Vermisst - Avi Avraham ermittelt - Teil 18
Eindruck gewinnen, dass er sich von einer Vermisstensache beispielsweise zu einer Morduntersuchung entwickelt, sind wir eventuell gezwungen, eine Sonderermittlungseinheit aufzustellen und ihr den Fall zu übertragen. Darauf hab ich keinen Einfluss. Vor allem, wenn es Druck vonseiten der Familie geben sollte. Vielleicht wird der Fall der Zentralen Ermittlung unterstellt. Das soll dich vorerst aber nicht in deiner Ermittlungsarbeit beeinflussen. Im Moment ist es eine Vermisstensache, und sie gehört dir. Erst wenn sich der Fall in eine andere Richtung entwickelt, müssen wir überlegen, wie wir damit umgehen.«
Das sagte sie ausgerechnet jetzt, da er das Gefühl gehabt hatte, mit der frischen Luft gewänne er langsam den klaren Verstand zurück, von dem sie gesprochen hatte. Er sah sie flehend an und sagte: »Ilana, bitte, nimm mir diesen Fall nicht weg. Vor einer halben Stunde wollte ich dich noch bitten, ihn jemand anderem zu übertragen, aber du weißt, dass mich das fertigmachen würde. Das ist meine Ermittlung, mein Fall, von genau dem Moment an, als die Mutter zu uns aufs Revier gekommen ist, und es muss mein Fall bleiben, bis ich Ofer gefunden und ihn nach Hause zurückgebracht habe.«
Er hatte eine Woche. Ilanas Bemerkung war unmissverständlich gewesen. Sollte es bis zu seiner Reise keinen Durchbruch bei den Ermittlungen geben, würde er nach Brüssel fliegen und bei seiner Rückkehr den Fall in fremden Händen vorfinden. Und selbst wenn sie keine Sonderermittlungseinheit aufstellten und der Fall auch nicht an die Zentrale Ermittlung ging, er wusste nicht, was Schärfstein in dieser Woche anstellen konnte, vielleicht würde er Avrahams Abwesenheit nutzen, um ihn aus den Ermittlungen zu drängen. Der Gedanke, der Fall könnte ausgerechnet während seiner Brüssel-Reise abgeschlossen werden, erschreckte ihn.
Er nahm den Jaffa-Weg zurück zum Revier und hielt bei Abulafiyas Bäckerei, um sich eine mit Käse gefüllte pikante Sambusak-Teigtasche zu kaufen. Der El-Al-Flug 382 aus Mailand würde um 22.50 Uhr landen. Er konnte den Vater also in der Ankunftshalle des Flughafens abfangen und ihn zur Befragung gleich aufs Revier fahren, oder er konnte ihn die Nacht bei seiner Familie verbringen lassen und ihn erst für den nächsten Morgen aufs Revier bestellen. Vielleicht würde er aber auch einfach zu den Sharabis fahren und an ihre Wohnungstür klopfen. Er wollte sich noch einmal in der Wohnung umsehen, an dem Ort, an dem sich Ofer zuletzt aufgehalten hatte, bevor er verschwunden war. Und er wollte sie beide dort sehen, die Mutter und den Vater. Er war Hannah Sharabi seit Freitag nicht mehr begegnet. Vielleicht würde sie in Gegenwart ihres Mannes weniger verschreckt sein und ihm noch etwas über ihren Sohn erzählen können. Er wollte in das Gesicht des Vaters schauen und sich vorstellen, wie Ofer aussähe, wenn er so alt wäre. Wollte zusammen mit ihm Ofers Zimmer betreten, neben ihm auf dem Jugendbett sitzen und gemeinsam mit ihm die Schubladen öffnen, die er bereits am Freitag inspiziert hatte. Würde ihm das Gesicht des Vaters mehr Einzelheiten über Ofer und dessen Leben verraten, als er im Gesicht der Mutter hatte entdecken können? Außerdem könnte er, wenn er den Vater in seiner Wohnung befragte, hinterher noch einen Abstecher zu dem Nachbarn machen. Er musste ihn nur vorher kontaktieren, um sicherzustellen, dass er auch zu Hause war.
Sein Mobiltelefon klingelte genau in dem Augenblick, als er auf den Parkplatz des Reviers einbog. Die Nummer war unterdrückt.
»Ist der berühmte Inspektor Avraham Avraham für eine Sekunde zu sprechen?«
Er erkannte die Stimme sofort, obwohl er sie seit mindestens einem halben Jahr nicht mehr gehört hatte, und bereute es, das Gespräch angenommen zu haben.
»Ja, am Apparat.«
»Schalom, Avraham Avraham. Hier ist Uri Uri vom Schabak Schabak.«
Sein Lachen war verwirrend, glucksend, das Lachen eines Kindes. »Ich rufe dich an wegen der Sache mit dem Vermissten Vermissten.«
Avraham manövrierte den Wagen auf seinen angestammten Parkplatz, stellte den Motor ab und blieb im Fahrzeug sitzen.
»Bist du noch dran? Sei nicht gleich beleidigt. Du weißt doch, dass ich nur mit dir scherze, weil wir Seelenverwandte sind. Die Herren von der Polizei sind schrecklich empfindlich geworden, seit man ihnen in Führungspositionen Damen vor die Nase gesetzt hat, findest du nicht auch?«
Er verabscheute diesen Uri, obwohl er ihm noch nie persönlich begegnet war. Vor einem halben Jahr hatten sie telefoniert, im Zusammenhang mit der Ermittlung gegen einen Autodieb aus einem Dorf bei Nablus, der in Bat Yam gefasst worden war. Der Inlandsgeheimdienst hatte die Polizei von dem Fall entbunden, weil der junge Palästinenser auch des illegalen Grenzübertritts und der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation verdächtigt wurde. Sein zehn Jahre älterer Bruder war wegen der Beteiligung an entsprechenden Aktivitäten bereits zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt worden. Schon damals hatte »Uri vom Dienst« mit ihm gesprochen wie ein Restaurantbesitzer mit einer Aushilfsspülkraft, obgleich er vielleicht jünger war als Avraham Avraham und einen niedrigeren Dienstgrad innehatte. Wie auch immer, Avraham hatte es nicht gewagt, gegen Uri aufzubegehren, als der um die Zusendung der Akte mit den Ermittlungsergebnissen bat, die sie in mühsamer, wochenlanger Arbeit zusammengetragen hatten.
»Ich wollte dich nur darüber informieren, dass uns zum jetzigen Zeitpunkt dein Vermisster nicht die Bohne interessiert. Wir haben uns die Sache angesehen, von einer feindseligen terroristischen Aktion kann keine Rede sein. Aber sobald dir im Verlauf der Ermittlungen auch nur ein Buchstabe auf Arabisch unterkommt, schickst du mir sofort ein Morsezeichen, ist das klar?«
»Ja«, stieß er hervor.
»Ausgezeichnet. Das nennt man wohl eine reibungslose Zusammenarbeit der zuständigen Sicherheitsorgane.«
Von wo aus rief er an? Wo genau befand sich das Büro dieses »Uri vom Dienst« eigentlich? Avraham Avraham dachte für einen Moment darüber nach, dass es in Israel noch eine zweite Polizei gab, über die er so gut wie nichts wusste, eine eigene Polizei nur für Ermittlungen gegen Araber. Ohne Reviere, ohne Telefonnummern. Er wagte zu fragen: »Gut, brauchst du noch irgendetwas?«
Und die jugendliche Stimme erwiderte: »Ja, jetzt, wo du fragst, ich hab noch eine kleine Sache. Eine Überraschung, die ich extra für dich vorbereitet habe. Kann’s losgehen? Ein kleines Vögelchen hat mir zugeflüstert, dich beschäftigt die Frage, warum es in Israel keine Kriminalromane gibt. Habe ich recht oder nicht?«
Ein Schauder lief Avraham über den Rücken. Ausgeschlossen, dass der Inlandsgeheimdienst mithörte, was in den Vernehmungsräumen der Polizei gesagt wurde, oder die Telefone der Ermittler angezapft waren. Das war vollkommen unmöglich. Irgendein Kollege hatte ihm sicher davon erzählt.
»Was?«, sagte er. »Das hab ich nicht verstanden.«
»Doch, doch. Ein Singvögelchen. Also, hör zu, wir haben hier eiligst eine Teamsitzung abgehalten und die Angelegenheit diskutiert, und herausgekommen ist unsere offizielle Antwort an dich. Willst du sie hören?«
Nein, sagte er sich, das wollte er nicht.
»Die Antwortet lautet, dass Polizisten in diesem Land mit Bagatelldelikten betraut sind, über die niemand etwas lesen möchte oder gar auf den Gedanken käme, ein Buch darüber zu schreiben. Und die meisten dieser Polizeibeamten sind auch nicht besonders helle. Die wirklich wichtigen Ermittlungen führen wir vom Schabak, doch über uns weiß man nichts, und selbst wenn jemand etwas weiß, darf er kein Wort darüber schreiben. Hast du das verstanden verstanden?«
6
Mit zitternder Stimme näherte sich die ältere Frau dem Ende ihrer Geschichte. Sie beschrieb ihre Mutter, wie sie aus einem klapprigen Bus auf eine Jerusalemer Straße trat, und den heftigen Regen, der ihr übers Gesicht strömte. Immer wieder brach sie mitten im Satz ab, seufzte und holte tief Luft, um ihrer Stimme Festigkeit zu verleihen, jedoch ohne Erfolg. Vielleicht hoffte sie, man würde annehmen, der Inhalt ihrer Geschichte berührte sie derart, und nicht die Tatsache, dass sie ihren Text vor den Teilnehmern des Workshops las, laut und im Stehen.
Seev hatte sich den Namen der älteren Frau nicht gemerkt, die nun jeden Augenblick vor lauter Aufregung zu ersticken drohte. Als er sie vor Beginn der ersten Stunde gesehen hatte, hatte er sich gleich wieder verabschieden wollen. In dem kleinen Raum hatten zehn Stühle in einem Kreis gestanden, und sie saß auf einem davon und sah aus, als hätte sie eher in eine Bridgerunde gepasst. Erst als ein, zwei Minuten später ein Mann den Raum betrat, der in Seevs Alter zu sein schien, und gleich darauf zwei junge Frauen auftauchten, die sich zu Beginn der Stunde als Studentinnen vorstellten, entschloss er sich zu bleiben.
Ihre Geschichte endete wie erwartet mit dem Tod der greisen Mutter. Erleichtert setzte sie sich wieder auf ihren Platz. Es wurde nicht geklatscht, darauf hatten sie sich in der ersten Stunde geeinigt. Obgleich sie wussten, dass er keinen Kommentar abgeben würde, schauten alle Schüler auf Michael, der in seiner üblichen Zuhörhaltung auf dem Stuhl saß, den Rücken gekrümmt, die Ellbogen auf die Knie gestützt und die Stirn auf beide Fäuste, das Gesicht vor den Blicken der Teilnehmer verborgen. Alle versuchten zu erraten, was er dachte, und es war totenstill im Raum. Michael kostete diese Stille aus. »Schweigen ist eine wichtige Reaktion auf eine Geschichte«, hatte er in der ersten Stunde gesagt.
»Natürlich geht der Inhalt zu Herzen, aber ich denke, die Erzählung ist als literarischer Text misslungen.« Wie schon in den vorangegangenen Stunden war es Avner, der die Stille brach, der Mann in Seevs Alter, der sich als Journalist vorgestellt hatte. Bereits in der ersten Stunde hatte er in dem Workshop die Rolle des unartigen Kindes übernommen, und er genoss sichtlich die Position des tragikomischen Provokateurs, auch gegenüber Michael. »Ich glaube nicht an die Katharsis, die die Figur im letzten Moment durchlebt«, sagte er jetzt. »Das ist mir zu aufgesetzt. Die ganze Erzählung über zürnt sie ihrer Mutter, und dann plötzlich wird sie weich. Ohne dass mir verständlich wird, warum.« Seine übliche Reaktion. Nie begriff er, wie Menschen sich verändern konnten, und jeder emotionale