Sakrileg – The Da Vinci Code - Kapitel 24
Vinci soll einst der Ordensgeneral gewesen sein? Wenn sich das nicht absurd und abwegig anhörte! Doch sosehr sie sich auch dagegen sträubte, ihre Erinnerung schweifte zehn Jahre in die Vergangenheit zu jener Nacht, in der sie ungewollt ihren Großvater bei etwas ertappt hatte, das sie immer noch nicht akzeptieren konnte. Wäre das vielleicht die Erklärung …?
»Die Identität der heutigen Mitglieder der Bruderschaft unterliegt strengster Geheimhaltung«, sagte Langdon. »Aber das Liliensymbol, das Sie als Kind gesehen haben, ist der Beweis. Es kann sich nur auf die Prieuré de Sion beziehen.«
Sophie begriff, dass Langdon weit mehr über ihren Großvater wusste, als sie sich bisher vorgestellt hatte. Dieser Amerikaner hatte ihr offenkundig noch vieles mitzuteilen, aber ebenso offenkundig war dies weder die Zeit noch der Ort dafür. »Robert, ich kann nicht zulassen, dass Sie gefasst werden«, sagte Sophie eindringlich. »Sie müssen sofort verschwinden! Wir können uns später ausführlich unterhalten.«
Langdon hörte Sophie wie von ferne. Flucht kam für ihn nicht in Frage. Er war bereits woanders, an einem Ort, wo uralte Geheimnissse aus dem Reich der Schatten an die Oberfläche durchzubrechen suchten.
Wie in Zeitlupe wandte er den Kopf und betrachtete im rötlichen Zwielicht die Mona Lisa.
Die fleur-de-lis … die Blume der Lisa … die Mona Lisa.
Alles stand in einem Zusammenhang. Es war eine lautlose Symphonie, in der die tiefsten Geheimnisse der Prieuré de Sion und Leonardo da Vincis zusammen erklangen.
Ein paar Kilometer weiter blickte der Fahrer eines Sattelschleppers fassungslos in den Lauf einer vorgehaltenen Pistole. Dann hörte er den Capitaine der Staatspolizei einen gutturalen Schrei ausstoßen und sah ihn wutentbrannt ein Stück Seife in die trüben Fluten der Seine schleudern.
24. KAPITEL
Silas betrachtete den langen massiven Schaft des Obelisken in Saint-Sulpice. Seine Nerven waren aufs Äußerste gespannt. Noch einmal vergewisserte er sich, ob er tatsächlich allein war. Dann kniete er vor dem Sockel des Obelisken nieder – nicht aus Frömmigkeit, sondern weil es unumgänglich war.
Der Schlussstein ist unter der Rosenlinie versteckt.
Am Sockel des Obelisken in Saint-Sulpice.
Alle vier Brüder hatten es übereinstimmend gesagt.
Auf den Knien liegend ließ Silas die Hand über die Platten des Steinbodens gleiten. Nirgendwo fand sich eine Ritze oder eine Markierung, die auf eine herausnehmbare Platte hingedeutet hätte. Silas begann, an der Messingschiene entlang die Platten abzuklopfen. Ganz nahe am Obelisken klang es plötzlich merkwürdig hohl.
Ein Hohlraum unter den Bodenplatten!
Silas lächelte. Seine Opfer hatten ihn nicht belogen.
Er stand auf. Sein Blick suchte den geweihten Kirchenraum nach etwas ab, womit er der Steinplatte zu Leibe rücken konnte.
Hoch oben auf der Empore unterdrückte Schwester Sandrine einen entsetzten Aufschrei. Ihre schlimmsten Befürchtungen hatten sich bewahrheitet. Der mysteriöse Mönch vom Opus Dei hatte Saint-Sulpice zu einem ganz bestimmten Zweck aufgesucht.
Zu einem geheimen Zweck.
Du bist nicht die Einzige, die ein Geheimnis mit sich trägt, dachte sie.
Schwester Sandrine Bieil war nicht nur die Verweserin der Kirche. Sie war auch eine Wächterin. Und in dieser Nacht war das uralte Räderwerk in Gang gekommen. Das Eintreffen dieses Fremden am Fundament des Obelisken war ein Signal für die Bruderschaft.
Ein lautloses Alarmsignal.
25. KAPITEL
Die amerikanische Botschaft in Paris ist ein kompakter Gebäudekomplex an der Avenue Gabriel, die eine nördliche Parallele zum unteren Ende der Champs-Élysées bildet. Das weit über einen Hektar große Gelände gilt als amerikanisches Hoheitsgebiet, was bedeutet, dass jede Person im Augenblick des Betretens den Gesetzen und Schutzvorschriften der Vereinigten Staaten von Amerika unterliegt.
Die Dame von der Nachtschicht in der Telefonzentrale war ins Time Magazine vertieft, als das Telefon sie aus ihrer Lektüre klingelte.
»Botschaft der Vereinigten Staaten«, meldete sie sich.
»Guten Abend«, sagte eine Stimme. Der Arufer sprach Englisch mit französischem Akzent. »Darf ich Sie um einen Gefallen bitten?« Ungeachtet der höflichen Floskel hatte der Mann einen barschen offiziellen Tonfall angeschlagen. »Man hat mir gesagt, in Ihrem automatischen Mailboxsystem befände sich eine telefonische Nachricht für mich. Mein Name ist Langdon. Leider habe ich die drei Ziffern meines Zugriffscodes vergessen. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir helfen könnten.«
Die Dame von der Vermittlung war irritiert. »Mein Herr, es tut mir Leid, aber Ihre Nachricht ist wohl offenbar schon ziemlich alt. Aus Sicherheitsgründen haben wir unser Mailboxsystem vor zwei Jahren abgeschafft. Außerdem bestand unser Zugriffscode aus fünf Ziffern. Wer hat Ihnen denn gesagt, dass bei uns eine Nachricht für Sie vorliegt?«
»Sie haben kein automatisches Mailboxsystem?«
»Nein. Wenn eine Nachricht für Sie vorliegt, dann handschriftlich in unserer Serviceabteilung. Wie war bitte Ihr Name?«
Doch der Anrufer hatte bereits eingehängt.
Bezu Fache ging unruhig am Seineufer auf und ab. Er war sicher, Langdon eine Nummer im Ortsnetz von Paris und dann einen dreistelligen Code wählen gesehen zu haben, worauf er eine Nachricht abgehört hatte. Aber wenn Langdon nicht die Botschaft angerufen hat, wen dann?
Fache betrachtete sein Handy. Die Antwort lag in seiner Hand! Hatte Langdon nicht mit diesem Handy telefoniert?
Auf dem Display rief er aus dem Speicher die zuletzt gewählten Nummern auf. Rasch hatte er die von Langdon gewählte Nummer identifiziert.
Ein Pariser Anschluss, gefolgt von einem Code aus den drei Ziffern 454.
Fache wählte die Nummer. Es klingelte ein paarmal. Schließlich meldete sich eine Frauenstimme. Bonjour, vous êtes bien chez Sophie Neveu, meldete sich ein Anrufbeantworter. Je suis absente pour le moment, mais …
Faches Blut kochte. Klar, dass dieses Weibsstück im Moment nicht da ist! Wütend hieb er die Zahlen 4 – 5 – 4 ins Tastenfeld.
26. KAPITEL
Ungeachtet ihres legendären Rufes maß Leonardos Mona Lisa lediglich siebenundsiebzig mal dreiundfünfzig Zentimeter – sogar die im Museumsshop erhältlichen Drucke waren größer. Hinter einer fünf Zentimeter dicken Schutzscheibe aus Plexiglas hing das auf Pappelholz gemalte Porträt an der Nordostwand des Salle des États. Es verdankte seine ätherische, eigenartig rauchige und weiche Atmosphäre Leonardo da Vincis meisterhaft gehandhabter Sfumato-Technik, bei der die Formen und Farben ineinander zu verschmelzen scheinen.
In der Zeit, in der sich die Mona Lisa – oder La Joconde, wie die Franzosen sagen – im Louvre befand, war das Gemälde zweimal gestohlen worden, das letzte Mal im Jahr 1911. Als sie damals aus dem Salle impénétrable des Louvre, dem als einbruchssicher geltenden Salon Carré verschwunden war, hatten die Pariser auf den Straßen geweint. In den Zeitungen waren Artikel und Leserbriefe erschienen, in denen die Verfasser die Diebe anflehten, das Gemälde zurückzugeben. Zwei Jahre darauf wurde es in einem Hotel in Florenz im doppelten Boden eines Koffers versteckt aufgefunden.
Langdon schritt an Sophies Seite durch den Salle des États zur Mona Lisa. Er hatte Sophie inzwischen klar gemacht, dass er nicht daran dachte, die Flucht zu ergreifen. Sie waren noch zwanzig Meter von dem Gemälde entfernt, als Sophie den UV-Strahler einschaltete. Bläuliches Licht fächerte halbmondförmig vor ihnen auf den Boden. Auf der Suche nach einer Leuchtschrift auf dem Parkett schwenkte Sophie den Kegel der Lichtquelle hin und her.
Langdon spürte die wachsende Erregung, die bei jeder Begegnung mit großen Kunstwerken in ihm aufstieg. Angestrengt versuchte er zu erkennen, was sich jenseits des bläulich-violetten Lichtkokons verbarg, der Sophies Hand entströmte. Wie eine dunkle Insel im öden Meer des Parketts wurde links die achteckige Ruhebank sichtbar.
Die dunkle Plexiglasscheibe an der Wand tauchte auf. Dahinter hing das berühmteste Gemälde der Welt.
Wie Langdon wusste, hatte der Rang der Mona Lisa als das bedeutendste Kunstwerk auf Erden nichts mit ihrem rätselhaften Lächeln zu tun und schon gar nichts mit den zahllosen Bezügen, die viele Kunsthistoriker und Verschwörungstheoretiker in das Gemälde hineininterpretiert hatten. Die Mona Lisa war einfach deshalb berühmt, weil Leonardo da Vinci stets behauptet hatte, sie sei sein bestes Werk. Er hatte das Gemälde auf allen seinen Reisen mit sich geführt. Nach dem Grund befragt, pflegte er zu antworten, er brächte es nicht fertig, sich von seiner gelungensten Darstellung weiblicher Schönheit zu trennen.
Dessen ungeachtet argwöhnten viele Kunsthistoriker, dass Leonardos Wertschätzung der Mona Lisa nichts mit ihrer künstlerischen Meisterschaft zu tun hatte. Genau genommen war das Gemälde ein überraschend schlichtes Porträt in Sfumato-Technik. Viele meinten, da Vincis Vorliebe für dieses Werk erkläre sich aus einer weitaus tieferen Dimension, nämlich einer geheimen Botschaft, die vom Maler in die Farbschichten hineingearbeitet worden sei. Die Mona Lisa war tatsächlich einer der am besten dokumentierten Scherze für Kenner. In fast allen kunstgeschichtlichen Wälzern konnte man sich bestens über die in diesem Werk angelegten Zweideutigkeiten und Anspielungen informieren, dennoch hielt das breite Publikum das Lächeln der Mona Lisa immer noch für ein ungelöstes Rätsel.
Von wegen Rätsel, dachte Langdon. Bei den nächsten Schritten sah er das Gemälde allmählich Gestalt annehmen. Von einem Rätsel kann keine Rede sein.
Unlängst hatte Langdon einen eher ungewöhnlichen Kreis von Zuhörern in das Geheimnis der Mona Lisa eingeweiht – ein Dutzend Insassen der Stafvollzugsanstalt von Essex County. Langdons Seminar hinter Gefängnismauern war ein Teil des Fortbildungsprogramms der Harvard-Universität und eine Bildungsmaßnahme im Strafvollzug – einige Kollegen Langdons hatten sich zu der abschätzigen Bezeichnung Kunst für Knackis bemüßigt gefühlt.
Langdon hatte in der Anstaltsbibliothek am Overheadprojektor gestanden und seine Kursteilnehmer in das Geheimnis der Mona Lisa eingeweiht, lauter derbe, aber keineswegs auf den Kopf gefallene Burschen, die sich nach Langdons Empfinden in erstaunlichem Maße für die Sache interessierten.
»Wie Ihnen vielleicht aufgefallen ist«, hatte er gesagt, während er auf das an die Wand der Bibliothek projizierte Bild der Mona Lisa zutrat, »verläuft der Hintergrund hinter dem Gesicht nicht gerade.« Er deutete auf den auffallenden Vorsprung in der Horizontlinie. »Da Vinci hat den Horizont auf der linken Seite deutlich niedriger gemalt als auf der rechten.«
»Er hat’s eben vermurkst«, sagte einer der Strafgefangenen.
Langdon musste lachen. »Nein, das dürfte einem Genie wie ihm kaum passiert sein. Er hat hier mit einem kleinen Trick gearbeitet. Indem er die Landschaft auf der linken Bildseite tiefer gesetzt hat, lässt er die dargestellte Person bei der Betrachtung von links deutlich größer erscheinen. Da Vinci hat sich hier einen kleinen