Sakrileg – The Da Vinci Code - Kapitel 31
vatikanische Lehre zu verjüngen und den Katholizismus den Erfordernissen des dritten Jahrtausends zu öffnen«.
Nach Aringarosas Befürchtung hieß das im Klartext, dass dieser Mann in seiner Arroganz tatsächlich glaubte, er könne die Herzen jener, denen die Anforderungen des wahren Katholizismus in der modernen Welt zu unbequem geworden waren, durch eine Neufassung der Gesetze Gottes zurückgewinnen.
Aringarosa hatte sein ganzes, angesichts der gewaltigen Gefolgschaft und Finanzkraft des Opus Dei erhebliches politisches Gewicht in die Waagschale geworfen, um dem Papst und seinen Beratern begreiflich zu machen, dass eine Aufweichung der Gesetze der Kirche nicht nur eine feige Verleugnung des Glaubens war, sondern obendrein politischer Selbstmord. Er hatte sie daran erinnert, dass die bereits erfolgte Lockerung des Kirchengesetzes – das Fiasko des Zweiten Vatikanischen Konzils – ein verheerendes Vermächtnis hinterlassen hatte. Der Kirchenbesuch war so dürftig geworden wie noch nie, das Spendenaufkommen magerer denn je, und es gab noch nicht einmal ausreichend Priesternachwuchs, um sämtliche vakanten Pfarrstellen zu besetzen.
Die Kirche muss den Menschen eine feste Hand und seelische Führung bieten, hatte er mit Nachdruck erklärt, und keinen liebedienerischen Schmusekurs!
An jenem Abend vor ein paar Monaten hatte Aringarosa sich gewundert, dass der Fiat nach Verlassen des Flughafengeländes nicht die Richtung zur Vatikanstadt einschlug, sondern nach Osten fuhr, wo es bald auf einer kurvenreichen Straße bergauf ging. »Wo fahren Sie hin?«, hatte Aringarosa den Mann am Steuer gefragt.
»In die Albaner Berge, Exzellenz. Die Zusammenkunft findet im Castel Gandolfo statt.«
In der Sommerresidenz des Papstes? Aringarosa hatte sie nie kennen gelernt und auch nie das Bedürfnis gehabt. Das Kastell aus dem sechzehnten Jahrhundert war nicht nur päpstliche Sommerresidenz, es beherbergte auch das päpstliche Observatorium Specula Vaticana – eine der modernsten Sternwarten Europas. Im Laufe der jüngeren Geschichte hatte der Vatikan auf naturwissenschaftlichem Gebiet immer öfter die Stimme erhoben, was Aringarosa stets missfallen hatte. Wozu Naturwissenschaft und Glauben miteinander versöhnen? Wie könnte ein gläubiger Naturwissenschaftler wertfreie Forschung betreiben? Außerdem brauchte der Glauben keine wissenschaftliche Rechtfertigung.
Da wären wir, hatte Aringarosa gedacht, als er damals Castel Gandolfo vor einem sternenübersäten Novembernachthimmel ins Blickfeld kommen sah. Von der Zufahrtsstraße aus betrachtet, ähnelte Gandolfo einem gewaltigen steinernen Ungeheuer, das im Begriff war, einen selbstmörderischen Sprung in den Abgrund zu tun. Die an den Rand eines Felssturzes gebaute Schlossanlage blickte über die Wiege der italienischen Zivilisation hinweg – über jenes Tal, in dem die Sippen der Horatier und Curatier lange vor Gründung der Stadt Rom ihre Fehden ausgefochten hatten.
Selbst als Silhouette war Castel Gandolfo ein unvergesslicher Anblick und bot ein eindrucksvolles Beispiel einer auf mehreren Ebenen angelegten Verteidigungsarchitektur, die die Stärke dieses Felsenbollwerks dramatisch zum Ausdruck brachte. Leider hatte der Vatikan die trutzige Wirkung des Baukomplexes durch die beiden auf das Dach gesetzten Aluminiumkuppeln der Sternwarte zunichte gemacht; sie verliehen diesem zuvor so würdevollen Gebäude das Aussehen eines Kriegers mit zwei Narrenkappen.
Als Aringarosa aus dem Wagen stieg, eilte ein junger Jesuit herbei, um ihn zu begrüßen. »Willkommen, Exzellenz. Ich bin Pater Mangano, Astronom am hiesigen Institut.«
Wie schön für dich. Aringarosa hatte ein mürrisches »Guten Abend« von sich gegeben und war seinem Führer in den Empfangsraum des Schlosses gefolgt – einen weitläufigen Saal, der mit einer disparaten Mischung aus Renaissancekunstwerken und astronomischen Fotos bestückt war. Als Aringarosa hinter dem Jesuitenpater das breite Marmortreppenhaus aus Travertin hinaufstieg, hatten ihm auf Schritt und Tritt Hinweisschilder auf Konferenzzentren, Vorlesungsräume und Informationsstellen für Touristen entgegengeleuchtet. Verwundert hatte er zur Kenntnis genommen, dass der Vatikan zwar konsequent jede Gelegenheit ausließ, den Menschen ein nachvollziehbares und verpflichtendes Leitbild zum spirituellen Wachstum zu liefern, offensichtlich jedoch Zeit und Muße genug hatte, astronomische Vorträge für Touristen halten zu lassen.
»Sagen Sie mal«, hatte Aringarosa sich an den jungen Geistlichen gewandt, »seit wann wedelt eigentlich der Schwanz mit dem Hund?«
Der Pater hatte ihn verständnislos angesehen. »Wie meinen, Exzellenz?«
Aringarosa hatte abgewunken und beschlossen, dieses spezielle Fass heute Abend nicht schon wieder aufzumachen. Der ganze Vatikan ist verrückt geworden. Wie konfliktscheue Eltern, die es bequemer fanden, den Launen ihres verzogenen Kindes nachzugeben, anstatt sich hinzustellen und dem Balg die Hammelbeine lang zu ziehen, wurde auch die Kirche von Mal zu Mal friedlicher und versuchte, sich einer haltlos gewordenen Kultur anzudienen, die über sämtliche Stränge schlug.
In der oberen Etage hatten die Männer einen breiten, luxuriös ausgestatteten Flur betreten, der zu einer gewaltigen eichenen Flügeltür mit einem Messingschild führte.
BIBLIOTECA ASTRONOMICA
Aringarosa hatte schon davon gehört. Die astronomische Bibliothek des Vatikans, die Gerüchten zufolge mehr als fünfundzwanzigtausend Bände umfasste, darunter einzigartige Werke von Kopernikus, Galilei, Kepler, Newton und Secchi, diente den Kuriengenerälen des Papstes als privater Versammlungsort für Besprechungen, die man in den Mauern des Vatikans lieber nicht abhielt.
Als Aringarosa zur Flügeltür gegangen war, hatte er in keiner Weise mit der erschreckenden Neuigkeit gerechnet, die ihn drinnen erwartete – und schon gar nicht mit der tödlichen Folge von Ereignissen, die hier ihren Anfang nehmen sollte. Erst als er eine Stunde später aus dem Konferenzraum getaumelt war, waren ihm die verheerenden Konsequenzen klar geworden. In sechs Monaten!, hatte er gedacht. Der Herr sei uns gnädig.
Als Aringarosa jetzt abermals in einem Fiat saß, ließ ihn allein schon der Gedanke an dieses erste Treffen die Fäuste ballen. Er zwang sich, tief durchzuatmen und sich zu entspannen.
Jetzt kommt alles wieder ins Lot, sagte er sich, während der Fiat sich die Berge hinaufquälte. Dennoch hätte es ihn beruhigt, wenn das Handy gepiept hätte. Warum hat der Lehrer mich noch nicht angerufen? Silas müsste den Stein längst geborgen haben!
Um seine Nerven zu beruhigen, meditierte der Bischof über den violetten Amethyst in seinem Ring. Er betastete das Mitra- und Krummstab-Symbol und die Facetten der Brillanten. Die Steine dieses Ringes waren ein Zeichen seiner Macht – doch im Vergleich zu der Macht, die ihm bald ein anderer Stein verleihen würde, waren sie nichts.
35. KAPITEL
Von innen sah der Gare Saint-Lazare wie jeder andere Bahnhof in Europa aus – eine riesige, offene Höhle, in der die üblichen Verdächtigen herumlungerten: Penner, die mit einem Pappschild um eine milde Gabe baten, Gruppen rucksackbehängter Schüler, die sich mit roten Augen von ihrem Walkman die Ohren volldröhnen ließen, und hier und da ein paar blau livrierte Gepäckträger, die rauchend beieinander standen.
Sophie schaute zu der riesigen Anzeigetafel mit den schwarz-weißen Ziffern der Abfahrtzeiten hinauf. Die Umklapptäfelchen blätterten weiter zum aktuellen Stand. Langdon verfolgte das Geschehen. Auf der obersten Zeile stand nun:
LILLE – RAPIDE – 3.06
»Mir wäre lieber, es gäbe einen früheren Zug, aber der nach Lille tut’s zur Not auch.«
Noch früher? Langdon sah auf die Uhr. 2.59 Uhr. Der Zug fuhr in sieben Minuten ab, und sie hatten noch nicht einmal Fahrkarten gekauft!
Sophie schob Langdon zum Schalter. »Nehmen Sie Ihre Kreditkarte und kaufen Sie uns zwei Fahrkarten«, sagte sie.
»Ich dachte, wenn ich die Kreditkarte benutze, kann man sofort feststellen, wo …«
»Ja, eben.«
Langdon beschloss, nicht mehr schneller als Sophie Neveu denken zu wollen. Mit seiner Visa-Card bezahlte er zwei Fahrkarten nach Lille, die er Sophie reichte.
Sophie zog ihn zu den Bahnsteigen. Aus dem Lautsprecher erklang ein Gong, gefolgt von einer Ansage und der Aufforderung, in den Zug nach Lille zu steigen und die Türen zu schließen, der Zug fahre sofort ab. Sechzehn Gleise lagen vor ihnen. Rechts, an Gleis drei, setzte der Zug nach Lille sich zischend und fauchend in Bewegung, doch Sophie hatte Langdon bereits untergehakt und zog ihn in die entgegengesetzte Richtung. Sie liefen durch eine Nebenhalle, an einem rund um die Uhr geöffneten Imbiss vorbei, und eilten schließlich durch einen Seiteneingang an der Westseite des Bahnhofsgebäudes auf eine ruhige Straße hinaus.
Ein einsames Taxi stand mit laufendem Motor am Bordstein. Als der Fahrer Sophie aus dem Bahnhof kommen sah, ließ er kurz die Lichthupe aufblitzen. Sophie schwang sich auf die Rückbank, gefolgt von Langdon. Während das Taxi anfuhr, holte Sophie die soeben gekauften Bahntickets heraus und riss sie in Fetzen.
Langdon seufzte. Siebzig Dollar für die Katz.
Erst als das Taxi auf der Rue Clichy ruhig und gleichmäßig nach Norden fuhr, wurde Langdon bewusst, dass ihnen die Flucht tatsächlich gelungen war. Durch das rechte Seitenfenster sah er den Montmartre und die prächtige Kuppel von Sacré-Coeur. Das malerische Bild wurde nur kurz durch einige Blaulichter gestört, als Polizeifahrzeuge mit Sirenengeheul in die entgegengesetzte Richtung rasten.
Langdon und Sophie duckten sich in den Sitz, bis die Martinshörner verklungen waren.
Sophie hatte dem Fahrer gesagt, er solle immer nur geradeaus aus der Stadt fahren, ohne ein genaues Ziel zu nennen. Langdon konnte an ihrem Gesicht ablesen, dass sie über ihren nächsten Schachzug nachdachte. Er holte den Schlüssel mit dem Kreuzgriff hervor, lehnte die Schulter ans Fenster und betrachtete den Gegenstand aufs Neue, hielt ihn sich dicht vor die Augen und versuchte im Licht vorbeihuschender Straßenlaternen eine Markierung oder sonst etwas zu erkennen, das Aufschluss darüber geben konnte, von wem oder zu welchem Zweck dieser Schlüssel gefertigt worden war, doch er sah nichts außer dem Emblem der Prieuré.
»Es ergibt keinen Sinn«, sagte er schließlich.
»Was?«
»Dass Ihr Großvater sich so viel Mühe gegeben hat, nur um Ihnen einen Schlüssel zuzuspielen, mit dem Sie nichts anfangen können.«
»Da haben Sie Recht.«
»Sind Sie ganz sicher, dass er nichts auf die Rückseite des Gemäldes geschrieben hat?«
»Ich habe alles sorgfältig abgesucht. Außer diesem Schlüssel hinter dem Bild war da nichts. Ich habe mir den Schlüssel genommen, das Emblem mit dem P. S. erkannt und den Schlüssel in die Tasche gesteckt. Dann haben wir uns aus dem Staub gemacht.«
Langdon runzelte die Stirn. Er betrachtete den Schaft von unten. Wieder nichts. Blinzelnd hielt er den Griff dicht vor die Augen und untersuchte den Rand der Kreuzbalken. Auch da war nichts zu sehen. »Ich glaube, der Schlüssel wurde vor kurzem gereinigt …«
»Wie das?«
»Er riecht nach Spiritus.«
Sophie sah ihn an. »Was sagen