Unter dem Herzen: Ansichten einer neugeborenen Mutter - Teil 25
noch so zwei, drei Jahre hier bleiben, umgeben von geschultem Fachpersonal, das mir die Bedienung meines Babys so lange erklärt, bis es mir selber sagen kann, was eigentlich los ist.
Denn, wie der Name schon sagt, ist ein Neugeborenes in erster Linie eines: neu.
Erschwerend hinzu kommt: Es spricht nicht. Man kennt sich nicht und kann sich nicht unterhalten. Schwierig.
Da wächst dieses Teilchen vierzig Wochen lang in einem heran, und dann ist man sich trotzdem fremd. Das ist irgendwie enttäuschend. Mindestens so enttäuschend wie der Blick in den Spiegel am Tag nach der Entbindung. «Haben die da noch ein Kind drin vergessen?», fragte ich die Hebamme, missmutig auf meinen Bauch deutend. Schließlich habe ich Heidi Klum vor Augen, die vier Wochen nach der Geburt ihres Kindes schon wieder in Unterwäsche über den Laufsteg geschwebt war.
Das erscheint mir aber bei genauer Betrachtung meines Körpers kaum zu schaffen.
Nein, mir wird ganz bang, wenn ich an meine Entlassung aus dem Krankenhaus denke. «Lasst mich nicht mit diesem Kind alleine», möchte ich verzweifelt schreien und vor dem Schwesternzimmer einen Sitzstreik antreten.
Voller Angst denke ich an Johanna, deren zweiter Sohn an den berüchtigten Dreimonatskoliken litt. Er schrie und schrie und schrie. Tag und Nacht.
Und Johanna weinte am Telefon, wenn wir miteinander sprachen, vor Müdigkeit, vor Verzweiflung, vor bitterer Enttäuschung, dass das Leben mit einem sehnlichst erwünschten Baby so grausam an den Nerven zehren kann, dass du dir nichts mehr wünscht, als endlich mal wieder in Ruhe aufs Klo gehen zu können.
«Arbeiten gehen ist der wahre Mutterschutz», hatte Johanna gesagt und ihren Mann beneidet, der morgens ins Büro floh, während sie ihren bereits wieder schreienden Sohn herumtrug und versuchte, ihn so lange durch Lieder zu beruhigen, bis ihr das Repertoire versiegte und sie heulend sang: «He, ho, wir gehn in Puff nach Barcelona!»
Hatte aber auch nichts gebracht.
Johanna sagte damals zu mir: «Mit der Geburt beginnt der freie Fall. Du bringst etwas zur Welt, das komplett von dir abhängig ist. Aber du hast von nichts ’ne Ahnung. Auf einmal hast du es mit einem echten Menschen zu tun, der leidet, Bedürfnisse hat und Ängste. Ein Mensch, den du mehr liebst als dein eigenes Leben, der sich aber nicht akkurat mitteilen kann. Es gibt kein System, das sicher funktioniert. Dabei sind wir doch gewohnt, dass alles nach einem System funktioniert. Ich habe eine Excel-Tabelle mit dem Schlafprotokoll meines Sohnes angefertigt. Seine Still- und Scheißzeiten hätte ich in einer beeindruckenden PowerPoint-Demonstration präsentieren können. Und? Er schreit einfach weiter. Ich kann meinem Kind nicht helfen. Hilfe! Ich habe die Oberhoheit über mein Leben und meinen Körper abgeben müssen. Ich war noch traumatisiert von den Wehen, bei denen ich dachte, mir explodieren die Augäpfel und Gehirnmasse spritzt mir aus den Ohren. Statt sich davon erst mal erholen zu können, geht der Stress sofort weiter mit einem Körper und mit einem Kind, die beide nicht so funktionieren, wie man das gerne hätte. Wer redet denn schon offen über so ekelige Sachen wie Inkontinenz und Depressionen nach der Geburt? Einmal gehustet – schon ist die Hose voll! Die dritte Nacht mit Baby habe ich durchgeheult. Ich war verzweifelt über die nicht mehr rückgängig zu machende Veränderung meines Lebens und gleichzeitig zutiefst beschämt, dass ich diese Verzweiflung empfand. Ich hatte ein gesundes Wunschkind geboren. Glückseligkeit, dachte ich, müsste doch mein Pflichtzustand sein. Und ganz ehrlich, das Thema Wochenfluss müsste mal im Bundestag debattiert werden, damit man erfährt, was da so rein mengenmäßig auf einen zukommt. Du denkst sonst ja, wenn du nichtsahnend unter der Dusche stehst, du seiest die Hauptdarstellerin in dem Remake von ‹Psycho›. Aber das sagt dir natürlich niemand. Denn drei Monate später hört dein Kind schlagartig auf zu schreien, und du vergisst alles, was davor war.»
Drei Monate später hörte Johannas Sohn schlagartig auf zu schreien, und sie vergaß alles, was davor war.
Ich leider nicht. Ich habe viel zu viele Sätze gehört, die mit den Worten anfingen: «Ganz ehrlich …» oder «Das sagt dir natürlich keiner …». Ehrlichkeit wird meines Erachtens völlig überschätzt, und wenn sich zu bestimmten Themenbereichen keiner detailliert äußern mag, dann hat das vielleicht auch einen guten Grund.
Morgen werden mein Sohn und ich ins wahre Leben entlassen. Ganz ehrlich: Ich rechne lieber mal mit dem Schlimmsten.
«Kinder sind die lebenden Botschaften,
die wir in eine Zeit übermitteln,
an der wir selbst nicht mehr teilhaben werden.»
NEIL POSTMAN
25. April
Das Buch auf dem Nachttisch, aufgeschlagen auf der Seite, die ich las an meinem letzten kinderlosen Abend. Die angebrochene Tube Tomatenmark. Hatte Spaghetti gegessen, kurz bevor es losging. Die DVD im Recorder. Die Mail von den Stadtwerken, dass am einundzwanzigsten April die blauen Altpapiertonnen geleert werden. Im Wäschekorb die Umstandsjeans, die mir jetzt (hoffentlich) zu groß sein wird.
Fremde Welt, in die ich aus dem Krankenhaus zurückkehre. Alles erscheint mir seltsam, weit weg, nichtig. Überbleibsel aus einem fernen Leben, in dem es ihn noch nicht gab.
Mein Vater starb unerwartet. Der Kurzwellenempfänger eingestellt auf den Sender, den er tagein, tagaus hörte: «Radio Freies Europa». Die Schokolade, seine Lieblingssorte «Ritter Sport Nougat», angebrochen im Küchenschrank. Sein Schlafanzug unter dem Kopfkissen roch noch nach ihm. Seine letzten Worte am Telefon, kurz bevor er ins Krankenhaus ging: «Ich hab dich lieb, mein Schätzchen.» Die letzten Worte in seinem Leben: «Macht euch keine Sorgen um mich.»
Fremde Welt, in die ich von seinem Sterbebett zurückkehrte. Alles erschien mir seltsam, weit weg, nichtig. Überbleibsel aus einem fernen Leben, in dem es ihn noch gab.
Ich sah meinem Vater als Kind sehr ähnlich. «Schon rein auf Sicht müsstest du Alimente zahlen», sagte meine Mutter zu ihm. Ein häufig wiederholter Scherz, der meinen Vater stets und immer wieder stolz machte. «Papas Tochter», sagten die Leute. Er konnte es nicht oft genug hören.
Mein kleiner Sohn sieht so haargenau aus wie sein Vater, dass es fast schon lächerlich ist. Selbst mein Mann, der nicht einmal eine Ähnlichkeit zwischen den Kessler-Zwillingen feststellen würde, sagt, es sei befremdlich. Er hätte neulich beim Windelwechseln den Eindruck gehabt, sich selbst zu wickeln.
Sogar diesen hanseatischen, etwas abschätzigen Gesichtsausdruck legt unser Baby schon an den Tag. Mündchen spitz, eine Augenbraue hochgezogen. Beim Stillen sieht er aus, als hätte die Milch Kork und zudem nicht den von ihm bevorzugten Jahrgang.
«Papas Sohn», sage ich dann und freue mich, dass ich wie meine Mutter klinge.
Die ersten drei Wochen
Die Hebamme ist mir, wider Erwarten und wohl auch aus Mangel an Alternativen, sehr ans Herz gewachsen.
Sie kommt jeden Tag und weist mich in den grundlegenden Umgang mit dem Baby und anderen sich nicht selbst erklärenden Dingen ein.
Sie bringt mir und meinem Mann den Fliegergriff bei, eine rasant lässige Art, das Baby auf einem Unterarm zu transportieren. Sie zeigt mir unterschiedlichste Stillpositionen und versucht, klare Antworten zu geben auf Fragen wie: Warum schreit es? Warum schreit es nicht? Was sind das für hässliche Pickel auf seiner Nase? Brauchen andere Leute auch zehn Minuten, um ihr Kind auf dem Autorücksitz festzuschnallen? Schreien andere Kinder auch los, sobald man vor einer roten Ampel zum Stehen kommt? Schläft es endlich? Aber warum so lange?
Denn pennt er nicht, bin ich nicht froh. Pennt er meiner Meinung nach zu lange, ist mir das auch nicht recht, und ich rüttle mal ein bisschen an ihm rum. Mein Sohn, eine ziemliche Schnarchnase, ist wahrscheinlich das erste Baby, das froh ist, wenn seine Mutter endlich durchschläft.
In den ersten Wochen gibt es nichts, was normal ist. Bereits auf dem Weg vom Krankenhaus nach Hause hatte ich bemerkt, dass sich in meiner kurzen Abwesenheit die ganze Welt verändert hatte.
Bäcker, Post, Park: Sollte mir alles vertraut sein, aber es kam mir vor, als sei ich Ewigkeiten fort gewesen. War ich ja auch. Eine Ewigkeit von vier Tagen.
Die Fahrt nach Hause dauerte zwanzig Minuten. Mein Kind, dreieinhalb Kilo schwer und dreiundfünzig Zentimeter klein, saß hinter mir in der heiklen Babyschale, der Vater neben mir, sehr umsichtig fahrend.
Wir sind zu dritt! Und ich wunderte mich zutiefst, dass sich rechts und links keine begeistert jubilierenden Menschenmassen eingefunden hatten, um uns willkommen zu heißen. Wo waren die Spruchbänder, wo die ausgelassen tanzenden Grüppchen, wo die Musikanten, wo die eigens engagierten Artisten?
Ihr Leute in den Autos und auf den Bürgersteigen, habe ich gedacht, merkt ihr es denn nicht? Die Welt ist nicht mehr so, wie sie war. Denn: Mein Baby ist da!
An der ersten roten Ampel stieg ich zur Sicherheit aus, um kurz zu überprüfen, ob das auch stimmte und ob es noch atmete. Ja, Tatsache, stellte ich erleichtert fest: Mein Baby ist da!
In der ersten Nacht zu Hause schlief ich aus zwei Gründen schlecht. Erstens vor Aufregung, weil neben mir im Beistellbettchen mein Sohn lag. Und zweitens, weil die kostbaren Wolle-Seide-Stilleinlagen im feuchten Muttermilch-Milieu meines BHs einen unerträglichen Gestank nach altem, nassem Schäferhund ausdünsteten.
Gleich am nächsten Morgen befahl ich meinem Mann, im Drogeriemarkt selbstklebende Einweg-Stilleinlagen zu kaufen.
Mein Leben ist mit einem Mal voll von tückischen Objekten, voller hinterhältiger Gegenstände, mit denen sich das Zusammenleben nicht immer einfach gestaltet.
Mit meinem Sohn kamen gleichzeitig eine Babyschale für die Autorückbank auf die Welt, mehrere langärmelige Bodys mit Bändchenverschluss und ein Kinderwagen inklusive Regenabdeckung.
Den Einsatz all dieser Dinge sollte man besser ein paarmal in Situationen üben, wenn es nicht darauf ankommt, dass sie funktionieren.
Der Kinderwagen zum Beispiel ist nicht «mal eben schnell» in den Kofferraum zu verpacken, wie ich zehn Minuten vor einer Verabredung feststellte. Die Gebrauchsanweisung lag im Keller, der Wagen unvollständig zusammengeklappt auf der Straße, ein Rad rollte Richtung Westen, und aus dem Auto kam Gebrüll in einer Lautstärke, die man einem halben Meter Mensch