Unter dem Herzen: Ansichten einer neugeborenen Mutter - Teil 38
nicht unsere erste Krise. Wir hatten schon aus anderen Gründen Nächte durchwacht, Stimmungstiefs durchschritten und Trennungen nur haarscharf umschifft.
Und ich habe das Glück, einen Mann ergattert zu haben, der denken kann und der, das ist noch wichtiger, seine Gefühle durch seine Klugheit beeinflussen und lenken kann.
Das ist zum Beispiel bei mir nicht der Fall. Ich kann zwar auch denken, aber das führt nicht sehr oft zu handfesten Veränderungen meines Verhaltens. Ich tue relativ oft Dinge, von denen ich relativ genau weiß, dass ich sie nicht tun sollte.
Und auch auf emotionaler Ebene ist mir das Gefühl näher als der Verstand. Selbst wenn ich sehr genau weiß, dass ich nicht sauer, beleidigt oder bekümmert sein sollte – bin ich es meist trotzdem.
Das ist außerordentlich bedauerlich.
Noch aber nehme ich grundsätzlich alles persönlich, und ich wäre ein sehr, sehr schlechter Ehemann und Vater geworden, von dem sich die Frau garantiert noch während der Eröffnungswehen getrennt hätte.
Ich hoffe jeden Tag, dass unsere Ehe hält und sich mein Mann nicht von mir, meinen Stimmungs- und Gewichtsschwankungen, meinen unförmigen Schlafanzügen und meiner Egozentrik in die Flucht schlagen oder sich abwerben lässt. Ich hoffe, dass er mich tapfer weiterliebt, mein Fels in der Brandung bleibt. Dass er die Nerven bewahrt, wenn ich durchdrehe, und eisenhart auch bei Schneeregen gegen meinen Willen mit unserem Kleinen spazieren geht, damit der keine verweichlichte Superlusche wird.
Ich wollte meinen Mann immer schon gern behalten. Aber jetzt ist er nicht nur mein Mann, sondern auch der Vater meines Sohnes. Ich hätte also, sollte ihm einfallen, eine neue Existenz mit einer dünnen Blonden gründen zu wollen, nicht nur Angst vor dem Alleinsein, sondern, viel mehr noch, vor dem Alleinerziehendsein. So allgegenwärtig, so nahezu selbstverständlich es auch ist, in Patchworkfamilien zu leben, Papa-Wochenenden und Unterhaltsverpflichtungen auszuhandeln – mir wird erst jetzt bewusst, was man verliert, was alle verlieren, wenn Eltern auseinandergehen.
Ich bewundere und ich bemitleide Gina, die Tag für Tag und Nacht für Nacht allein mit ihrem Sohn und der Verantwortung für ihn ist. Sie kann die täglichen kleinen Sorgen nicht teilen und nicht das Glück, nicht die plötzliche Angst. Und die Momente, in denen ihr Sohn aussieht wie sein Vater, rühren sie nicht.
Sie tröstet ihren Jungen, wenn er Sehnsucht nach seinem Vater hat, der ihn wieder nicht abgeholt hat. Sie tröstet ihren Jungen, wenn sie es mal wieder nicht vermeiden konnte, dass er seine streitenden Eltern im Treppenhaus hören konnte.
Und so ganz nebenher arbeitet sie ja auch noch halbtags, wäscht, kocht, putzt, kauft ein, geht zum Kinderarzt, durchwacht Nächte am Kinderbett, bestückt Adventskalender und besucht einen Kinderpsychologen, weil sie fürchtet, dass das vaterlose Aufwachsen, das viele Hin und Her und der Streit nicht spurlos an ihrem Jungen vorbeigehen werden.
Es ist aufwühlend, ein Kind zu haben. Es hat seinen Sinn, dass man dabei zu zweit ist, und ich möchte es gern bleiben. Ich sollte vielleicht meinen Charakter etwas partnerschaftstauglicher gestalten. Zumindest aber neue Schlafanzüge kaufen.
«Erziehung ist Atmosphäre,
weiter nichts.»
THOMAS MANN
1. März
Jetzt ist es an der Zeit, sich um eine Sache verstärkt zu kümmern: die Verwandlung der eigenen Wohnung in einen Hochsicherheitstrakt.
Aus rein ästhetischen Gesichtspunkten handelt es sich hierbei nicht um eine positive Veränderung. Sowohl Mütter als auch Immobilien neigen dazu, sich durch die Anwesenheit eines Babys in praktische, durchdachte Zonen zu verwandeln, bei denen auf unnötigen oder gar gefährlichen Schnickschnack wie Halsketten, Ohrringe, Bodenvasen und feingeschliffene Kristallglaskerzenständer auf kniehohen Beistelltischen verzichtet wird.
Es ist nämlich so, dass sich der kniehohe Mensch generell nicht für das für ihn vorgesehene Spielzeug interessiert. Man kann zum Beispiel davon ausgehen, dass sich ein Kind, das sich zeitgleich in einem Raum mit sechs Teddybären, einer Kugelbahn, zwei Bobbycars und einem schweineteuren, nagelneuen Mobiltelefon mit integrierter Tausend-Megapixel-Kamera befindet, sich auf der Stelle auf das Handy stürzen und ausprobieren wird, wie bruchsicher eigentlich das Display ist.
Die besonders neunmalklugen unter den Eltern – zu denen gehöre ich – rennen dann augenblicklich zum nächstgelegenen Baby-Markt, um dort ein Baby-Handy zu kaufen. Bunt, strapazierfähig, und wenn man auf die Taste mit dem Hörersymbol drückt, dann sagt es «Hallo» oder «Dingeldingelding». Mein Sohn schenkte der Telefonattrappe gerade mal eine halbe Minute Aufmerksamkeit. Dann durchschaute er das Ablenkungsmanöver, bedachte mich mit einem Blick voller Verachtung und robbte anschließend würdevoll und dennoch zügig auf die Stereoanlage zu.
Wenn man also nicht den ganzen Tag «Finger weg, du doofes Baby!» schreien, sich panisch zwischen Treppenabsatz und Kind schmeißen und Schmuckstücke sowie technisches Gerät zu teuren Reparaturen bringen will, bleibt einem nichts anderes übrig, als sich selbst und die Wohnung kindgerecht zu gestalten.
Das zehn Monate alte Kind ist, ähnlich wie ein Hefekuchen, ein wunderbares, allerdings völlig unkalkulierbares Geschöpf. Es bewegt sich, jedoch ohne zu wissen, wohin. Leider wächst mit der zunehmenden Mobilität des Babys der Verstand nicht proportional mit.
Mein Sohn freut sich jeden Tag aufs Neue, dass er nicht nur krabbeln, sondern sich auch an Tischdecken hochziehen, an wackeligen Handtuchständern entlanghangeln und sich seinem Vater wie ein liebestoller Terrier ans Bein klammern kann.
Jetzt beginnt die Phase – und mir wurde von erfahrenen Müttern angedeutet, sie würde etwa fünfundzwanzig Jahre dauern –, in der man sich nach der Zeit zurücksehnt, als das Kind ein Säugling war und nur rumliegen und schreien konnte. Leider wusste man diesen Zustand damals nicht zu schätzen, weil man keine Vorstellung hatte, was die Zukunft bringen würde.
Jetzt schreit das Kind nicht nur, sondern es kneift und tritt gleichzeitig, oder es droht damit, sich irgendwo hinunterzustürzen oder ein Erbstück von hohem ideellem und finanziellem Wert zu zerstören.
Jeden Tag sieht man mich schmallippig in den Keller hinuntersteigen, um erneut ein liebgewonnenes, zerbrechliches Dekorationsobjekt in Sicherheit zu bringen. Jeden zweiten Tag sieht man mich, noch etwas schmallippiger, an den Mülltonnen, um erneut ein liebgewonnenes, zerbrochenes Dekorationsobjekt zu entsorgen. Vor der Bewegungsfreude eines zehn Monate alten Kindes ist nichts und niemand sicher.
Und auch als Mutter schwebt man pausenlos in Gefahr. Mein Junge zum Beispiel ist jetzt dazu übergegangen, mir seine Zuneigung nicht mehr bloß durch ein engelsgleiches Lächeln zu zeigen. Stattdessen stürzt er sich gerne aus heiterem Himmel kreischend auf mich, um mir wahlweise in Nase, Wange oder Hals zu beißen oder mich mit einer gezielten Kopfnuss niederzustrecken.
Diese anfallartigen Sympathiebekundungen enden nicht selten blutig oder mit deutlich sichtbaren Abdrücken von insgesamt vier Zähnen in meinem Gesicht.
Mein Mann öffnete neulich dem Paketboten die Tür, ohne zu bemerken, dass sein Sohn ihm die Stirn zerkratzt hatte. Mit dem Rinnsal Blut zwischen den Augen sah er original so aus wie die Opfer in amerikanischen Actionfilmen, die von einem Scharfschützen mit einem einzigen Schuss niedergestreckt wurden.
Das Gesicht unseres Sohnes sieht allerdings oft nicht viel besser aus. Bedauerlicherweise hat er meinen blassen Teint geerbt, auf dem jeder Kratzer und jeder blaue Fleck einen ungeheuer intensiven Eindruck hinterlässt.
Ich muss hier einmal etwas über Tür- und Treppenschutzgitter loswerden. Sollten Sie irgendwelche Probleme beim Zusammenbauen oder Anbringen dieser Sicherheitsvorrichtungen haben, dann fragen Sie auf keinen Fall mich um Hilfe. Und meinen Mann auch nicht. Ich möchte an dieser Stelle auf seinen Abschluss in Literaturwissenschaft und die entsprechenden handwerklichen Unfähigkeiten hinweisen.
Es macht mich grundsätzlich skeptisch, wenn ich in Gebrauchsanweisungen Begriffe lese wie «kinderleicht» oder «mit wenigen einfachen Handgriffen zu montieren».
Ich habe schon Stunden mit angeblich «kinderleichten» Selbstbaumöbeln verbracht, eines von ihnen steht immer noch auf dem Dachboden. Ein trauriger Bretterhaufen, aus dem nie auch nur annähernd das geworden ist, was er «mit wenigen einfachen Handgriffen» angeblich hätte werden können.
Unsere Tür- und Treppenschutzgitter wurden jedenfalls von einem Fachmann befestigt. Mir selbst hätte ich in dieser Angelegenheit nicht über den Weg getraut, und eine von mir gesicherte Treppe halte ich für tausendfach gefährlicher als eine gänzlich ungesicherte.
Ich fühlte mich jedenfalls enorm erleichtert beim Anblick der diversen Gitter. Ich atmete auf, mein Sohn war gerettet. Tags darauf kam der kinderlose Marcel zu uns zu Besuch.
Mir liegt viel an der Freundschaft zu Menschen ohne Kinder. Ehrlich. Aber es ist nicht immer einfach. Ich bemühe mich schon redlich, ziemlich wenig und nur auf einigermaßen aufrichtige Nachfragen über mein Baby zu sprechen.
Alles, was die Konsistenz seiner Exkremente, sein engelsgleiches Äußeres und seine fraglos überwältigende Intelligenz betrifft, lasse ich ganz weg. Ich habe kein Foto von ihm als Bildschirmschoner oder auf dem Handy-Display, und ich verschicke nur selten ungefragt minutenlange Videosequenzen als E-Mail-Anhang, auf denen mein Sohn einfach nur so rumliegt und faszinierend grunzt.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie herrlich es war, kein Kind zu haben – solange mich nicht Eltern mit den stinklangweiligen Anekdoten ihres Nachwuchses angeödet haben. Kinder sind was für Eltern, habe ich damals gelernt. Und ich habe es mir bis heute zu Herzen genommen.
Aber heute leide ich manches Mal unter der Rüpelhaftigkeit der Menschen, die keine Eltern sind. Ist es wirklich nötig, lieber Marcel, unser Wohnzimmer mit den Worten zu kommentieren: «Rein designmäßig betrachtet habt ihr euch durch das Kind ja nicht gerade verbessert.»
Klar, so ein Laufstall vor dem Regal ist nicht jedermanns Sache, das weiß ich selbst, und auch, dass der Flachbildfernseher einen Gutteil seiner Würde verloren hat, seit er als Halterung für ein bei Babys sehr beliebtes Vögelchen-Mobile missbraucht wird.
Und ja, auch ohne sachdienliche Hinweise ist mir bewusst, dass der Art-déco-Esszimmertisch keinen tiefen Eindruck mehr macht, seit ein dunkelbrauner, psychedelisch gemusterter Plastik-Hochstuhl mit abnehmbarem Tablett und Anti-Schmutz-Beschichtung davorsteht.
Ich liebe ja auch sehr die Leute, die bisher von eigenem Nachwuchs verschont geblieben sind und mir mahnend zuraunen: «Du, du hast da einen Fleck.»
Ach was? Ich habe ständig irgendwo einen Fleck – wenn ich Glück habe. Meistens habe ich aber achtzehn Flecken unterschiedlichster Herkunft, hier etwas Pastinake, da ein bisschen Nasenblut