Vermisst - Avi Avraham ermittelt - Teil 2
ihr, den Anflug eines Gedankens, aber nur für einen kurzen Moment. Vielleicht hatte er sich auch getäuscht. Sie war auf dem Polizeirevier erschienen, weil sie gehofft hatte, jemand würde an ihrer Stelle die Verantwortung für ihren Sohn übernehmen und mit der Suche beginnen, und jetzt brachte sie die Unterredung durcheinander. Eigentlich hätte sie gar nicht hier sitzen sollen. Wäre ihr Mann im Land, würde er in Avraham Avrahams Verschlag sitzen und nicht sie. Er würde telefonieren, drohen und versuchen, Kontakte spielen zu lassen. Sie aber wurde einfach wieder nach Hause geschickt, versehen mit Anweisungen, wie sie selbst weiter nach ihrem Sohn suchen sollte, und der Beamte, der hier vor ihr saß, sprach über den Jungen, als wäre von einem anderen die Rede. Die Tatsache, dass er angefangen hatte, den Plural zu verwenden, damit sie nicht das Gefühl hatte, allein mit ihrer Sorge zu sein, half auch nicht. Er überlegte, dass sie sicher wollte, dass dieses Gespräch bald beendet wäre, gleichzeitig aber keinen Drang verspürte, wieder nach Hause zu gehen. Er hingegen wollte nichts lieber als das. Dennoch schrieb er, ohne dass sie es lesen konnte, »Ofer Sharabi« oben auf das Blatt und unterstrich den Namen mit zwei krakeligen Linien.
»Mit seinen Geschwistern spricht er kaum«, erklärte sie. »Sein Bruder ist erst fünf, und mit seiner Schwester ist er nicht so eng.«
»Schaden kann es trotzdem nicht. Davon abgesehen, haben Sie Computer zu Hause?«
»Einen. In seinem Zimmer, das er sich mit seinem Bruder teilt.«
»Gut, dann wäre da noch etwas, das Sie tun können. Lesen Sie seine E-Mails, sehen Sie auf seiner Facebook-Seite nach, falls er eine hat. Vielleicht hat er an irgendjemanden etwas geschrieben, das uns helfen kann, uns keine Sorgen mehr zu machen. Wissen Sie, wie man das macht?«
Er sah ihr an, dass sie nicht vorhatte, irgendetwas in der Art zu tun. Warum hatte er überhaupt davon angefangen? Sie würde nach Hause gehen und warten. Jedes Telefonklingeln und jeder Laut aus dem Treppenhaus würden sie aufschrecken. Und selbst wenn ihr Sohn heute Nacht nicht wiederauftauchte, würde sie nichts unternehmen. Sie würde warten bis zum Morgen und dann wieder auf dem Revier erscheinen, gekleidet in dieselben Sachen, die sie die Nacht über nicht ausgezogen hätte. Würde wieder vor ihm sitzen. Vielleicht würde sie erneut ihren Mann anrufen, aber der würde ihr nicht helfen können.
Sie schwieg und reagierte nicht auf seinen Vorschlag. Entweder weil sie beleidigt war, oder weil sie sich schämte zuzugeben, dass sie tatsächlich nichts von dem verstand, was er empfohlen hatte.
»Sehen Sie, Verehrteste, ich versuche wirklich zu helfen. Gegen Ihren Sohn liegt nichts vor, und Sie sagen, er sei in nichts verwickelt. Normale Kinder verschwinden nicht. Sie können beschließen, nicht zur Schule zu gehen, für ein paar Stunden von zu Hause wegzulaufen. Oder sie schämen sich, gehen, weil ihnen irgendetwas passiert ist, von dem sie das Gefühl haben, es sei schrecklich und unverzeihlich, obwohl es sich in der Regel um eine Bagatelle handelt. Und deswegen gehen sie nicht nach Hause. Aber sie verschwinden nicht. Ich versuche, Ihnen ein mögliches Drehbuch zu zeichnen: Ihr Sohn hat beschlossen, heute nicht zur Schule zu gehen, weil er eine wichtige Prüfung hatte und nicht richtig vorbereitet war. Wissen Sie, ob er eine Prüfung hatte? Vielleicht sollten Sie seinen Klassenkameraden danach fragen. Also, er war nicht vorbereitet, und weil er normalerweise gute Noten bekommt und seine Eltern nicht enttäuschen wollte, ist er nicht in die Schule gegangen und stattdessen durch die Straßen gelaufen oder in irgendein Einkaufszentrum gefahren. Dort hat ihn dann eine Lehrerin oder irgendjemand anders gesehen, der Sie kennt, woraufhin er in Panik geraten ist, da jetzt sicher die ganze Welt weiß, dass er die Schule geschwänzt hat, und deshalb traut er sich nicht nach Hause. Solche Sachen passieren. Wenn Sie mir also nicht irgendetwas über ihn verschweigen, haben Sie keinen Grund, sich Sorgen zu machen.«
Ihre Stimme bebte: »Was hab ich denn zu verschweigen? Ich möchte, dass Sie ihn finden. Er kann doch ohne sein Telefon nicht anrufen …«
Das Gespräch führte zu nichts. Er musste dem ein Ende machen. Avraham Avraham seufzte und sagte dann: »Ihr Mann ist erst in einigen Tagen zurück?«
»In zwei Wochen. Er ist auf einer Schiffsreise nach Triest. In vier Tagen kann er erst von Bord, wenn sie das erste Mal vor Anker gehen.«
»Er wird nirgendwo von Bord gehen müssen. Wo sind Ofers Geschwister jetzt gerade?«
»Bei der Nachbarin.«
Ihm wurde bewusst, dass er zum ersten Mal während ihrer Unterredung den Namen des Jungen laut ausgesprochen hatte. Ofer. Ein so gefälliger Name, dass er seinen eigenen Vornamen sofort gegen den des Jungen eintauschte, wie er es immer tat, wenn er schöne Namen hörte. In seinem Kopf echote bereits der Name, den er nie haben würde: Ofer Avraham. Inspektor Ofer Avraham, Oberinspektor Ofer Avraham. Der Generalkommandeur der Polizeikräfte, Ofer Avraham, hat heute aus persönlichen Gründen seinen Rücktritt bekanntgegeben.
»Ich schlage vor, Sie kehren jetzt zu Ihren Kindern zurück, und ich verspreche Ihnen, dass wir uns morgen nicht wiedersehen werden. Auf jeden Fall werde ich dafür sorgen, dass man Sie morgen früh anruft und sich nach dem Stand der Dinge erkundigt.«
Er legte den Stift auf den Bogen Papier und drückte den Rücken gegen die Lehne seines Schreibtischstuhls. Sie stand nicht auf. Solange er ihr nicht ausdrücklich sagen würde, dass ihr Gespräch beendet sei, würde sie nicht gehen. Vielleicht wäre es ja trotz allem möglich, ihr noch ein paar Fragen zu stellen, sie wollte um keinen Preis allein zu Hause sitzen.
Erst jetzt bemerkte Avraham Avraham, dass er unbewusst während des Gespräches unten auf das Blatt Papier eine blaue Gestalt gekritzelt hatte – ein Strichmännchen, das die Arme in die Höhe streckte –, und um den Kreis, der den Kopf darstellte, war etwas geschlungen, das wie ein Seil aussah, aus dem blaue Blutstropfen quollen. Oder sollten es Tränen sein? Obgleich er keinen Grund hatte, bedeckte er die Zeichnung mit der Hand, die Finger übersät von blauen Kugelschreiberflecken.
Der Himmel über der Polizeistation und dem Technologischen Institut war fast vollständig schwarz, als er, kurz nach sieben, das Gebäude verließ. In der Fischmann bog er nach rechts ab und in der Golda-Meir dann nach links, mischte sich unter die Marschierenden auf der langen Walkingstrecke, die das Viertel Neve Remes mit Kiryat Sharet verband, und versuchte, sich nicht zu einem sportiven Tempo hinreißen zu lassen. Langsamer, langsam. Es war ein angenehmer Abend, Anfang Mai. In den kommenden Monaten würde es nicht mehr viele solcher Abende geben.
Weil er langsam ging, bildete sich hinter ihm eine Schlange von Walkern, die meisten zwanzig oder dreißig Jahre älter als er, in Shorts und kurzärmligen Laufshirts. Sie drosselten ihr Tempo, zögerten einen Moment, ehe sie auf den Sandstreifen ausscherten, mit schnellem Hinken den Polizeibeamten in Uniform überholten und auf die asphaltierte Strecke zurückkehrten. Eine Frau, die seine Mutter hätte sein können, streifte ihn am Arm, drehte sich um und keuchte: »Entschuldigung.«
Mit einem Mal schlug der Verkehrslärm der nahen Schnellstraße an seine Ohren, als hätte jemand ihm Stöpsel herausgezogen. Avraham Avraham wurde bewusst, dass er einige Minuten lang offenbar nichts gehört, nur sich selbst gelauscht hatte, einem inneren Dialog. Diese Frau ließ ihm keine Ruhe. Er musste an den Mordfall Annabelle Amram denken. In dem Urteilsspruch in ihrer Sache, der sämtlichen Polizeibeamten im Land als E-Mail-Anhang zugestellt worden war, war das Gericht zu der Feststellung gekommen, die Polizeiorgane hätten bei der Suche nach ihr geschlampt und seien mitverantwortlich für ihren Tod. Aber die Umstände waren vollkommen andere gewesen. Der Sohn dieser Frau, die ihm vorhin gegenübergesessen hatte, war nicht nachts verschwunden, und es gab auch keinerlei anderen Anhaltspunkt, der ihn dazu verpflichtet hätte, umgehend eine umfangreiche und kostspielige Suchaktion zu veranlassen. Ja, Avraham Avraham hatte sich sogar, in Gegenwart der Mutter, die Mühe gemacht und in den Krankenhäusern der Umgebung nachgefragt, ob bei ihnen ein Junge eingeliefert worden sei, der auf den Namen Ofer Sharabi hörte oder auf den seine Beschreibung passte. Und vor Verlassen des Reviers hatte er darum gebeten, dass jede irgendwie relevante Meldung an ihn weitergeleitet würde und man ihn, wenn es sein musste, auch mitten in der Nacht anriefe. Er hatte die Mutter instruiert, was sie selbst noch weiter unternehmen konnte, und hatte dem wachhabenden Beamten eine Beschreibung des schwarzen Rucksacks mit den weißen Streifen, eine Adidas-Replik, dagelassen – vielleicht würde er in irgendeiner Meldung über verdächtige Gegenstände in ihrem Distrikt auftauchen. Jede weitere Ermittlungsaktion wäre in dieser Phase bloße Etatverschwendung, was man ihm hinterher auch noch vorwerfen würde. Doch wenn dem Jungen heute Nacht etwas passierte, etwas, das zu verhindern gewesen wäre, bekäme er richtige Probleme.
Er bedauerte bereits, was er der Mutter über Kriminalromane und die Verbrechensstatistik in Israel gesagt hatte. Annabelle Amram war bei einem gescheiterten Raubüberfall von einem Autodieb, der sie nicht gekannt hatte, ermordet worden. Avraham Avraham befahl sich, nun nicht mehr im Nachhinein jedes seiner Worte auf die Goldwaage zu legen.
Früher hatte es hier nur Sand gegeben. Jetzt helle, gläserne Gebäude. In den Dünen zwischen Neve Remes und Kiryat Sharet, zwei grauen Wohnvierteln, in denen er beinahe sein ganzes Leben verbracht hatte, waren Wohntürme, eine städtische Bibliothek, ein Designmuseum und ein Einkaufszentrum entstanden, die in der Dunkelheit aussahen wie Raumstationen auf dem Mond. Auf halbem Weg nach Kiryat Sharet leuchteten zur Linken die Schriftzüge von Zara, dem Office Depot und von Joe’s Café, und er erwog, die Straße zu überqueren und in das Einkaufszentrum zu gehen. Er könnte sich einen Latte macchiato und ein Käsesandwich kaufen und sich draußen an einen der freien