Vermisst - Avi Avraham ermittelt - Teil 36
einfach an das Präsidium wenden, aber Seev bestand darauf, nur mit ihm zu sprechen. Avraham klang irgendwie anders als sonst, abwesend und zugleich aufgewühlt.
»Ich erwarte Ihren Anruf am Sonntag. Sie können mir dann ja sagen, wann es Ihnen am besten passt, aufs Revier zu kommen«, sagte der Inspektor und beendete das Gespräch.
Michal fuhr mit Ilay zu ihren Eltern, um in Ruhe nachzudenken. Seev blieb allein in der Wohnung zurück. Es wurde Abend. Er wagte nicht, auf den Balkon zu treten, von dem aus die Straße zu überblicken war. Passanten, die den Kopf hoben und zu den Fenstern hochschauten, hätten ihn sehen können. Erst da begriff er, dass im Prinzip alles zu Ende war. All das, was sich zwei Wochen zuvor eröffnet hatte, war nun versperrt. Fenster und Türen, der andere Mensch in ihm, die Geburt, Michael Rosen, das Schreiben. Schreiben zu können, worauf er jahrelang gewartet hatte. Michals aufgebrachte Reaktion und das Gespräch mit ihr hatten die Idee, die ihn so fasziniert hatte, zu etwas Unerhörtem und Beängstigendem gemacht. Zu dem Workshop würde er nicht mehr gehen. Würde keine Briefe mehr schreiben, nicht einmal an sich selbst. Das schwarze Heft lag auf dem Schreibtisch, geschlossen, abstoßend wie eine von Aussatz befallene Hand. Er schlug es nicht auf und las den ersten Absatz des vierten Briefes nicht noch einmal, der mit dem Satz begann: Papa, Mama, lest Ihr auch weiterhin die Worte, die ich Euch von dem Ort, an dem ich mich befinde, schicke?
Seev wollte raus aus der Wohnung und stundenlang durch die Dunkelheit wandern, seine Beine und die Angst müde machen, doch das war unmöglich. In seiner Vorstellung fixierten ihn aus jedem Winkel und von jedem Balkon aus kalte Augen. Alle wussten schon Bescheid. Aber was zum Teufel konnten sie wissen?! Der Gedanke, am nächsten Tag wie üblich zur Schule zu gehen und dort seine Schüler und die Kollegen zu treffen, war unerträglich, und er beschloss, am Morgen erneut im Sekretariat anzurufen und sich krankzumelden. Ohnehin würde man ihn bald entlassen.
Dabei gab es eigentlich keinen Grund, nichts hatte sich verändert auf der Welt, dennoch ließ ihn das kleinste Geräusch hochschrecken, als heulte in seinem Kopf eine Polizeisirene los. Er versuchte sich zu beruhigen. Trank einen großen Becher ungesüßten Kamillentee. Dann wurde ihm übel, und er wollte sich übergeben. Er sagte sich, Avraham würde ihn verstehen. Er hatte keinen Zweifel, dass der Inspektor ihn harsch kritisieren würde, aber festnehmen würde er ihn nicht. Dessen war er sicher, obgleich er sich lediglich auf das gegenseitige Verständnis stützen konnte, das seiner Meinung nach zwischen ihnen geherrscht hatte. Und wie konnte es sein, dass sich Avraham mitten in der laufenden Ermittlung im Ausland aufhielt? Stand seine Reise etwa im Zusammenhang mit der Suche nach Ofer? Konnte es sein, dass es Ofer gelungen war, aus Israel auszureisen?
Seev dachte erneut an Michael Rosen. An seine geröteten Augen und den strengen Geruch seiner Haut. An seine Beine, die nur mit Mühe Platz im Fußraum des kleinen Wagens fanden. Er bedauerte, dass er ihn nicht wiedersehen würde. Erinnerte sich nicht, ob er ihm seine Telefonnummer gegeben oder seine Adresse im Sekretariat des Ariela-Hauses hinterlegt hatte, weshalb er nicht wusste, ob Michael von sich aus Kontakt zu ihm aufnehmen konnte, um herauszufinden, warum er mitten im Workshop verschwunden war.
Der Gedanke, Menschen, die er kannte, vor allem entfernte Verwandte oder alte Bekannte aus dem Studium, würden in der Zeitung lesen, was passiert war, machte ihn starr vor Schreck. Würde auch Michael davon lesen? Er wollte aufhören nachzudenken. Verlöre er seinen Job, wäre das nur gut.
Er hatte Michal vorgeschlagen, er würde die Wohnung verlassen und in ein Hotel ziehen, bis er mit Avraham gesprochen haben würde und sich die Dinge geklärt hätten. »Vermutlich kommst du hier ohne mich eher zur Ruhe«, hatte er gesagt und es auch so gemeint. Doch stattdessen war sie gegangen, und er fragte sich, ob sie noch einmal zurückkommen würde.
Er schlief auf dem Sofa im Wohnzimmer ein, bei laufendem Fernseher, und hatte in der Nacht Träume, an die er sich, anders als sonst, am Morgen noch vage erinnerte.
Als er hörte, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde, lag er noch immer auf dem Sofa, unter einer bunten, dünnen Decke, die er sich mitten in der Nacht aus dem Bett seines Sohnes geholt hatte. Seine Glieder waren steif. Ganz allmählich drangen die Ereignisse von gestern wieder in sein Bewusstsein.
Michal kam herein. Allein. Ilay war bei ihren Eltern geblieben. Sie setzte sich neben ihn.
»Es tut mir leid, dass ich gegangen bin«, sagte sie. »Wie hast du geschlafen?«
»Ganz gut. Ich denke ziemlich viel nach. Wie viel Uhr ist es? Wie habt ihr geschlafen?«
»Ich möchte mit dir reden, möchte, dass du mir erklärst, warum du das getan hast, weil ich einfach nicht begreifen kann, was passiert ist.«
»Ich auch nicht«, erwiderte er und brach in Tränen aus.
»Weine nicht, wir stehen das durch«, meinte Michal tröstend.
Doch er antwortete: »Nein, ich heule vor Freude. Ich dachte nicht, dass du noch mal zurückkommst.«
Sie strich ihm über sein blondes Haar.
Danach öffnete sie die Sonnenblenden auf dem Balkon, um die Wohnung zu lüften, und goss zwei Becher Kaffee auf. Legte eine Schachtel Zigaretten neben die Kaffeebecher auf den Wohnzimmertisch und sagte: »Ich glaube, wir beide sollten mal wieder eine rauchen.«
Wie in einer Zeitmaschine reisten sie Jahre zurück. Achtundvierzig Stunden verließen sie die Wohnung nicht, rührten sich kaum vom Sofa, als wären sie ein ganzes Wochenende lang wieder Studenten, ein Wochenende, das sie fast ohne Schlaf verbrachten und in dessen Verlauf sie all die kommenden Jahre von neuem und anders leben konnten, um zu Wochenbeginn in eine Welt zu treten, in der keine Briefe geschrieben worden waren, eine Welt, in der sie Ofer nicht kannten und keinerlei Notwendigkeit bestand, reumütig auf einem Polizeirevier zu erscheinen. Vielleicht schliefen sie nicht, weil sie wach sein wollten, wenn das geschähe, was sie beide befürchteten.
Sie sprachen über das letzte anstrengende Jahr mit Ilay, über ihre Karrieren, über den Umzug nach Cholon. Sie entfernten sich voneinander, kamen einander näher und gingen erneut auf Distanz. Zuweilen meinte Seev, Michal würde ihm verzeihen, und dann wieder drängten sich der Schock über die Entdeckung und das Unverständnis zwischen sie wie im ersten Augenblick.
»Als ich die Briefe gelesen habe, habe ich sofort verstanden, dass in ihnen mehr über dich als über Ofer steht«, sagte Michal. »Und dann habe ich gedacht, du hättest sie eigentlich an mich schicken müssen. Dass ich die eigentliche Adressatin bin. Du hättest anonyme Briefe mit meinem Namen darauf in unseren Briefkasten stecken sollen.«
»Du? Wieso du denn?«, entgegnete er entgeistert. »Außerdem stimmt es nicht, dass sie mehr von mir als von Ofer handeln. Kann sein, dass sie uns beide meinen. Und außerdem sind meine Eltern ja schon tot, ich kann ihnen keine Briefe mehr schicken.«
»Aber begreifst du, dass du seinen Eltern die Briefe niemals hättest zukommen lassen dürfen, auch wenn du sie unbedingt schreiben wolltest? Siehst du den Unterschied zwischen dem Schreiben der Briefe und dem schrecklichen Fehler, den du begangen hast, als du sie ihnen in den Briefkasten geworfen hast?«
»Ich weiß nicht, ob ich im Augenblick noch irgendwelche Unterschiede sehe. Ich weiß nur, dass mir das, was ich getan habe, Angst macht. Und deine Reaktion darauf auch. Die Polizei interessiert mich nicht. Nur du.«
Er sagte das nicht, um es ihr leichter zu machen. Sondern weil er sich in jenem Augenblick tatsächlich Vergebung von ihr erhoffte, auch wenn er immer noch nicht ganz begriffen hatte, worin die Sünde bestand, die verziehen werden sollte.
»Ich bin in Ordnung, wie du siehst. Vergiss meine Reaktion. Sie können weder mir noch Ilay etwas anhaben. Ich habe nur deinetwegen Angst und versuche zu verstehen, was mit dir passiert ist, Seevi.«
Daraufhin erzählte er ihr alles. Fast alles und beinahe von Anfang an. Von der Erkenntnis, dass dies die Geschichte war, auf die er gewartet hatte, und von dem Moment, in dem er gewusst hatte, dass der Brief die richtige Form für die Geschichte war. Von dem Telefonanruf bei der Polizei erzählte er ihr nichts.
An diesem Wochenende, in einem der weniger guten Momente ihres langen Gespräches, fragte ihn Michal abermals: »Und du bist sicher, dass zwischen dir und Ofer nichts gewesen ist?«
»Genug, es reicht«, entgegnete er. »Ich bin nicht bereit, mir das anzuhören. Du stellst mir diese Frage wie in einem Verhör. Hast du deshalb Ilay bei deinen Eltern gelassen?«
»Wie bitte? Ich wollte einfach nicht, dass er hier ist!«
»Warum?«
»Vielleicht, weil ich Angst habe, dass noch dieses Wochenende die Polizei hier erscheint? Und vielleicht, weil ich jetzt nicht Mutter sein kann? Ich kann einfach nicht daran denken. Offenbar musste ich einfach mit dir allein sein.«
Ihre Worte waren für ihn unfassbar. »Danke, dass du zurückgekommen bist«, sagte er leise und überließ seinen Körper ihren Armen.
»Ich konnte mir dich hier nicht allein vorstellen. Und ich hatte Angst, du könntest irgendetwas Dummes tun.«
»Ich werde nie wieder etwas tun, ohne dich vorher um Rat zu fragen. Versprochen.« Er lächelte.
Am Montag gingen sie gemeinsam zur Polizei.
11
Die Ermittlung, zu der er zurückkehrte, war eine vollkommen andere geworden. Außerdem würde der Fall bis zu seinem Abschluss nun nicht mehr der seine sein, obgleich Avraham offiziell weiter dem Ermittlerteam vorstand und auch den Abschlussbericht abzeichnen würde, bevor dieser an die Staatsanwaltschaft ginge. Er würde sogar die Ermittlungsschritte veranlassen, die schließlich zur Aufklärung des Falls führten, die Arbeit an dem Fall selbst aber leitete er nicht mehr, auch wenn ihm nicht klar war, wer jetzt das Steuer in der Hand hatte oder ob es überhaupt jemanden gab.
Am Sonntagmorgen