Sakrileg – The Da Vinci Code - Kapitel 76
lachte. »Was für ein Sonderling! Ein Besessener! Er kennt nur ein einziges Suchwort: Gral, Gral, Gral. Ich wette, seine Gralssuche bringt ihn noch ins Grab!« Sie sah Langdon an. »Aber wer genügend Zeit und Geld hat, kann sich solche Extravaganzen leisten, nicht wahr? Ein richtiger Don Quichotte, dieser Mann.«
»Besteht denn auch ohne Anmeldung die Möglichkeit, dass Sie uns helfen?«, fragte Sophie. »Es ist sehr dringend.«
Pamela Gettums Blick schweifte durch die leere Bibliothek. »Ich kann schwerlich behaupten, dass ich im Moment überlastet bin«, sagte sie und zwinkerte Langdon und Sophie zu. »Wenn Sie sich in die Benutzerliste eintragen, dürfte niemand etwas dagegen haben. Um was handelt es sich denn?«
»Wir sind auf der Suche nach einem Sarkophag, einer historischen Grabstätte in London.«
»Davon gibt es in dieser Stadt mehr als zwanzigtausend«, meinte Miss Gettum sorgenvoll. »Wissen Sie nichts Konkreteres?«
»Es ist die Grabstätte eines Ritters. Den Namen kennen wir leider nicht.«
»Ein Ritter. Das macht die Sache schon übersichtlicher.«
»Wir haben über diesen Ritter leider nur sehr wenig Informationen«, sagte Sophie. »Hier steht alles, was wir wissen.« Sie hielt der Bibliothekarin einen Zettel hin, auf dem sie die ersten beiden Zeilen des Vierzeilers notiert hatte.
Um nicht das ganze Gedicht preiszugeben, hatten Sophie und Langdon beschlossen, Außenstehenden nur die beiden Zeilen vorzuzeigen, in denen vom Ritter die Rede war. Segmentierte Kryptographie, hatte Sophie es genannt. Wenn ein Geheimdienst eine verschlüsselte Nachricht mit möglicherweise sehr sensiblen Informationen abfing, wurde diese Information stückchenweise von mehreren Sachbearbeitern dechiffriert. Auf diese Weise verhinderte man, dass eine einzelne Person die gesamte entschlüsselte Nachricht zu Gesicht bekam.
Pamela Gettum spürte die Ungeduld Langdons; für ihn schien es beinahe eine Sache von Leben und Tod zu sein. Auch der Frau mit den grünen Augen, die ihn begleitete, war die Nervosität anzumerken.
Die Bibliothekarin setzte sich die Brille auf und studierte das Zettelchen, das sie soeben bekommen hatte.
In London liegt ein Ritter, den ein Papst begraben.
Sein’ Werkes Frucht hat heil’gen Zorn ihm eingetragen.
Sie sah die Besucher an. »Was ist das? Eine Schnitzeljagd für Harvarddozenten?«
Langdon lachte ein wenig gekünstelt. »In der Art.«
Miss Gettum zögerte. Sie spürte zwar, dass ihre Besucher sich bedeckt hielten, doch ihr Interesse war geweckt. »Den Versen zufolge hat unser Ritter etwas getan, womit er das Missfallen Gottes erregte. Dennoch hat es einen Papst gegeben, der so freundlich war, ihn hier in London zu begraben.«
Langdon nickte. »Können Sie damit etwas anfangen?«
Miss Gettum ging zu einem der Computerterminals. »Nicht auf Anhieb, aber wir wollen mal sehen, was unser Datenspeicher zu bieten hat.«
In den vergangenen zwanzig Jahren hatte das Forschungsinstitut für Systematische Theologie am King’s College mit Hilfe von Schrifterkennungsprogrammen in Verbindung mit einer Übersetzungssoftware eine riesige Sammlung von Texten digitalisiert und katalogisiert – religionswissenschaftliche Enzyklopädien, religiöse Biographien, Heilige Schriften in Dutzenden Sprachen, Historiographien, päpstliche Bullen, Enzykliken, Tagebücher von religiösen Amtspersonen, einfach alles, was unter den Oberbegriff des Schrifttums zur Spiritualität des Menschen zu fassen war. Mit Umwandlung der Papierform in Bits und Bytes hatte sich die Verfügbarkeit der riesigen Materialsammlung unglaublich verbessert.
Miss Gettum nahm vor dem Computer Platz und studierte noch einmal das Zettelchen. »Lassen Sie uns mit einer Boole’schen Suchfunktion beginnen. Wollen doch mal sehen, was passiert, wenn wir die nahe liegenden Suchbegriffe eingeben.« Sie tippte:
LONDON, KNIGHT, POPE
Als sie die Suchfunktion mit der ENTER-Taste startete, durchkämmte der riesige Rechner im Untergeschoss mit einer Geschwindigkeit von 500 Megabyte pro Sekunde das gesamte gespeicherte Datenmaterial. »Ich habe dem System aufgetragen, uns sämtliche Dokumente anzuzeigen, in deren Text diese drei Suchbegriffe auftauchen. Wir werden vermutlich eine Flut von Meldungen bekommen, aber es ist immerhin ein Anfang.«
Der Bildschirm zeigte die ersten Meldungen.
Der Papst wird gemalt. Die gesammelten Porträts von
Sir Joshua Reynolds. London University Press.
Miss Gettum schüttelte den Kopf. »Das ist offensichtlich nicht, wonach wir suchen.« Sie rief die nächste Meldung auf.
Die Londoner Schriften von Alexander Pope,
von G. Wilson Knight.
Erneutes Kopfschütteln. Die Meldungen kamen jetzt schneller. Dutzende von Texten wurden angezeigt, oft mit Bezug zum englischen Schriftsteller Alexander Pope, der im achtzehnten Jahrhundert in spöttisch überhöhter Sprache eine große Zahl religionskritischer Texte verfasst hatte, in denen offenbar zuhauf Ritter in London vorkamen.
Pamela Gettum schaute auf die numerische Anzeigenleiste am unteren Bildrand. Der Computer ermittelte durch eine Hochrechnung der bereits erzielten Treffer im Verhältnis zur Gesamtmenge der zu durchsuchenden Daten eine Schätzung der zu erwartenden Informationsmenge. Der eingeschlagene Suchpfad schien auf eine schier unüberschaubare Datenmenge hinauszulaufen.
Geschätzte Trefferquote: 2.692
»Wir müssen unsere Parameter verfeinern«, sagte Miss Gettum und stoppte den Suchprozess. »Haben Sie keine weiteren Informationen über das Grabmal? Irgendetwas, womit wir die Suche eingrenzen könnten?«
Langdon streifte Sophie mit einem unsicheren Blick.
Also doch keine Schnitzeljagd, dachte Miss Gettum. Sie hatte von Langdons Erfolg in Rom im letzten Jahr munkeln hören. Dem Amerikaner war der Zutritt zur geheimnisvollsten und am konsequentesten abgeschotteten Bibliothek der Welt gewährt worden – dem Geheimarchiv des Vatikans. Zu gern hätte Pamela gewusst, welche Geheimnisse Langdon dort aufgespürt hatte und ob seine jetzige, offenbar verzweifelte Suche nach einem rätselhaften Londoner Grabmal gar etwas mit seiner Geheimnissuche im Vatikan zu tun hatte. Pam Gettum war lange genug Bibliothekarin, um zu wissen, wonach Leuten, die in London nach Rittern suchten, üblicherweise der Sinn stand. Der Gral.
Sie lächelte und rückte die Brille zurecht. »Sie sind gute Bekannte von Sir Leigh Teabing, Sie sind in England, und Sie suchen nach einem Ritter.« Sie faltete die Hände. »Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie sich auf der Suche nach dem Gral befinden?«
Sophie und Langdon wechselten einen erstaunten Blick.
»Diese Bibliothek ist ein Tummelplatz für Gralssucher«, sagte Pam Gettum lächelnd, »allen voran Sir Leigh Teabing. Ich wünschte, ich bekäme einen Shilling für jede Suche nach der Rose, nach Maria Magdalena, dem Sangreal, den Merowingern, der Prieuré de Sion und so weiter und so fort. Eine Verschwörung ist doch immer noch das Schönste.« Sie nahm die Brille ab und sah ihre Besucher an. »Tja, ich brauche weitere Informationen.«
Sophie borgte sich bei Langdon einen Stift und schrieb die beiden anderen Zeilen auf den Zettel. »Hier, bitte, das ist alles. Mehr wissen wir wirklich nicht«, sagte sie und reichte Miss Gettum den Zettel.
Such die Kugel, die auf dem Grab sollt’ sein.
Mit rosig Fleisch und samenschwerem Leib.
Pamela Gettum lächelte in sich hinein. Na bitte. Der Gral, dachte sie angesichts der Zeile vom rosigen Fleisch und dem samenschweren Leib. »Ich glaube, dass ich Ihnen jetzt besser helfen kann«, sagte sie. »Darf ich fragen, woher diese Verse stammen? Und weshalb sind Sie auf der Suche nach dieser Kugel?«
»Sie dürfen gern fragen«, meinte Langdon und lächelte freundlich, »aber das ist eine lange Geschichte, und wir haben nur sehr wenig Zeit.«
»Das klingt wie eine höfliche Abfuhr.«
»Miss Gettum, wir wären Ihnen unendlich dankbar, wenn Sie herausfinden könnten, wer dieser Ritter ist und wo er begraben liegt«, sagte Langdon.
»Also gut, ich werde Ihnen helfen. Wenn es sich hier um ein Thema handelt, das mit dem Gral zu tun hat, sollten wir eine Verknüpfung mit Gral-Schlüsselwörtern herstellen. Ich werde einen Umfeldparameter eingeben und die Titelgewichtung auf null stellen. Damit grenzen wir unsere Treffer auf jene Stellen ein, wo unsere Suchwörter in der Nähe von Wörtern mit Bezug zum Gral auftauchen – das Ganze natürlich wieder auf Englisch.«
Suche
KNIGHT, LONDON, POPE, TOMB
im Umfeld von 100 Wörtern von
GRAIL, ROSE, SANGREAL, CHALICE11
»Wie lange wird das dauern?«, erkundigte sich Sophie.
»Ein paar Hundert Treabytes mit multipler Abgleichung von Querverweisen?« Miss Gettum drückte auf die ENTER-Taste. »Lächerliche fünfzehn Minuten.«
Langdon und Sophie nahmen es schweigend zur Kenntnis. Pam Gettum hatte das Gefühl, dass für diese beiden fünfzehn Minuten eine Ewigkeit waren.
»Tee?«, fragte sie, erhob sich und ging zu der Kanne, die sie zuvor aufgebrüht hatte. »Sir Leigh war von meinem Tee immer begeistert.«
93. KAPITEL
Das Londoner Ordenshaus des Opus Dei ist ein bescheidener Ziegelbau am Orme Court Nummer fünf mit Blick auf Kensington Gardens. Silas war noch nie dort gewesen, aber je mehr er sich dem Haus näherte, desto größer wurde seine Vorfreude auf den Schutz und die Geborgenheit, die ihn dort erwarteten. Er war zu Fuß. Ungeachtet des Regens hatte Rémy ihn etwas abseits in einer Seitenstraße abgesetzt, um mit der auffälligen Limousine nicht die Hauptstraßen benutzen zu müssen. Silas hatte nichts gegen einen kleinen Fußmarsch. Er empfand den Gang durch den Regen als Reinigung.
Auf Rémys Vorschlag hatte Silas die Pistole abgewischt und in einen Gully fallen lassen. Er war froh, die Waffe los zu sein. Jetzt fühlte er sich erleichtert. Seine Beine schmerzten noch von der langen Fesselung, aber er hatte schon ganz andere Schmerzen ausgestanden. Er fragte sich, was wohl mit Teabing geschehen würde, den Rémy immer noch gefesselt hinten in der Limousine herumkutschierte. Der alte Mann musste längst mit unerträglichen Schmerzen zu kämpfen haben.
»Was werden Sie mit ihm machen?«, hatte Silas Rémy auf der Hinfahrt gefragt.
»Das wird der Lehrer entscheiden«, lautete Rémys Antwort, und seine Stimme klang düster und endgültig.
Der Regen wurde stärker. Silas’ schwere Kutte saugte sich allmählich voll. Die Wunden vom Vortag machten sich unangenehm bemerkbar, doch Silas war im Begriff, für die Sünden der vergangenen vierundzwanzig Stunden Buße zu tun und seine Seele zu läutern. Sein Werk war vollbracht.
Am Ordenshaus angekommen, durchquerte er einen kleinen Vorhof. Es überraschte ihn nicht, die Tür unverschlossen zu finden. Als er den teppichbelegten Eingangsflur betrat, hörte er im ersten Stock ein leises elektronisches Türsignal. In Ordenshäusern war eine solche Klingel häufig anzutreffen, nachdem ihre Bewohner den größten Teil des Tages im Gebet auf dem Zimmer verbrachten. Silas hörte oben die Dielen knarren.
Ein Ordensbruder in Kutte kam die Treppe herunter. »Kann ich Ihnen helfen?« Der Mann hatte gütige Augen und schien Silas’ ungewöhnliches Äußeres gar nicht zu bemerken.
»Vielen Dank. Ich heiße Silas und bin Numerarier unseres Ordens.«
»Sind Sie Amerikaner?«
Silas nickte. »Ich