Untreue - Kapitel 1
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Paulo Coelho-Bibliothek
Paulo Coelho
Untreue
Roman
Aus dem Brasilianischen von
Maralde Meyer-Minnemann
Titel der 2014 bei
Editore Sextante, Ltda., Rio de Janeiro,
erschienenen Originalausgabe: ›Adultério‹
Copyright © 2014 by Paulo Coelho
http://paulocoelhoblog.com/
Published by Sant Jordi Asociados, Agencia Literaria, S.L.U
Barcelona, Spain
www.santjordi-asociados.com
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagdesign: Copyright © Compañía (lookatcia)
Umschlagfoto: Copyright © Ingram Publishing
Sant Jordi Asociados E-Book
ISBN 978 84 616 9337 5
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright ©2014
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 06908 2 (1. Auflage)
Gegrüßet seist du, Maria, ohne Sünde empfangen, bete für uns, die wir uns an dich wenden. Amen.
Gehe dorthin, wo die Wasser am tiefsten sind.
Lukas, 5 : 4
Jeden Morgen, wenn ich die Augen zu einem »neuen Tag« öffne, wie man so schön sagt, möchte ich sie am liebsten gleich wieder schließen und noch etwas weiterschlafen. Aber es hilft nichts, ich muss aufstehen.
Ich habe einen wunderbaren Mann, der mich aufrichtig liebt. Er managt einen renommierten Investmentfond und steht außerdem jedes Jahr auf der Liste der 300 reichsten Schweizer der Managerzeitschrift ›Bilanz‹.
Wir haben zwei Söhne, die (wie meine Freundinnen sagen würden) »mein ganzer Lebensinhalt« sind. Morgens mache ich ihnen das Frühstück und bringe sie dann zur Schule, die nur fünf Minuten zu Fuß entfernt liegt. Dort haben sie Ganztagsunterricht, was mir erlaubt, zu arbeiten und Zeit für mich zu haben. Nach der Schule kümmert sich unsere philippinische Haushalthilfe um sie, bis mein Mann und ich nach Hause kommen.
Ich mag meine Arbeit. Ich bin eine bekannte Journalistin bei einer angesehenen Tageszeitung, die in Genf, wo wir wohnen, praktisch an jeder Ecke verkauft wird.
Einmal im Jahr mache ich mit meiner Familie Urlaub. Normalerweise an paradiesischen Orten mit herrlichen Stränden, in »exotischen« Städten, deren arme Bevölkerung uns dankbar für alles sein lässt, was Gott uns gegeben hat.
Darf ich mich vorstellen? Ich heiße Linda, bin 31 Jahre alt, 1,75 groß, wiege 68 Kilo und kann mich dank der Großzügigkeit meines Mannes so attraktiv und teuer kleiden, wie ich nur will. Männer begehren mich, Frauen beneiden mich. Ich lebe in einer Welt, von der viele Menschen nur träumen können. Dennoch weiß ich jeden Morgen beim Aufwachen, dass der vor mir liegende Tag ein Desaster sein wird.
Bis zu Beginn dieses Jahres habe ich nichts in Frage gestellt, ich lebte einfach mein Leben, obwohl ich mich hin und wieder schuldig fühlte, weil ich so privilegiert bin. Doch eines schönen Tages kurz nach Frühlingsbeginn fragte ich mich plötzlich, während ich für meinen Mann und meine beiden Jungs das Frühstück zubereitete: Ist das alles?
Ich hätte diese Frage nicht stellen dürfen. Schuld daran war ein Schriftsteller, den ich am Vortag für meine Zeitung interviewt hatte und der irgendwann zu mir sagte: »Mir geht es überhaupt nicht darum, glücklich zu sein. Ich ziehe es vor, voller Leidenschaft zu leben, auch wenn es gefährlich ist, denn man weiß nie, wohin das führt.«
In dem Augenblick dachte ich noch: Der Arme, er ist nie zufrieden, er wird traurig und verbittert sterben.
Am Tag darauf wurde mir klar, dass mein Leben, so wie ich es lebe, keinerlei Gefahren birgt. Ich weiß immer, was mich am nächsten Tag erwartet, denn jeder ist wie der vorangegangene. Und Leidenschaft? Nun ja, ich liebe meinen Mann, was mich davor bewahrt, in Depressionen zu verfallen, weil ich nicht allein aus finanziellen Gründen, wegen der Kinder oder wegen des schönen Scheins mit ihm zusammenlebe.
Ich lebe im sichersten Land der Welt, mein Leben ist geordnet, ich bin eine gute Ehefrau und Mutter. Ich habe eine streng protestantische Erziehung genossen und habe vor, diese an meine Kinder weiterzugeben. Ich weiche nie vom rechten Weg ab, weil ich weiß, dass ich sonst alles aufs Spiel setzen würde. Ich versuche bei allem, was ich tue, so effizient wie möglich zu sein, und sichere mich ab, indem ich mich so wenig wie möglich persönlich einbringe. Denn vor meiner Ehe war ich, was an sich nichts Ungewöhnliches ist, oft unglücklich verliebt. Aber seit ich verheiratet bin, ist meine Zeit gleichsam stehengeblieben.
Bis dieser verdammte Schriftsteller dieses Statement abgegeben hat.
Aber was ist denn falsch an Routine und Gleichförmigkeit?
Ehrlich gesagt, überhaupt nichts. Nur…
…gibt es da die heimliche Angst, alles könnte sich von einem Augenblick zum anderen ändern und die Veränderung mich vollkommen unvorbereitet treffen.
Von dem Augenblick an, als ich an einem wunderschönen Morgen diesen ketzerischen Gedanken hatte, kam ich aus dem Takt. Und begann mein Leben zu hinterfragen. Wäre ich in der Lage, so grübelte ich, allein mit allem fertig zu werden, falls mein Mann sterben würde? Ja, antwortete ich mir selber, denn von dem Vermögen, das er hinterlassen würde, könnten mehrere Generationen leben. Und wenn nun ich sterben würde?, fragte ich mich weiter. Wer würde sich dann um meine Kinder kümmern? Mein geliebter Ehemann, war die Antwort. Aber nach einer gewissen Zeit würde er eine andere heiraten, denn er ist charmant, intelligent und außerdem reich. Wären meine Kinder dann in guten Händen?
Ein erster Schritt ist gewesen zu versuchen, eine Antwort auf all meine nagenden Fragen zu finden. Doch mit jeder Antwort tauchten noch mehr Fragen auf. Würde er sich womöglich später, wenn ich älter bin, eine Geliebte nehmen? Hatte er womöglich jetzt schon eine, da wir nicht mehr so häufig miteinander schlafen wie früher? Glaubte er vielleicht, ich hätte jemand anderen, weil ich für ihn in den letzten Jahren nicht mehr so viel Interesse gezeigt habe?
Eifersucht war bei uns bisher nie ein Thema, und ich fand das immer großartig, aber von jenem Frühlingsmorgen an keimte in mir der Verdacht, dass fehlende Leidenschaft der Grund sein könnte.
Ich tat alles, um nicht weiter darüber nachdenken zu müssen.
Eine Woche lang habe ich auf dem Nachhauseweg von der Redaktion immer einen Abstecher in die Rue du Rhône gemacht und mir etwas gekauft. Eher aufs Geratewohl, eher Verlegenheitskäufe, wie zum Beispiel etwas für den Haushalt.
Spielzeugläden mied ich, um meine Kinder nicht zu verwöhnen. Und auch an den Geschäften für Herrenbekleidung ging ich vorbei, denn wenn ich meinen Mann aus heiterem Himmel mit Geschenken überrascht hätte, wäre er möglicherweise misstrauisch geworden.
Wenn ich dann zu Hause in meiner perfekten privaten Welt ankam, schien für drei oder vier Stunden alles wunderbar. Aber nachts, im Schlaf, suchten mich zunehmend Alpträume heim.
Wenn einem in meinem Alter die Leidenschaft abhandenkommt, ist das wahrscheinlich etwas ganz Normales, denn Leidenschaft ist offenbar ein Privileg der Jugend. Das ist es nicht, das mir Angst macht.
Heute, ein paar Monate später, bin ich hin- und hergerissen zwischen der Angst, dass sich alles verändern könnte, und der Angst, dass alles bis zum Ende meiner Tage gleich bleibt. Manche meinen, dass mit dem Sommer die verrücktesten Gedanken kommen. Vielleicht liegt es an der Hitze, dass wir die Welt dann anders sehen und empfinden. Unser Haus wirkt dann größer, die Wolken und der Horizont scheinen weiter entfernt zu sein.
Sei’s drum. Jedenfalls kann ich nicht mehr richtig schlafen, und das liegt nicht an der Hitze. Wenn es Nacht wird und mein Mann schläft, bekomme ich Angst: Angst vor dem Leben, Angst vor dem Tod, vor der Liebe und deren Abwesenheit; davor, dass alles Neue zur Gewohnheit wird und dass ich meine besten Jahre mit Routine vergeude. Und zugleich ist da die Panik vor dem Unbekannten, so aufregend und abenteuerlich es auch sein mag.
Natürlich relativiert das Leid anderer mein eigenes.
Wenn ich zum Beispiel den Fernseher einschalte und in den Nachrichten von Unfällen höre und von Flüchtlingen, die durch Naturkatastrophen obdachlos wurden. Wie viele kranke Menschen gibt es wohl in diesem Augenblick auf der Welt? Wie viele von ihnen haben unter Unrecht und Verrat zu leiden? Wie viele Menschen leben in Armut, sind arbeitslos oder im Gefängnis?
Ich schalte auf einen anderen Sender. Schaue mir eine Seifenoper oder einen Spielfilm an, um mich für ein paar Minuten oder gar Stunden abzulenken. Zugleich habe ich schreckliche Angst davor, mein Mann könnte aufwachen und fragen: »Was ist mit dir, Liebling?« Weil ich dann antworten müsste, dass alles in Ordnung ist. Noch schlimmer wäre, was im vergangenen Monat schon drei- oder viermal vorgekommen ist, dass er im Bett sofort die Hand auf meinen Schenkel legen, sie ganz langsam hochwandern lassen und beginnen würde, mich dort zu berühren. Ich kann einen Orgasmus vortäuschen und habe das auch schon häufig getan, aber ich kann nicht einfach so beschließen, feucht zu werden.
Ich müsste ihm sagen, dass ich todmüde bin, und er würde sich, ohne seine Frustration zu zeigen, nach einem Gutenachtkuss auf die andere Seite drehen, die Spätausgabe der Tagesschau auf seinem Tablet-Computer ansehen und seine Hoffnungen auf den nächsten Abend setzen.
Aber das läuft nicht immer so. Hin und wieder muss ich die Initiative ergreifen. Ich darf ihn nicht Nacht für Nacht abweisen, sonst sucht er sich am Ende wirklich eine Geliebte, und ich will ihn doch auf gar keinen Fall verlieren. Wenn ich zuerst ein wenig masturbiere, gelingt es mir, vorher feucht zu werden, und alles nimmt wieder seinen normalen Lauf.
»Alles nimmt wieder seinen normalen Lauf« bedeutet: Nichts wird wieder sein wie früher, als wir füreinander noch ein Geheimnis waren.
Über zehn Jahre Ehe dasselbe Feuer bewahren zu können scheint mir unrealistisch. Und jedes Mal, wenn ich beim Sex Lust vortäusche, stirbt etwas in mir. Ich fühle mich immer leerer.
Meine Freundinnen sagen, ich hätte Glück – aber ich belüge sie, wenn ich sage, dass wir häufig miteinander schlafen, so wie sie mich belügen, wenn sie sagen, dass ihre Ehemänner immer noch genauso viel Interesse an ihnen zeigen wie früher. Sie meinen, dass Sex in der Ehe nur in den ersten fünf Jahren wirklich gut sei und man danach mit etwas »Phantasie« nachhelfen müsse. Man brauche nur die Augen schließen und sich vorstellen, dass der Nachbar neben einem liege und Dinge mit einem mache, die der eigene Mann nie wagen würde – dirty talk und perverse Ideen. Oder man müsse sich vorstellen, dass man von ihm und vom Ehemann gleichzeitig genommen wird.
Als ich heute die Kinder zur Schule brachte, sah ich mir meinen Nachbarn mal genauer an. Ihn habe ich mir noch nie auf mir vorgestellt, eher den jungen Reporter, der mit mir zusammenarbeitet und der immer so einsam und traurig wirkt. Er würde mich nie anmachen, und genau das macht ihn für mich interessant. Alle Frauen in der Redaktion haben schon mal gesagt, sie würden sich »gern um ihn kümmern, den Armen«. Ich glaube, das weiß er sehr wohl und genießt es, so begehrt zu sein. Vielleicht empfindet er aber auch das Gleiche wie ich: diese schreckliche Angst, einen falschen Schritt zu tun und damit alles aufs Spiel zu setzen – seine berufliche Stellung, seine Familie, seine Zukunft.
Ich hätte weinen können, als ich heute Morgen unserem Nachbarn begegnete. Er war gerade dabei, seinen Wagen zu waschen, und ich dachte: Irgendwann sind die Kinder aus dem Haus, und die Eltern sind Rentner und waschen ihr Auto. Ab einem bestimmten Alter beschäftigt man sich eben mit weniger Wichtigem, um den Tag auszufüllen, um sich und anderen zu beweisen, dass man körperlich noch fit, im Kern bescheiden geblieben und sich nicht zu schade ist, gewisse Arbeiten weiterhin selbst zu erledigen.
Ein sauberes Auto ist an sich nichts Weltbewegendes. Aber an diesem Morgen schien es meinem Nachbarn das Wichtigste. Er wünschte mir lächelnd einen guten Tag und polierte sein Auto so hingebungsvoll weiter, als wäre es eine Skulptur von Rodin.
Ich lasse meinen Wagen in einem Parkhaus und fahre von dort weiter mit dem Bus zur Arbeit – »Fahren Sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln ins Zentrum! Es reicht mit der Umweltverschmutzung!« Genf hat sich seit meiner Kindheit wenig verändert: Alte herrschaftliche Häuser stehen zwischen Bauwerken der sogenannten »neuen Architektur«, die von irgendeiner verrückten Baubehörde in den 1950er Jahren genehmigt wurden.
Immer wenn ich auf Reisen bin, habe ich Sehnsucht danach: nach dieser geschmacklosen Architektur, dem Fehlen von Wolkenkratzern oder von Stadtautobahnen; nach den Baumwurzeln, die den Asphalt aufbrechen und über die man ständig stolpert, nach den öffentlichen Parks mit den geheimnisvollen Holzzäunchen, hinter denen alle möglichen Kräuter und Unkräuter wachsen, weil »die Natur siegen soll«… Kurz, ich sehne mich nach einer Stadt, die anders ist als all die anderen Städte, die sich modernisieren und ihren Zauber verlieren.
Hier grüßt man sich noch auf der Straße und verabschiedet sich beim Verlassen eines Ladens. Man unterhält sich noch mit Fremden im Bus, obwohl alle Welt glaubt, dass die Schweizer diskret und zurückhaltend seien.
Was für ein Irrtum! Aber es ist