Perlmanns Schweigen - Teil 96
der Hand, überschrieben mit einem italienischen Satz, der ihnen manieriert und angeberisch vorkommen mußte. Er nahm den Computerausdruck in die Hand. Zweiundfünfzig Seiten waren es geworden. Ich hätte es am Umfang, an der Dicke der Blätterstöße merken können. Dreiundsiebzig Seiten in meinem Fach gegenüber zweiundfünfzig in den Fächern der anderen, das ist ein Unterschied, den man schon von weitem hätte erkennen können. Und heute abend, bei der Ankunft, hätte ich es in der Hand spüren können, daß es nicht Leskovs Text sein konnte; daß der Stoß zu dünn war.
Er ließ die Blätter durch die Finger gleiten und wog den Stoß in der Hand. Richtig zu blättern und probeweise zu lesen, das wagte er nicht, und er achtete darauf, daß sich der Blick auch im obersten Blatt nicht verfing. Er wollte jetzt, wo er sich wie der Überlebende einer Katastrophe fühlte, nicht auch noch in dieser Form über sich selbst erschrecken müssen – etwa über kitschige Metaphern oder einen larmoyanten Ton. Und auch seinem schriftlichen Englisch wollte er jetzt nicht begegnen – einem Englisch, das selten regelrecht falsch war und doch nie die anstrengungslose Genauigkeit besaß, die er sich gewünscht hätte. Er ließ die Blätter in die Schublade des Schreibtischs gleiten
Angelinis Bemerkung am Sonntag abend, dachte er, erschien jetzt in einem neuen Licht. Un lavoro insolito, hatte er den Text genannt. Auch war es kein Wunder, daß sonst niemand über den Text ein Wort verloren hatte. Daß sie ihn sozusagen totgeschwiegen hatten.
In sechseinhalb Stunden mußte er die drei Stufen zur Veranda hinaufgehen und sich vorne hinsetzen. Alle, die da saßen und ihn ansahen, hatten seinen Text vor sich liegen, und sie hatten ihn gegenwärtig von der ersten bis zur letzten Seite. Nur ich, ich allein, weiß nicht, was drinsteht. Das war ein offensichtlich falscher, widersinniger Gedanke, Perlmann wußte es. Noch am Freitag auf dem Schiff war er die Aufzeichnungen in Gedanken durchgegangen. Aber der Gedanke ließ sich nicht vertreiben, eher noch schwoll er an. Sie wußten mehr über ihn als er selbst. Sie warteten, und er wußte nichts zu sagen. Sie fragten, und er wußte nichts zu antworten. Sie kritisierten, und er wußte nichts zu erwidern.
Es konnte doch nicht sein, daß die unerhörte Erleichterung, die ihn noch vor einer Stunde ganz ausgefüllt hatte, bereits wieder durch eine neue Angst erstickt wurde. Es durfte nicht sein. Ich bin nicht zum Betrüger und nicht zum Mörder geworden. Was kann es jetzt noch für einen Grund zur Angst geben. Perlmann nahm einen langen Anlauf in diesem Gedanken und versuchte dann, in einem einzigen Ruck die innere Freiheit zu erhaschen oder auch zu erzwingen, die ihn unverwundbar machen würde gegenüber allem, was die anderen sagten oder nicht sagten, gegenüber ihren Mienen und Blicken, und auch gegenüber den Blicken, die in der peinlichen Stille auf die glänzende Tischplatte fielen.
Er rief Giovanni an. Er könne nun doch etwas für ihn tun und ihm zwei Kannen starken Kaffee besorgen. Es blieben ihm noch sechs Stunden. Für einen vollständigen Vortrag reichte das nicht. Aber er konnte ein Expose schreiben, das sich mündlich weiterentwickeln ließ. Worauf es ankam, war, etwas im Abstrakten zu entwickeln und die Umrisse einer Konzeption zu zeichnen. Darauf würde sich die Diskussion dann konzentrieren. Der verteilte Text, konnte er leichthin sagen, sei im Grunde nebensächlich, er habe damit nur einen kleinen Einblick in die Beobachtungen geben wollen, von denen er ursprünglich ausgegangen sei.
Perlmann hatte Herzklopfen, als er sich an den Schreibtisch setzte. Hier zu sitzen, das hatte bisher geheißen, Leskovs Text zu übersetzen. Stunde um Stunde, Tag für Tag hatte er sich immer weiter von der Wirklichkeit entfernt. Jeder übersetzte Satz hatte ihn der tödlichen Stille des Tunnels ein Stück näher gebracht. Ein leiser Schwindel erfaßte ihn, als er nun den Stuhl sorgfältig zurechtrückte, eine Zigarette anzündete und zum Kugelschreiber griff. Vier Wochen lang war er diesem Augenblick ausgewichen. Seine Hände waren klebrig, und das Klebrige übertrug sich auf den Kugelschreiber. Er stand auf, wusch sich im Bad die Hände und wischte den Stift ab. Giovanni brachte den Kaffee. Perlmann stellte ihn erst rechts auf den Schreibtisch, dann links. Den Zettel mit Kirstens Adresse warf er in den Papierkorb. Er legte eine Ersatzpackung Zigaretten bereit und holte das rote Feuerzeug vom Nachttisch. Im Bademantel würde er bald zu frieren beginnen. Er zog sich vollständig an. Die helle Hose war indessen zu kühl. Der Riß an der anderen aber störte. Dann eben die dunkle Flanellhose mit den Blutflecken. Und es war doch besser, den leichteren Pullover überzuziehen. Lieber dafür die Heizung etwas höher stellen. Wieder rückte er den Stuhl zurecht. Er mußte dicht am Schreibtisch sein. Aber nicht zu dicht.
Warum hatte er es nicht schon viel früher versucht. Die Sätze kamen doch. Sie kamen tatsächlich, einer nach dem anderen. Anfänglich hatte er Angst vor jedem Punkt, denn danach konnte alles versiegen. Doch als das erste Blatt voll war, wich die Angst, das Fühlen insgesamt trat in den Hintergrund, und die ruhige Logik der Sätze selbst übernahm die Regie. Seit Monaten, Jahren fast, hatte er sich jeden einzelnen Satz mühsam abringen müssen, es hatte geschienen, als könne er für alle Zukunft nur noch in ganz kleinen Einheiten denken. Und nun auf einmal ergaben sich die Sätze wie von selbst auseinander, es baute sich etwas auf, er schrieb einen Text, einen wirklichen Text. Ich kann es doch noch. Jetzt ist alles wieder in Ordnung.
Der Kugelschreiber flog nun förmlich über die Seiten, und Perlmann schaffte es kaum, die Gedanken, die sich jagten, auf dem Papier festzuhalten. Endlich war der Knoten geplatzt. Er hatte wieder etwas zu sagen. Er nahm den Stift nur vom Papier, um eine weitere Zigarette anzuzünden oder sich die nächste Tasse Kaffee einzuschenken. Er rauchte mit der linken Hand, und auch die Tasse führte er mit dieser Hand zum Mund, ungewohnt, aber die rechte durfte beim Schreiben nicht unterbrochen werden. Nicht ein Expose, es wird ein Vortrag, ein vollständiger Vortrag. Durch die ungewohnte Art, die Zigarette zu halten, geriet ihm öfter Rauch in die Augen, es brannte, und die Augen tränten, aber die rechte Hand schrieb weiter und weiter. Er war erstaunt und beglückt, wie gut, wie treffend die Formulierungen waren, die da mit der größten Selbstverständlichkeit aufs Papier flossen, einige von ihnen, fand er, hatten geradezu poetische Kraft. Hoffentlich reichte das Papier, sonst mußte er anfangen, die Blätter beidseitig zu beschreiben. Irgendwann würde ihm der Kaffee ausgehen. Ein Glück, daß es im Schrank noch mehr Zigaretten gab. Hoffentlich streikte nicht plötzlich das Feuerzeug. Einmal hielt er inne und schloß die Augen. Gegenwart. Das ist sie. Jetzt erlebe ich sie endlich. Es hat all dieser Erschütterungen bedurft, um zu ihr durchzustoßen.
Um fünf öffnete er das Fenster. Schwaden von Rauch trieben in die Nacht hinaus. Er atmete die kühle Luft tief ein. Es wurde ihm schwindlig, und er mußte sich am Fenstergriff festhalten. Er spürte, daß er sich in halsbrecherischer Fahrt über hauchdünnes Eis bewegte. Das Lichterband jenseits der Bucht war ganz regelmäßig, schmal und still. Als sein Blick die Strandmole beim REGINA ELENA streifte, schloß er rasch das Fenster. Er wollte glauben, es käme ihm vor, als seien jene Dinge vor sehr langer Zeit geschehen.
Er wußte nicht sofort, wie er den nächsten Absatz beginnen sollte, und geriet in Panik. Doch dann las er die letzten drei Seiten, und darüber fand er zurück in den Rausch des Schreibens. Nach einer Weile, als er keinen Kaffee mehr hatte, wurde die Zunge pelzig. Ärgerlich über die Unterbrechung ging er ins Bad und trank ein Glas Wasser. Er war sein bleiches, von Angst gezeichnetes Gesicht gewohnt, er hatte es in den letzten Tagen oft genug gesehen. Jetzt aber erschrak er doch. Seine Züge waren eingefallen und verrutscht. Er dachte an Bilder von Menschen, die einer vervielfachten Schwerkraft ausgesetzt wurden. Aber das zählte jetzt nicht. Was zählte, waren die Sätze, die hinter diesem Gesicht entstanden und in seine rechte Hand flossen. Es war durch und durch rätselhaft, wie das vor sich ging, es gab da einen Abgrund von Unverstandenem, und für einen kurzen Augenblick erlebte Perlmann die Faszination des Wissenschaftlers vor einem rätselhaften Phänomen, eine Faszination, die ihm abhanden gekommen war. Es wird alles wieder ins Lot kommen. Obwohl er keine Kopfschmerzen hatte, entnahm er der Packung auf der Spiegelablage zwei Aspirin und spülte sie hinunter. Dann ging er mit einem Glas Wasser zurück an den Schreibtisch.
Kurz vor sieben begann es zu dämmern. Ohne das Dunkel der Nacht fühlte er sich schutzlos und geriet aus dem Gleichgewicht. Die Sätze begannen zu mißlingen, er mußte einige durchstreichen, und bald kam es zum ersten Blatt, das er zerknüllt in den Papierkorb warf. Die Mischung aus Lampenlicht und aufkommendem Tageslicht machte ihn rasend. Als er hinüberging und die Stehlampe löschte, gab es bei jedem Schritt heftige Stiche aus dem Fußgelenk, in dem er zudem eine unangenehme Kraftlosigkeit spürte. Ganz ohne elektrisches Licht ging es doch noch nicht, und er knipste die Schreibtischlampe wieder an. Das Gedächtnis fing an zu streiken, die einfachsten englischen Wörter fielen ihm nicht mehr ein, und mit einemmal war er auch bei der Rechtschreibung unsicher.
Eine kleine Pause. Er konnte sich, bis es richtig hell war, ein bißchen hinlegen. Nur ein paar Minuten. Danach blieben immer noch anderthalb Stunden, um den Vortrag zu Ende zu schreiben.
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Eine wilde Huperei auf der Uferstraße ließ ihn aufschrecken. Er fühlte sich ohne Orientierung und sank sofort in eine bleierne Müdigkeit zurück. Die Augenlider schienen wie gelähmt und ließen sich erst öffnen,