Vermisst - Avi Avraham ermittelt - Teil 27
Hause, wie man so sagt, besuchen. Söhne und Töchter von Schauspielern, Sängern, Dramatikern und Journalisten. Es liegt im Zentrum von Tel Aviv, neben der Cinematheque, falls Sie wissen, wo das ist. An der Schule gibt es einen Schwerpunkt Kino, einen Schwerpunkt Theater und einen Schwerpunkt Tanz, und die meisten dieser Kinder, nicht alle, sind sich sicher, ihnen gehört die Welt. Sie können Englisch, und nicht nur das, sie können alles besser als ihre Lehrer. Mit vierzehn sind sie bereits Filmregisseure. Andere sind Lyriker und Schriftsteller. Sie gründen Bands und arbeiten an einem Album. Ihre Sicherheit beziehen sie nicht aus sich selbst, sondern aus ihrem Umfeld, von ihren Eltern, der Gesellschaft, die ihnen permanent suggeriert, sie könnten alles machen, wären in allem überragend. Ich sage nicht, dass das schlecht ist, obwohl es sich vielleicht für Sie so anhört. Ich beschreibe nur einen Zustand. Ofer kommt aus einer anderen Welt, ist ein anderes Kind. Verstehen Sie, was ich meine? Man muss ihn sich nur für eine Sekunde anschauen, um zu wissen, dass man einen Jungen vor sich hat, der nicht an sich glaubt, der das Gefühl hat, nichts wert zu sein. Aber er ist sensibel. Hat die verletzliche Seele eines Künstlers.«
Avraham ließ sich immer mehr von seinen Worten vereinnahmen. Genau, wie er es geplant hatte.
»Was meinen Sie mit verletzlich?«, fragte der Inspektor.
Seev fuhr fort in seiner Rede: »Egal, was ich zu ihm gesagt habe, ich konnte sofort sehen, wie es ihn innerlich beeinflusst hat. Wenn ich ihm etwas Nettes gesagt habe, ihm ein Kompliment gemacht habe für einen Text oder eine Grammatikübung, dann strahlte er regelrecht von innen. Äußerlich hat er nicht viel preisgegeben. Und im umgekehrten Fall war es ebenso. Wenn er einen Fehler gemacht hat oder ich etwas an seinen Arbeiten kritisiert habe, hat ihn das innerlich zerstört. Aber – und das ist mir wichtig zu betonen – nicht etwa, weil er über mich verärgert war oder nicht fähig gewesen wäre, Kritik zu ertragen. Er brach innerlich zusammen aus maßloser Wut auf sich selbst. Als würde er wegen eines dummen Fehlers von einem Gefühl des Versagens und der Unfähigkeit überwältigt. Und Sie müssen verstehen: Diese Selbstzweifel waren überhaupt nicht in seiner tatsächlichen Begabung begründet. Sie kamen einzig und allein durch seine Herkunft. Ich nenne das die soziale Herkunft.«
Avraham machte sich keine Notizen, während Seev sprach, und Seev wusste aus Erfahrung, das war ein Zeichen, dass es ihm gelungen war, das Interesse des Inspektors zu wecken. Wenn die Schüler den Stift weglegten und von ihrem Heft aufblickten, wusste man, dass sie einem zuhörten.
»Sind nicht alle Kinder so?«, fragte Avraham.
Seev schenkte ihm ein gewinnendes Lächeln und meinte: »Sie haben keine Kinder, oder?«
Avraham schüttelte verneinend den Kopf.
Dieser Polizist hatte ihm gefallen, vom ersten Augenblick an, da er ihn vom Balkonfenster aus gesehen hatte, am Donnerstagmittag. Wie er ruhelos vor dem Haus auf und ab gegangen war. Und Seev hatte gewusst, dass es ihm gelingen würde, die Aufmerksamkeit dieses Mannes auf sich zu ziehen, auch als der ihn noch ignoriert hatte. In Filmen hieß es immer: »Sie hätten gute Freunde werden können, wären die Umstände andere gewesen.« In ihrem Fall war es genau andersherum: Wären sie sich unter anderen Umständen begegnet, hätte sich Seev höchstwahrscheinlich nicht für Avraham interessiert. Sicher hätten sie keine gemeinsamen Gesprächsthemen gehabt. Allein die Umstände, unter denen sie sich begegnet waren, führten sie zusammen und ermöglichten es ihnen, so miteinander zu reden.
»Weiß Gott, nicht alle Kinder sind so«, sagte Seev. »Für die meisten Kinder an der Schule, an der ich unterrichte, sind Komplimente etwas Selbstverständliches, da ihnen ohnehin klar ist, dass sie die Besten sind. Kritisiert man sie, denken sie einfach, man selbst wäre im Irrtum. Nicht sie. Ihnen ist klar, dass der andere falsch liegt. Sie selbst machen nie einen Fehler.«
Avraham war ruhig und gelassen. Seev wusste nicht, wie viel Zeit bereits vergangen war. Vielleicht eine Stunde, vielleicht auch zwei. Avraham schaute nicht mehr auf die Uhr. Er hing an seinen Lippen. Und je mehr Seev erzählte, desto mehr spürte er, dass seine Analysen genauer und tiefgehender wurden, als er es selbst erwartet hatte. Ab und zu machte sich Avraham nun doch ein paar Notizen, und Seev überlegte, dass er ihm gern verraten hätte, wie eng dieser Fall im Grunde genommen mit der Fähigkeit zu schreiben zusammenhing. Er hatte sich vorgenommen, am Abend selbst wieder etwas zu schreiben. In seinem Kopf war der nächste Brief schon so gut wie fertig.
Ein paar Wochen nachdem sie mit den Privatstunden angefangen hatten, hatte Seev begriffen, dass er Ofer nicht nur in Englisch helfen wollte. Er wollte ihm näherkommen und ihm helfen, sich zu öffnen. Und Ofer hatte dies gespürt. Um seinen Wortschatz zu vergrößern, vor allem aber, um ihm andere Dinge zu eröffnen, die er nicht von zu Hause kannte, hatte Seev vorgeschlagen, er solle sich auf Englisch Filme und Fernsehserien ohne Untertitel anschauen. Er hatte ihm eine DVD mit Folgen der ersten Staffel von »House« geliehen und eine Box mit Filmen von Martin Scorsese – »Taxi Driver«, »Wie ein wilder Stier« und »Casino«. Ofer hatte sich alles innerhalb einer Woche angesehen. In der nächsten Nachhilfestunde hatte Seev dann versucht, eine Diskussion über die Filme anzuregen, auf Englisch selbstverständlich. Ofer war befangen gewesen, verlegen. Nicht, weil er Englisch sprechen sollte, sondern weil er noch nie gefragt worden war, was er über einen Kinofilm dachte. Danach hatte Seev ihm eine Auswahl von Hitchcock-Filmen geliehen.
»Ich weiß, das klingt anmaßend, aber ich glaube ganz ehrlich, dass Ofer mit meiner Hilfe das Kino entdeckt hat«, erklärte Seev.
Avraham fragte postwendend zurück: »Was soll das heißen? Glauben Sie, er hatte besonderes Interesse an Filmen?«
Der Inspektor wirkte alarmiert.
»Ja. Wenn Sie mich fragen, ich glaube, Ofer wollte Schauspieler werden. In einer der letzten Stunden haben wir ein Script gelesen, das sie in der Klasse bekommen hatten, und wir haben über Schauspielschulen gesprochen. Er wusste nicht einmal, dass es so etwas gibt. Das überstieg seine Vorstellungskraft. Er dachte, Schauspieler oder Künstler wären eine andere Sorte Mensch. Er nahm an, man würde mit dem Talent geboren und er hätte nicht die geringste Chance. Verstehen Sie? Er hat mich dann gefragt, ob man Schauspiel an der Universität studieren kann. Ich habe versucht herauszufinden, ob er gerne Schauspielunterricht nehmen würde, alles auf Englisch selbstverständlich. Erst hat er verneint und dann gemeint, vielleicht doch, ja, aber er sei sich nicht sicher, ob das etwas für ihn wäre. Ich habe ihm erklärt, dass er nicht bis zur Universität warten müsse. Dass es Theaterwerkstätten für Jugendliche gibt, bestimmt auch in Cholon, vielleicht sogar an seiner Schule. Ich hatte sogar überlegt, mit seinen Eltern darüber zu reden. Letztlich habe ich es dann nicht getan, weil es von ihm hätte kommen müssen. Davon abgesehen, sie hätten es ihm, meiner Meinung nach, ohnehin nicht erlaubt.«
»Warum?«, fragte Avraham. »Denken Sie, seine Eltern sind zu streng mit ihm?«
»Nein, nicht, dass Sie mich falsch verstehen«, antwortete Seev. »Ich glaube, sie sind gute Menschen. Beide. Seine Mutter ist eine stille, kluge Frau, die sehr wohl weiß, was sie will, und sein Vater auch. Er hat immer den Eindruck eines einfachen, anständigen Arbeiters auf mich gemacht. Doch sie haben diese künstlerische Seite an Ofer nie erkannt. Haben sie nicht gefördert. Sicher nicht aus Boshaftigkeit, aber das ist einfach nicht ihre Welt. Es musste jemand von außen kommen und erkennen, dass Ofer anders ist, mit einer anderen Seele beschenkt ist, der Seele eines Künstlers – und ihm einen Stoß in diese Richtung geben.«
Inspektor Avraham fragte: »Welchen Eindruck hatten Sie von seinem Zuhause, als Sie dort waren? Von dem Verhältnis zwischen ihm und seinen Eltern? Denken Sie, Ofer war wütend auf seine Eltern?«
»Damit gehen Sie wirklich zu weit. Ich denke, es ist ein sehr warmes Zuhause. Ofer hat eine Schwester mit einer schweren Behinderung, das wissen Sie sicher, und die Eltern kümmern sich mit viel Liebe um sie. Ofer auch. Möglich, dass sie dem Mädchen mehr Aufmerksamkeit geschenkt haben, wegen ihres Zustands, aber das ist nicht der Punkt. Ich sage bloß, dass die Sharabis diese Seite an Ofer nicht sehen konnten, weil sie ihren Horizont übersteigt. Es gibt nun mal Dinge, die bestimmte Eltern ihren Kindern nicht geben können, Dinge, die jemand von außen erkennen und geben muss.«
»Also hatten Sie nicht den Eindruck, dass die häufige Abwesenheit des Vaters und der Zustand der Schwester für Ofer eine große Belastung darstellten?«
Seev verstand nicht, warum Avraham nicht von dem Thema lassen wollte. Er begriff auch nicht, was Avraham meinte, wenn er von der häufigen Abwesenheit des Vaters sprach. Er entgegnete: »Vielleicht, mag sein. Aber warum fragen Sie das? Denken Sie, Ofer ist verschwunden, weil er es zu Hause nicht mehr ausgehalten hat? Da liegen Sie falsch. Ich werde versuchen, meine Analyse zu präzisieren. Die Sache ist nicht, dass die Eltern ihn nicht gut behandelt hätten, sondern dass sie nicht erkannt haben, dass er anders ist als sie. Das ist etwas anderes. Sie haben nicht gesehen, was ich gesehen habe. Und deshalb war es schade, dass wir mit den Stunden aufgehört haben.«
»Wie lange haben Sie ihm Stunden erteilt? Und warum haben Sie aufgehört?«
»Das ist kurios. Ich glaube, die Stunden wurden eingestellt, gerade weil sie erfolgreich waren. Ofers Zensuren sind besser geworden, und er war einer der Kandidaten, die in eine höhere Lerngruppe aufgenommen werden sollten. Zumindest in meinen Augen wurden sie eingestellt, weil die Eltern nicht mit dem Einfluss, den die Stunden auf Ofer hatten, zurechtkamen. Mir haben sie gesagt, sie würden ihm jetzt für