Vermisst - Avi Avraham ermittelt - Teil 17
sie auf ihre Zusammenarbeit angestoßen. Und in den darauffolgenden Jahren hatten sie, bevor Ilana befördert wurde, tatsächlich fast immer zusammengearbeitet und waren einander nähergekommen. Mehrmals hatte er auch ihren Mann getroffen, bei Familienfeiern oder dienstlichen Empfängen. Und er hatte in ihrem Büro gesessen, als die Soldaten vom Büro des Stadtoffiziers erschienen waren, um ihr die Nachricht vom Tod ihres Sohnes zu überbringen. Er hatte sie im Arm gehalten, als sie zusammengebrochen und ohnmächtig geworden war, und hatte sie schließlich in seinem Wagen zur Ausbildungsbasis nach Zeelim gefahren. Sie war allem Anschein nach der Mensch, der ihm am nächsten stand, obgleich er mit ihr so gut wie nur über die Arbeit sprach.
»Weiß du, was am schwierigsten an Vermisstenfällen ist?«, fragte sie jetzt. »Dass man erst, wenn der Vermisste gefunden wurde, weiß, ob man alles getan hat, was man hätte tun müssen. Vorher kann man es nicht wissen. Du kannst die halbe Welt auf den Kopf stellen, und am Ende findet sich der Vermisste in dem einen Viertel, das du nicht umgegraben hast. Das gilt auch für die gestrige Suchaktion. Bis wir Ofer nicht irgendwo anders gefunden haben, wissen wir nicht, ob wir dort in den Dünen gründlich genug gesucht haben.«
»Das ist es nicht, was mich so beschäftigt. Das Schwierige an diesen Fällen ist, dass man nie weiß, ob man ein Verbrechen untersucht oder nicht. Wir können mit Kapitalverbrechen umgehen und wissen, wie wir Straftäter im Verhör überführen, aber bei Vermisstenfällen hat man in der Regel keine Ahnung, ob überhaupt ein Verbrechen vorliegt oder nicht. Du läufst herum und verdächtigst Leute, Nachbarn, Freunde, Familienangehörige, den Vermissten selbst, Menschen, die sich um den Vermissten genauso viele Sorgen machen wie man selbst – Unsinn, natürlich machen sie sich viel größere Sorgen –, und du musst sie verdächtigen, hast keine andere Wahl, bist gezwungen, davon auszugehen, dass alle irgendetwas vor dir verbergen. In den meisten Fällen stellt sich am Ende heraus, dass kein Verbrechen begangen wurde und niemand etwas verheimlicht hat. Es kann genauso gut sein, dass Ofer Sharabi jetzt am Strand von Rio de Janeiro liegt und niemand etwas davon weiß und niemand schuld an irgendetwas ist.«
»Stimmt nicht. Du weißt genau, dass er nicht in Rio de Janeiro ist. Und wieso kommst du ausgerechnet auf Rio de Janeiro?«
»Wie kann ich wissen, dass er nicht dort ist? Ich weiß überhaupt nichts.«
»Kannst du sehr wohl. Du fragst bei den Grenzkontrollen nach, ob er ausgereist ist oder nicht. Und wenn er das Land verlassen hat, überprüfst du die Passagierlisten der Fluggesellschaften, die nach Brasilien fliegen, ob er seit Mittwoch an Bord einer Maschine nach Rio de Janeiro gewesen ist. Er wird nicht mit einem gefälschten Pass ins Flugzeug gestiegen sein, und er ist auch kein Mossad-Agent, sondern Gymnasiast.«
Avraham seufzte. Wie gut, dass sie das Fenster geöffnet hatte und frische Luft hereinströmte.
»In Ordnung, du hast gewonnen. Er ist nicht in Rio de Janeiro.«
»Und ich habe es hoffentlich auch geschafft, deine Gedanken von deiner angeblichen Schuld abzulenken und dir ein bisschen neue Energie und Lust auf den Fall zurückzugeben«, meinte sie und sah ihm so unverwandt in die Augen, dass es ihn schmerzte. »Ich verstehe nicht, wieso du immer noch manchmal so schnell einknickst. Und vor allem, weswegen. Jeder kleine Eyal Schärfstein schafft es, dich zu deprimieren, als wärst du derjenige, der seit vorgestern Polizist ist, und nicht er. Als wärst du nicht einer der besten Ermittler, die wir haben.« Ilana verstand es, über Dinge zu reden, über die er – aus Scham – niemals gewagt hätte zu sprechen. Und sie tat es auf eine Art, die ihn nicht verlegen machte. Ein einziges Mal, seit er sie kannte, hatte er geträumt, sie würde ihre Hand auf die seine legen, mehr nicht, bloß ihre kalte Hand. Das war bei einem ähnlichen Gespräch gewesen, in ihrem alten Büro. Im Laufe der Jahre hatte er vergessen, ob es damals ein echter Traum gewesen war oder ein Tagtraum, und hatte sich selbst untersagt, diesen Gedanken künftig noch einmal zu haben.
»Schärfstein verkrafte ich schon«, erwiderte er, »aber es ist wirklich nicht nur ein Schuldgefühl. Es geht auch darum, jemanden im Stich gelassen zu haben, der uns braucht. Und das wird bei solchen Fällen besonders deutlich. Die Familie stellt schließlich selbst Nachforschungen an. Sie hängen Zettel auf, organisieren die Suche, rufen Freunde von ihm an, und wir ermutigen sie, genau das zu tun. Ich meine: Ich ermutige sie. Ich habe der Mutter am Mittwochabend gesagt, sie solle nach Hause gehen und anfangen, seine Freunde abzutelefonieren. Du verstehst nicht, wie schwer es mir da fällt, diese Mutter allein in ihrer Wohnung zurückzulassen und nach Hause zu gehen, als wäre nichts passiert. Ich weiß, ich kann nicht anders, und es gibt auch keinen Grund, bei ihr zu bleiben, aber sie macht die schwerste Zeit ihres Lebens durch, und wir lassen sie allein und signalisieren ihr, den Großteil der Sucharbeit müsse sie schon selbst erledigen.«
»Genug, Avi, wir Polizisten sind nicht die Eltern der Bürger. Und die Polizei ist auch nicht allein verantwortlich für die Sicherheit der Bürger und ihr Wohlergehen, das weißt du selbst. Eltern müssen auf ihre Kinder aufpassen und Erwachsene auf sich selbst. Wer begreift, dass die Polizei nicht wie Eltern rund um die Uhr auf ihn achtgibt, der weiß selbst auf sich aufzupassen, der lässt sich eine Sicherheitstür und eine Alarmanlage installieren, und der sucht auch selbst nach seinem Kind, wenn es verschwunden ist, was denkst du denn?«
Er schwieg. Es überraschte ihn, dass das Bild der Mutter, die auf ihren Sohn wartete, Ilana derart schmerzen oder verärgern könnte.
»Der Gedanke, Ofer Sharabi könnte ein Fall werden wie die vermisste Adi Jakobi oder der verschollene Soldat Guy Hever, bringt mich um«, sagte er schließlich. »Und dass zehn, fünfzehn Jahre ins Land gehen könnten und wir nicht wissen, was ihm passiert ist, ob er tot ist, ob er irgendwo lebt, rein gar nichts, außer dass er am Mittwochmorgen von zu Hause aufgebrochen und in der Schule nicht angekommen ist. Und was ihm zugestoßen ist auf dem Weg dorthin, für den er nicht mehr als zehn Minuten hätte brauchen sollen, werden wir, verdammt noch mal, dann nie erfahren.«
Abermals sah er Ofer vor sich, wie er mit seinem schwarzen Rucksack über der Schulter die Treppe herunterkam. Wie er auf die Straße trat, sich nach rechts wandte und in Richtung Schule ging. Menschen waren ihm begegnet, und niemand hatte ihn bewusst wahrgenommen. Und was, wenn er sich nicht nach rechts, sondern nach links gewandt hatte? Nicht weit von seinem Haus gab es einen kleinen Laden. Ohne zu wissen, warum, hatte Avraham Avraham an diesem Morgen auf dem Weg zum Revier dort angehalten. Hatte der Inhaberin ein Bild von Ofer gezeigt und gefragt, ob der Junge am Mittwoch bei ihr im Laden gewesen sei. Ein Foto hätte sie gar nicht benötigt, weil sie Ofer gut kannte. Er kam fast jeden Morgen, um Milch, frische Brötchen und Kakao zu kaufen, das hatte er schon als kleiner Junge gemacht. Sie war fast sicher, ihn aber am Mittwochmorgen nicht gesehen zu haben, und ihr Mann bestätigte ihre Aussage. Dann meinte sie plötzlich: »Warten Sie einen Moment, ich kann nachschauen«, und klappte ein dickes Heft auf, in dem sie für ihre Stammkunden anschrieb. »Sharabi – drei fünfzig – das war am Dienstag. Danach keine Einkäufe mehr«, sagte sie aufgeregt, als hätten sie Ofer soeben, dank ihrer Hilfe, ausfindig gemacht. Seine letzten Einkäufe hatten sich auf insgesamt vierundvierzig Schekel und sechzig Agorot belaufen. Neben der Summe hatte er mit grünem Kuli unterschrieben.
Ilana versuchte, seine Befürchtungen zu zerstreuen: »Er ist kein neuer Guy-Hever-Fall, bei dem ein junger Soldat spurlos verschwindet, das ist eine ganze andere Geschichte, und das weißt du.«
Doch er fuhr unbeirrt fort, als hätte er sie gar nicht gehört: »Und die ganze Ermittlung spielt sich in einem Radius von ungefähr zwei Kilometern ab, verstehst du? Das ist doch das Absurde. Die Familie wohnt anderthalb Kilometer von der Schule entfernt, unser Revier befindet sich genau auf halbem Weg dorthin, und sogar meine Wohnung liegt nur fünf Autominuten entfernt. Das ist hier wie ein Dorf. Und trotz aller technischen Hilfsmittel und aller Schärfsteins, die sich so gut mit dem Internet und den Medien auskennen, hat niemand diesen Jungen auf dem Weg von seinem Zuhause zur Schule gesehen, hat niemand ihn sonst irgendwo gesehen, weiß niemand irgendetwas über die Familie. Das ist einfach unglaublich.«
»Die Befragung seiner Freunde und der Nachbarn hat wirklich überhaupt nichts gebracht?«
»Nahezu. Im Haus gibt es einen Nachbarn, der ein bisschen sonderbar wirkt. Er hat gestern auch bei der Suche geholfen und versteift sich darauf, Ofer besser zu kennen als irgendjemand sonst. Ich werde ihn zur weiteren Befragung aufs Revier bestellen, morgen vielleicht, nachdem wir mit dem Vater gesprochen haben.«
»Das solltest du. Und außerdem solltest du dich auf deine Reise vorbereiten, oder? Wann fliegst du?«
»In einer Woche. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt fliege. Vielleicht storniere ich.«
»Wieso denn? Das ist eine Dienstreise von gerade mal sechs Tagen, und wenn wir die Ermittlung bis dahin nicht abgeschlossen haben, kann sie auch ohne dich weiterlaufen, vorausgesetzt, wir haben die Sache dann überhaupt noch in der Hand.«
Er wollte nicht glauben, dass sie so etwas sagte, obendrein eine Sekunde, bevor sie ihn bitten würde, ihr Büro zu verlassen, weil sie schleunigst losmusste.
»Was soll das heißen?«
»Wir hoffen doch alle, dass wir in einer Woche nicht mehr in dieser Sache ermitteln müssen, oder? Und du weißt, wenn sich der Fall verkompliziert oder wir den