Vermisst - Avi Avraham ermittelt - Teil 39
standen unter ziemlichem Druck, und ich hatte den Eindruck, dass sie sehr gute Arbeit geleistet haben, denn kurz vor meiner Abreise wurde bereits ein Verdächtiger verhaftet, allem Anschein nach der Mörder.«
Ilana bat um Entschuldigung und verließ den Raum, um weiter zu telefonieren. Maalul interessierte sich für den Fall in Brüssel, und Avraham Avraham erzählte ihm, was er wusste. Zu Beginn der Woche, kurz nachdem die Leiche von Johanna Getz auf einem Kartoffelacker am Rand von Brüssel gefunden worden war, hatte man ihren Lebensgefährten festgenommen und die Verhaftung über die Medien verbreitet. Das Ganze war eine Finte gewesen, denn ihr Lebensgefährte hatte ein wasserdichtes Alibi. An dem Wochenende, an dem sie verschwunden war, hatte er sich bei seiner Familie in Antwerpen aufgehalten. Die Polizei hoffte, die Verhaftung und die Berichterstattung in den Medien würden den tatsächlichen Mörder unvorsichtig werden lassen. Zwei Tage danach war der Lebensgefährte freigekommen und an seiner Stelle der Eigentümer von Johanna Getz’ Wohnung verhaftet worden. Er wohnte im selben Haus im dritten Stock. Ein merkwürdiger Typ, pensionierter Schulleiter mit brennenden Augen und wilder Albert-Einstein-Frisur.
Ohne Französisch zu verstehen, verstand Avraham beim Blättern durch die Zeitungen, dass ehemalige Schüler und Kollegen offenbar bereitwillig pikante Informationen über die Schrulligkeit des Schulleiters und dessen sonderbare Angewohnheiten beigesteuert hatten. Avraham wusste nicht, ob auch diese Verhaftung nur ein Ermittlungstrick war. In den Besprechungsräumen der Division Centrale hatte er Dutzende, aus unterschiedlichen Zeiträumen datierende Grundrisse des um die Jahrhundertwende erbauten Hauses gesehen und nahm an, die Polizei suchte nach Nebeneingängen, vielleicht sogar nach Ausgängen, die im Laufe der Jahre zugemauert worden waren, da man wohl davon ausging, dass der oder die Angreifer Johanna nicht durch den Haupteingang aus dem Haus geschafft hatten. Der Schulleiter saß bis Samstagmorgen in Untersuchungshaft, dann wurde ein anderer Nachbar verhaftet, ein Holländer, Mitte dreißig und arbeitslos, der einige Jahre zuvor nach Brüssel übergesiedelt war. Er war allem Anschein nach der Mörder. Jean-Marc hatte ihn bei ihrem letzten Telefonat als Psychopathen bezeichnet.
Ilana kam entspannt und lächelnd ins Zimmer zurück. Sie fragte: »Was, habe ich die Geschichte etwa verpasst?«
Und Maalul wollte wissen: »Aber wie sind sie auf ihn gekommen?«
»Die Wahrheit ist, ich weiß es nicht«, gab Avraham zu. »Möglicherweise über ihren Strumpf.«
»Welchen Strumpf?«
»An der Leiche fehlte ein Strumpf. Ein rosafarbener Wollstrumpf. Sie waren geradezu besessen von dieser Tatsache, und ich habe nicht verstanden, warum. Offenbar waren sie überzeugt, der Strumpf würde sie zu dem Mörder führen. Wer weiß, vielleicht ist ja genau das passiert. Ich rufe heute Abend Jean-Marc an, um ihm für seine Gastfreundschaft zu danken, und werde ihn fragen, ob der Strumpf gefunden wurde.«
Sie kehrten zu ihrem Fall zurück. Bevor Ilana die Besprechung beendete, erklärte sie: »Vor allem möchte ich euch alle bitten, euch wieder zu beruhigen. Wie ich schon sagte, es geht hier nicht um persönliche Kritik, und ich möchte nicht, dass irgendwelche Unstimmigkeiten die Ermittlungen belastet. In Ordnung? Wir ziehen keine voreiligen Schlüsse und geben keine Ermittlungsrichtung auf. Wir warten die vollständigen Ergebnisse der Laboruntersuchung ab und prüfen dann, ob sie etwas ergibt, womit sich arbeiten lässt. Außerdem suchen wir weiter nach Zeugen, die gesehen haben, wie der Rucksack in den Container gekommen ist. Eyal, ich möchte, dass du das übernimmst. Avi, du lädst Ofers Eltern zu einer Befragung vor und versuchst, mit Fingerspitzengefühl ihre Versionen abzuklopfen, um zu sehen, ob dir etwas widersprüchlich vorkommt oder nach Verschleierung oder Behinderung der Ermittlungen riecht. Aber zum jetzigen Zeitpunkt möchte ich nicht, dass die Eltern das Gefühl bekommen, wir zweifelten ihre Aussagen an. Geh behutsam vor. Mir ist wichtig, dass du diese weiteren Befragungen durchführst. Ist das für dich in Ordnung? Wenn du möchtest, bleib noch ein paar Minuten, und wir gehen gemeinsam die Vernehmungsstrategie durch. Gibt es noch weitere Richtungen, die wir überprüfen möchten?«
Schärfstein und Maalul schwiegen. Als sie sich schon von ihren Stühlen erheben wollten, sagte Avraham Avraham plötzlich: »Ja. Ich denke, wir sind mit dem Nachbarn noch nicht fertig, dem Englischlehrer. Diesem Seev Avni. Er hat mich am Donnerstag in Brüssel angerufen und kurzfristig um ein Treffen gebeten. Er klang, als stünde er ziemlich unter Druck. Er wollte mir etwas mitteilen, das nichts mit der Ermittlung zu tun hat, bestand aber darauf, nur mit mir zu sprechen. Ich hatte den Eindruck, er will über etwas reden, das er bisher verschwiegen hat.«
»Ich denke auch, das ist eine Richtung, in die sich ein Vorstoß lohnen könnte«, stimmte Maalul zu.
»Ich habe so ein Bauchgefühl, dass er stärker in diese Geschichte verwickelt ist, als er erzählt hat«, bekräftigte Avraham. »Wenn wir über eine Abhöraktion nachdenken, würde ich es vorziehen, ihn anzuzapfen.«
»Dann rede mit ihm, wo ist das Problem? Wann kommt er zur Vernehmung?«, fragte Ilana.
»Ich muss ihn noch anrufen. Am besten bestelle ich ihn gleich für heute aufs Revier, oder zumindest für morgen früh.«
Ilana wirkte wie verwandelt, und Avraham Avraham fragte sich, mit wem sie wohl telefoniert haben mochte.
»Ich sehe keinen Widerspruch darin, sowohl die Eltern wie auch den Nachbarn noch einmal zu vernehmen«, erklärte sie. »Und wir haben ausreichend Abhörausrüstungen, um jeden anzuzapfen, der angezapft werden muss.«
Auf dem Nachhauseweg hielt Avraham beim Revier und holte die Ermittlungsakte aus seinem Büro. Dann fuhr er weiter zur Straße des Gewerkschaftsbundes und parkte in einigem Abstand zum Haus der Sharabis auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er blieb im Wagen sitzen und wartete.
Ilana hatte sich bemüht, die Besprechung in versöhnlichem Ton zu Ende zu bringen, dennoch wollte er nur noch nach Hause, ein, zwei Stunden schlafen und verdauen, oder vielleicht sogar vergessen, was passiert war, um dann die weitere Vorgehensweise neu zu überdenken. Auf ihr Angebot, gemeinsam zu Mittag zu essen, obwohl es eigentlich noch zu früh dafür war, verzichtete er und blieb, nachdem Maalul und Schärfstein gegangen waren, nur noch etwa zehn Minuten in ihrem Büro.
»Das war wirklich nicht fair, was du eben gemacht hast«, sagte Ilana, nachdem die beiden anderen den Raum verlassen hatten.
Avraham beschloss, nicht zu antworten.
»Du hast versucht, Eyal bloßzustellen, und das hat er nicht verdient. Er arbeitet mit dir in einem Team, nicht gegen dich. Und ich möchte, dass du weißt, der Vorschlag, unsere Vermutungen neu zu überprüfen, kommt von mir, nicht von ihm.«
Er verstand nicht, warum er sich jetzt besser fühlen sollte. Und er verstand auch nicht, warum Ilana, wenn tatsächlich sie die Initiative ergriffen hatte, mit den taktischen Veränderungen nicht bis zu seiner Rückkehr gewartet hatte. Aber es hatte keinen Sinn, danach zu fragen, oder vielleicht hatte er momentan auch einfach nicht die Kraft dazu. Hauptsache, die Vernehmung der Eltern blieb ihm überlassen.
Die Sonnenblenden an dem Balkon der Sharabis standen offen. Aber es war niemand zu sehen. Er hätte hinaufgehen und bei ihnen klopfen können, aber er war zu müde und zu aufgewühlt und wusste noch nicht, wie er ihre Versionen »mit Fingerspitzengefühl abklopfen« sollte.
Die Klimaanlage kühlte den Innenraum des Streifenwagens kräftig herunter, aber das Lenkrad glühte in der Sonne. Fahrer, die ihn passierten, bremsten ab, weil sie dachten, in seinem Wagen wäre eine Radarkamera installiert. Ein Briefträger mit der sperrigen roten Posttasche über der Schulter kam über die Straße und ging von einem Haus zum nächsten. Er erinnerte sich nicht daran, ob der Balkon von Seev Avni ebenfalls zur Straße hinausging.
Neben ihm hielt ein Wagen. Der Fahrer bedeutete ihm, die Seitenscheibe herunterzulassen, und fragte nach dem Weg nach Asor. Genau in dem Augenblick sah er Hannah Sharabi. Sie trat aus dem Haus, wandte sich nach links und ging langsam die Straße hinunter. In der Hand hielt sie ein Portemonnaie. Sie trug graue Jogginghosen, ein gelbes T-Shirt und an den Füßen Flipflops. Sie betrat den Laden, in dem Ofer jeden Morgen eingekauft hatte. Kurz darauf kam sie mit zwei rosafarbenen Tragtaschen wieder heraus und ging zurück zum Haus. Das Portemonnaie lag offenbar in einer von ihnen bei den Einkäufen.
Die Aushänge mit dem Foto von Ofer hingen noch immer an den Strommasten entlang der Straße, doch Hannah Sharabi beachtete sie nicht. Avraham beobachtete sie, bis sie die Haustür öffnete und das Treppenhaus betrat. Dann fuhr er nach Hause.
Er verschlief den ganzen Nachmittag und wachte erst auf, als es mit einem Mal dunkel geworden war. Am Abend rief er Rafael und Hannah Sharabi an und teilte ihnen mit, dass er aus Brüssel zurück war. Er bat sie, am nächsten Tag gegen Mittag noch einmal aufs Revier zu kommen, um sie über den gegenwärtigen Stand der Ermittlungen in Kenntnis setzen zu können und gemeinsam mit ihnen die Liste der Gegenstände durchzugehen, die sich in Ofers Rucksack befunden hatten.
Danach rief er Seev Avni auf dessen Mobiltelefon an. Seine Frau meldete sich, und er meinte, ein Zittern in ihrer Stimme zu hören, als sie, nachdem er seinen Namen genannt hatte, nach ihrem Mann rief. Dann vernahm er Avnis Stimme und bat ihn, sich am nächsten Morgen um acht zu einem Treffen in seinem Büro einzufinden. Dabei dachte er, dass er vielleicht auch die Frau zu einer weiteren Befragung einbestellen sollte.
Sein Computer stand auf einem weißen Regal in dem kleinen Raum, der ihm als Arbeitszimmer und Abstellkammer diente. Er setzte sich davor und entnahm der Ermittlungsakte die Zusammenfassungen der Zeugenaussagen und seine eigenen Notizen. Unter den Papieren fand er die Mitschrift des Gesprächs, das Eliyahu Maalul mit Litel Aharon geführt hatte, dem Mädchen, mit dem Ofer am Freitag ins Kino hätte gehen sollen, und auch die Kopie des Stundenplans, den er selbst an ebenjenem Freitag aus Ofers Zimmer mitgenommen hatte, als er bei der Mutter gewesen war.
Er wollte Marianka schreiben, wusste aber nicht, was. Sein Vater rief