Unter dem Herzen: Ansichten einer neugeborenen Mutter - Teil 39
oder Dinkel-Heidelbeer-Gemisch.
Der Höhepunkt aber war, als mein Freund David neulich seinen Besuch ankündigte. «Komm doch eine halbe Stunde früher», sagte ich, «dann ist Schlominsky noch wach, und du kannst ihn dir anschauen.» Seine Reaktion: «Warum? Ich weiß doch, wie er aussieht. Du hast mir erst letzten Monat Fotos geschickt.»
Es ist nun mal so: Leute, die gewohnt sind, sich in ganzen und verständlichen Sätzen zu unterhalten, empfinden ein Kleinkind nicht als anregenden Gesprächspartner. Sie sehen die Schönheit nicht, die in einer gut gefüllten Windel verborgen liegt. Sie hören nicht die holde Melodie hinter dem schmetternden Bäuerchen, und sie empfinden es nicht als pädagogisch wertvolles Geräusch, sondern schlicht als ohrenbetäubenden Lärm, wenn dein Kind mit einer Blechdose auf Steinboden haut.
Auch wenn es wehtut, man muss sich als Mutter immer wieder klarmachen: Ein Baby ist kein interessanter Mensch. Und nein, da gibt es keine Ausnahme.
Fast keine.
«Heute sind Kinder ein Juwel –
und müssen funkeln, sonst hat es
sich nicht gelohnt.»
REMO LARGO
3. März
Rituale, die früher in reibungsloser Harmonie abliefen, geraten jetzt zu ernstzunehmenden Herausforderungen.
Die Nahrungsaufnahme: Da das Kind mittlerweile weiß, wie man brav ein Gläschen Bio-Müsli ohne nennenswerte Verzögerung aufisst, möchte es jetzt zeigen, was es noch alles kann, nämlich die Küche innerhalb weniger Minuten in einen dringend renovierbedürftigen Raum zu verwandeln. Der Brei geht ja nicht nur in den Mund rein, er kommt auch wieder raus – toll! Und wenn ich bloß heftig genug mit den Armen herumfuchtele, bekommt auch Mamas weiße Bluse was zu essen – toll! Und wenn ich mit beiden Händen nach dem Löffel greife und mir dann das Möhrenmus in die Haare schmiere, ist das ein ganz neuartiges haptisches Erlebnis – toll!
Das Baden: Vorbei die Zeit, in der Baby sich behaglich und entspannt in der Wanne aalte wie eine greise Seekuh. Jetzt dient das Badewasser hauptsächlich einem Zweck: so viel wie möglich davon durch intensives Planschen und Strampeln aus der Wanne heraus- und auf den Badezimmerboden zu befördern. Ein ernsthafter Wasserschaden, der auch die Nachbarschaft in Mitleidenschaft ziehen wird, ist nur noch eine Frage der Zeit.
Das Einschlafen: Nach wie vor schläft das Kind am besten auf einem beweglichen Untersatz ein, der Mama, Papa oder Patenonkel heißt. Bloß wiegt das gute Stück mittlerweile fast so viel wie ein Kasten Mineralwasser! Ich denke, die spätgebärende Mutter tut gut daran, sich beizeiten einen ausgezeichneten Orthopäden zu suchen.
Und einen hervorragenden Psychiater, denn das Windelwechseln ist mittlerweile zu einer nervlich kaum mehr zumutbaren Belastung geworden. Einem sehr beweglichen und übellaunigen Objekt die Hose und die Windel auszuziehen, den Hintern abzuputzen, womöglich noch einzucremen und das Ganze wieder sauber zu verpacken, ist eine ungeheure physische und psychische Leistung. Ehrlich, da wäre ich auch lieber Vorstand einer Bank und käme nach neun nach Hause, wenn die Kinder sicher schlafen.
Nun will ich aber nicht unerwähnt lassen, dass das Zusammenleben mit einem Zehn-Monats-Baby auch seine Vorteile hat. Man kommt zum Beispiel viel an die frische Luft. Mein Sohn findet das Zusammensein mit mir allein auf Dauer nämlich zu langweilig. Deswegen sind tägliche Spaziergänge und Besuche auf dem Spielplatz angesagt.
Da sitzt er dann rum, versucht den Sandkasten leerzuessen und die Förmchen der anderen Kinder in seinen Besitz zu bringen. Dabei tut er die ganze Zeit so, als gäbe es mich gar nicht, und winkt aufdringlich fremden Eltern zu, als wolle er unbedingt adoptiert werden.
Bloß wenn es Probleme gibt – Hunger, Windel voll, Hintern kalt, oder ein Kind nimmt ihm ein Spielzeug weg, das ihm sowieso nicht gehört –, dann bin ich meinem Sohn wieder gut genug. Da werden die Ärmchen hochgerissen, nach einem Erziehungsberechtigten krakeelt, und jeglicher Wunsch nach Abnabelung und Selbständigkeit ist auf der Stelle vergessen.
Na ja, Hauptsache frische Luft und viel Bewegung, sag ich immer. Außerdem kann man auf dem Spielplatz ganz wunderbares Sozialkino in 3-D erleben.
Es gibt die Mütter, die immer alles dabeihaben. Und zwar strategisch so überlegen gepackt, dass sie eine komplette Überlebensausrüstung inklusive Sitzkissen, Sandspielzeug, Thermoskanne, Wechselwäsche, Feuchttüchern, Apfelstückchen, Möhrenschnitzen und Fieberzäpfchen in einer einzigen Wickeltasche, die am Kinderwagen hängt, unterbringen können.
Wenn ich ausnahmsweise mal alles dabeihabe, muss ich mit dem Auto fahren.
Meistens haben die Mütter, die immer alles dabeihaben, Töchter. Die tragen winzige Ugg-Boots, schmalgeschnittene Jeans und rosafarbene Daunenjacken von Ralph Lauren. Diese zuckersüßen kleinen Damen spielen im Sand, ohne sich schmutzig zu machen oder sich gegenseitig mit Schaufeln oder Ästen zu bedrohen.
Missmutig und neidisch beobachten Johanna und ich die Mädchenmütter, die ab und zu ihren kleinen Engeln ein Spängchen ins Haar schieben, das fliederfarbene Kleidchen zurechtzupfen – das am Abend noch genauso sauber sein wird wie am Morgen – und ansonsten entspannt ihr Gesicht in die Sonne halten oder sich auf ihrem Sitzkissen in ein Buch vertiefen, während das Selbstgezeugte anmutig und ruhig ein Sandküchlein für ihre Puppe backt.
Johanna hingegen ist nur in Sachen Schadensbegrenzung unterwegs. Irgendeiner ihrer Söhne tut immer gerade etwas, was nicht so gern gesehen wird. Mit Sand schmeißen, Schimpfworte brüllen, Mädchen ärgern, sich in eiskalten Pfützen suhlen.
Mädchenmütter springen nur dann panisch auf, wenn sich ein Junge mit Spaten, Eimer und sehr lauter guter Laune nähert. Dann tun sie so, als hätte ein Dobermann ohne Maulkorb die Sandkiste betreten.
Als jedoch neulich ein forsches Mädchen Johannas Sohn vom Schwebebalken schubste, weil er ihr irgendwie im Weg war, sagte ihre Mutter stolz: «Die Karlotta weiß eben schon ganz genau, was sie will.»
Jungs hingegen gelten als gewaltbereit und schwererziehbar, sobald sie ganz genau wissen, was sie wollen.
Neulich klagte Johanna mir ihr Leid: «Ich werde diskriminiert! In Spaßbädern, auf Indoor-Spielplätzen und als Teilnehmerin von Spielgruppen, in denen irgendwas früh gefördert werden soll, bin ich nur mäßig gern gesehen. Keiner freut sich, dass ich zwei Söhne habe. Nicht selten denke ich ja selbst: Das sind zwei zu viel. Der eine ist zweieinhalb und zeigt bereits geschlechtsspezifisches Verhalten wie grundsätzlich sehr lautes Sprechen, unter keinen Umständen ruhiges Sitzen, niemals langsames Gehen und auf Mama zielen mit allem, was auch nur im Entferntesten an eine Schusswaffe oder ein Ritterschwert erinnert. Der andere ist fünf und, nun ja, ich möchte sagen, eine wunderbare Herausforderung an die Weiterentwicklung meiner pädagogischen Fähigkeiten. Ein Junge, wie man ihn sich früher gewünscht hätte, als Männer und ihre typischen Eigenschaften noch nicht gesellschaftlich geächtet wurden. Bei dem Mutter-Kind-Kurs ‹Musikgarten›, den ich als aufgeklärte Spätgebärende selbstverständlich gebucht hatte, fielen zwei Dreijährige, einer von ihnen natürlich meiner, ständig auf. Erstens, weil sie selbstbewusst und fröhlich tanzten und trommelten – nicht wohltemperiert, aber engagiert. Und zweitens, weil sie es nicht schafften, lange konzentriert stillzusitzen und verschiedenen Vogelstimmen zu lauschen oder leise Xylophon zu spielen. ‹Zu lebendig›, nannte die leitende und leidende Pädagogin unsere Jungs. Und die Mutter eines sehr zurückhaltenden Mädchens sagte mir vor ein paar Wochen, sie würde nie wieder einen Kurs buchen, bei dem ich und mein Sohn dabei seien, da ich offenbar nicht in der Lage sei, mein Kind zu bändigen. Nach der richtigen Antwort suche ich bis heute.»
Ich habe die Antwort. Also nicht ich persönlich, aber ich habe mit dem Experten Dr. Jan-Uwe Rogge gesprochen. Der ist Familienberater und Autor der Bestseller «Kinder brauchen Grenzen» und «Lauter starke Jungen». Seine Antwort widme ich Johanna und mir und allen Jungs-Müttern, denen auch manchmal glauben gemacht wird, sie hätten einfach wahnsinniges Pech gehabt, dass ihre Söhne keine Töchter sind:
Achten Sie auf Ihren Sohn und nicht auf solche blöden Harmonie-Tussen. Es stimmt: Wenn man einen Jungen hat, ist man schnell stadtbekannt. Jungen spielen nicht schön und anmutig. Man fährt mit ihnen besser in ein Camp als in ein feines Hotel. Jungen sind anstrengender als Mädchen. Stillzusitzen fällt ihnen schwerer, sie müssen sich mehr bewegen. Viele Jungen malen und schreiben nicht gerne, Mathematik fällt ihnen hingegen oft leichter. Mädchen entwickeln sich stetig aufwärts. Jungs entwickeln sich langsamer, in Schüben und auch mal zurück. Aber: Jungen sind gut so, wie sie sind. Diese allgegenwärtige Stigmatisierung geht mir auf den Senkel. Jungen raufen sich, sagen «Arschloch» und meinen es genau so. Mädchen reißen ihren Puppen heimlich die Haare aus, sind hintenrum und gemein. Es gilt jedoch als ungeschriebenes Gesetz, dass das Mädchenverhalten das richtige ist. Erst ganz allmählich setzt sich die Erkenntnis durch, dass sich nicht die Jungen ändern müssen, sondern zum Beispiel das Schulsystem den Jungen entgegenkommen müsste. Jungs brauchen das Gefühl, in Ordnung zu sein. Dann lernen sie auch, gesellschaftsfähig zu sein. Als Mutter brauchen Sie besonders viel Geduld. Und wenn Ihr Sohn irgendwann auszieht, werden Sie zurückschauen und denken: Aber schön war es doch!
Na also. Und morgen treffe ich mich mit Johanna auf dem Spielplatz. Zum Mädchen-Mütter-Erschrecken.
«Die Beziehung zu Eltern ist, je älter die Kinder werden, umso reiner nur noch Kultur. Natürlich sind nur die Bindungen der Eltern zu den Kindern. Eltern werden nie so selbständig, wie Kinder glücklicherweise werden.»
MARTIN WALSER
6. März
Heute ist der Geburtstag meines Vaters. Jetzt wäre er Großvater, und ich frage mich manchmal, wie er als Opa gewesen wäre. Als Vater war er eine großartige, beeindruckende, intensive Zumutung, Herausforderung und Bereicherung.
Heute singe ich meinem Sohn dieselben wunderschönen ungarischen Schlaflieder vor, mit denen mein Vater mich beruhigte. Er trug mich Stunde um Stunde durchs Haus, wenn ich zahnte oder fieberte, und sang und sang. Seine Stimme kann ich immer noch hören.
Mein Vater war Pädagoge. Und als Heranwachsende habe ich mir nicht selten gewünscht, sein Fachgebiet sei der Autohandel, die Teilchenphysik oder das Tischlerhandwerk.
Denn als einzige Tochter eines Professors für Erziehungswissenschaften bist du quasi das, was für einen Eheberater die eigene Beziehung und für einen Torwart das Tor ist – nämlich der Bereich, in dem er von sich glaubt, sich