vernichtet haben, haben wir ein Problem, denn dann wissen sie, dass wir ihre Version anzweifeln, und werden schön vorsichtig sein«, sagte er. »Vielleicht sollten wir die Eltern einfach verhaften und für achtundvierzig Stunden in Gewahrsam nehmen?«
Avraham Avraham wollte protestieren, spürte jedoch, dass er kein Recht hatte, dazu etwas zu sagen.
Ilana war unschlüssig. »Dafür ist es noch zu früh«, meinte sie. »Ich kann nicht die Eltern eines vermissten Jungen einfach so verhaften. Selbst wenn sie die Briefe bekommen haben, wofür wir keinerlei Beweise haben, abgesehen von der Aussage des Lehrers. Und der hat die Polizei immerhin schon einmal mit Falschinformationen versorgt. Ich weiß auch nicht, warum sie wegen der Briefe nicht angerufen haben, vielleicht war es pure Dummheit, mehr nicht.«
Ihre Worte weckten eine Hoffnung in Avraham. »Vielleicht haben sie sie auch gar nicht bekommen? Es kann doch sein, dass jemand die Briefe aus ihrem Kasten genommen hat, oder?«
Er bekam keine Antwort. Auf Schärfsteins Schreibtisch stand ein gerahmtes Foto von seiner Frau und seinen beiden kleinen Kindern. Daneben lagen Seev Avnis Briefe, geschrieben mit schwarzem Kugelschreiber.
»Ich schlage vor, dass wir noch einmal über eine Abhöraktion nachdenken«, sagte Schärfstein. »Wir haben jetzt genügend Beweise, um vom Gericht grünes Licht zu bekommen.«
»Was bringt uns das?«, fragte Ilana.
»Man kann nie wissen«, erwiderte Schärfstein. »Wenn sie die Briefe nicht gemeldet haben, ist es möglich, dass sie noch mehr verheimlichen.«
Ilana sah Avraham an. Erwartete sie, dass er etwas sagte? Dann entschuldigte sie sich und verließ den Raum. Die beiden Männer blieben allein zurück. Zunächst schwieg Schärfstein, obgleich ihm anzumerken war, dass er gerne etwas sagen würde. Endlich fragte er: »Meinst du, er ist vollkommen durchgeknallt?«
Avraham Avraham erwiderte: »Ich komme nicht dahinter. Vor allem begreife ich nicht, warum er die Briefe geschrieben hat, noch dazu in Ofers Namen, und erst recht nicht, warum er hergekommen ist, um mir davon zu erzählen.«
Schärfstein konnte einfach nicht anders: »Kann es sein, dass er sich auch in dich verliebt hat?«
Avraham suchte das Weite, um erneut eine Zigarette zu rauchen.
Ilana kam nach ihm zurück ins Zimmer und hatte ihre Entschlossenheit zurückgewonnen: »Gut, Eyal, ich habe mich entschieden. Wir beide fahren zum Bezirksgericht, wo ich den Abhörantrag einreichen muss. Außerdem werden wir einen Haftbefehl für die Eltern beantragen, ihn aber noch nicht einsetzen. Erst einmal schauen wir, was noch bei der Vernehmung des Lehrers herauskommt. Du redest weiter mit ihm, Avi. Frag ihn, an welchen Tagen genau er die Briefe in den Kasten gesteckt hat und ob er gesehen hat, wie der Vater oder die Mutter sie herausgenommen haben. Und schick Maalul los, er soll einen Blick in den Briefkasten werfen.«
Plötzlich fiel ihm ein, dass Rafael und Hannah Sharabi zu Mittag auf dem Revier erscheinen sollten.
»Sag ihnen ab«, bestimmte Ilana, »ich will sie jetzt nicht hier haben. Wir müssen ihre Vernehmung vorbereiten, und du verhörst zunächst den Lehrer weiter.«
»Aber was sollen wir mit ihm machen?«, fragte er. »Sollen wir ihn festsetzen?«
Ilana schaute erneut zu Schärfstein.
»Meiner Meinung nach, nein. Noch nicht«, sagte Schärfstein. »Er ist auf eigene Veranlassung hergekommen, und solange er nicht gehen möchte, sollten wir ihn nicht festnehmen. Untersuchungshaft bedeutet Rechtsanwalt. Und das ganze Haus würde sofort davon erfahren. Sicher auch die Eltern. Das wäre nicht gerade zweckdienlich, wenn die Sharabis wüssten, dass er verhaftet ist, oder?«
Im Moment sicher nicht.
Seev Avni wartete noch immer in seinem Zimmer.
Das Gespräch mit Rafael und Hannah Sharabi war der schwerste Moment an jenem Tag.
Bei ihnen zu Hause hob niemand ab. Schließlich erreichte er Rafael Sharabi auf seinem Mobiltelefon und sagte irgendetwas von einer Besprechung, die sich in die Länge zöge. Er bat sie, heute nicht aufs Revier zu kommen, und versprach, er würde sich mit ihnen in Verbindung setzen und einen neuen Termin vereinbaren.
Die Stimme des Vaters klang ganz ruhig, als er auf Avrahams Frage antwortete: »Nein, wir haben nichts Neues gehört. Haben Sie schon die Untersuchungsergebnisse von Ofers Tasche?«
Avraham musste an sich halten, um nicht zu explodieren und damit die Ermittlungen endgültig an die Wand zu fahren. Am liebsten hätte er gebrüllt: Wie konnten Sie die Briefe unterschlagen? Und warum, verdammt noch mal, haben Sie das getan? Wovor haben Sie Angst? Warum bringen Sie sich grundlos in Schwierigkeiten? Und wie konnten Sie mir Briefe vorenthalten, die in Ofers Namen geschrieben und in Ihren Briefkasten gesteckt worden sind, auch wenn Sie denken, dass sie in Wahrheit gar nicht von ihm sind?
Aber stattdessen sagte er: »Die Ergebnisse sind noch nicht da. Ich werde Sie informieren, sobald sie eintreffen, was sicher erst morgen der Fall sein wird.«
Er brachte Seev Avni in einen leeren Verhörraum, um sein Büro für sich zu haben, und bat, man möge dem Mann ein Mittagessen bringen. Er selbst aß allein und wartete darauf, dass Schärfstein und Ilana zurückkämen, als könnte er in ihrer Abwesenheit die Vernehmung nicht fortsetzen. Ein einziges Mal betrat er den Verhörraum und saß Avni eine Minute oder zwei schweigend gegenüber.
Avni sprudelte gleich los: »Ich würde Ihnen sehr gern erzählen, warum ich diese Briefe in Ofers Namen geschrieben habe. Wie die Idee entstanden ist und warum ich nicht gedacht habe, dass es so ein schreckliches Vergehen ist. Wären Sie bereit, es sich anzuhören?«
Avraham Avraham verließ den Raum, weil er Avnis Stimme nicht länger ertragen konnte, und vielleicht auch, um dessen Nerven noch weiter zu strapazieren. Noch immer glaubte er, der Lehrer würde einknicken und zugeben, die Briefe niemals in den Kasten gesteckt zu haben.
Am frühen Nachmittag waren Schärfstein und Ilana zurück vom Bezirksgericht, wo sie ohne weiteres die Genehmigung für eine verdeckte Abhörmaßnahme und den Haftbefehl erhalten hatten. Die Idee war