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Perlmanns Schweigen - Teil 92

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sich auf die Phantasie senkte wie Mehltau, sie mit einem milchigen, undurchdringlichen Weiß überzog und vollständig lähmte. Trotzdem: Jetzt, am Ende, aus purer körperlicher Schwäche heraus einen Fehler machen, das wollte er nicht.

Fünf vor halb zehn. Jetzt wußten sie es alle. Während des Essens war die Rede auf die morgige Sitzung gekommen, und Leskov hatte sich erkundigt, ob es dafür eine schriftliche Vorlage von Perlmann gebe, er habe auf der Fahrt vergessen, ihn danach zu fragen. Millar hatte verwundert aufgeblickt. Er selbst habe ihm ein Exemplar von Perlmanns Text ins Fach legen lassen, und er, Leskov, habe es doch vorhin bei ihrer Begrüßung in der Hand gehalten. Nein, nein, hatte Leskov verdutzt erwidert, dabei habe es sich um etwas ganz anderes gehandelt, um eine Überraschung, die Perlmann für ihn bereitgehalten habe: eine englische Übersetzung eines Texts von ihm. Er sei völlig perplex gewesen bei der Entdeckung, welche ungeheure Mühe sich Perlmann da gemacht habe, und er könne es eigentlich noch immer kaum glauben. Eine derart überwältigende Freundlichkeit! Auch scheine es eine vorzügliche Übersetzung zu sein; nur beim Titel habe sich Perlmann merkwürdigerweise vertan. Er sei ihm auch deshalb noch besonders dankbar, weil er ihnen allen nun etwas Schriftliches von sich in die Hand geben könne, zumal ihm ein fürchterlicher Lapsus passiert sei, indem er einen anderen Text, über den er hier habe berichten wollen, nämlich die neue Fassung des von Perlmann übersetzten, zu Hause in St. Petersburg habe liegenlassen, obwohl er schwören könnte, ihn eingepackt zu haben. Aber das sei ja nun nicht so schlimm, er könne die Veränderungen gegenüber der ersten Fassung mündlich erläutern. Gleich morgen früh werde er darum bitten, daß für alle Kopien gemacht würden, als Vorbereitung für die Sitzung, die er bestreiten solle, am Donnerstag, wie Perlmann ihm gesagt habe.

Zunächst, dachte Perlmann, gab es eine Pause. Evelyn Mistral verstand jetzt, warum er sein Russisch hatte geheimhalten wollen. Er sah ihr lachendes Gesicht, als sie von ihrer Komplizenschaft erzählte. Die Verwirrung wäre erst später entstanden, wenn sie sich klargemacht hätte, daß diese Geheimhaltung unlogisch war: Wenn es Leskov war, den er überraschen wollte: Warum durften es dann die anderen nicht wissen? Und wenn das Versteckspiel der Überraschung bei Leskovs Ankunft dienen sollte: Warum hatte er es dann schon wochenlang vor dem Telegramm gespielt, als er noch gar nichts von dieser Ankunft wissen konnte? Aber zu diesen Fragen war es dann gar nicht mehr gekommen.

Es war Achim Ruge, stellte sich Perlmann vor, der die alles entscheidende, die vernichtende Frage stellte. Er stellte sie ganz trocken und kostete – ein Zeichen der gespannten Vorahnung – seine schwäbische Aussprache aus: Wie denn der Titel von Perlmanns Übersetzung laute, bei dem er sich derart vertan habe? THE PERSONAL PAST AS LINGUISTIC CREATION, sagte Leskov. Ein krasser und irgendwie auch unverständlicher Übersetzungsfehler, aber ein schöner Titel, viel schöner als sein eigener, und treffend. Er werde Perlmann um Erlaubnis bitten, ihn in Zukunft benützen zu dürfen, natürlich mit dem entsprechenden Hinweis auf ihn.

Es war ganz still geworden am Tisch, dachte Perlmann, unheimlich still. Er sah die anderen, wie sie im Essen innehielten und vor sich auf den Teller blickten. Sie trauten ihren Ohren nicht; das, was aus dieser Mitteilung folgte, war zu ungeheuerlich. Sie sahen sich zunächst nicht an, jeder überlegte für sich allein, ob es nicht eine andere, eine harmlose Erklärung gab.

«Sie meinen also», fragte Millar nach einer Weile mit gefährlicher Langsamkeit,«daß der Text mit der Überschrift THE PERSONAL PAST AS LINGUISTIC CREATION ein Text ist, den Sie verfaßt haben und den Perlmann lediglich übersetzt hat?»

«Eh… ja, so ist es», antwortete Leskov unsicher, verwirrt und alarmiert durch Millars Tonfall und die abgehackten, stechenden Bewegungen, die er dabei mit dem Messer machte.

Die erneute Stille mußte betäubend gewesen sein.

«Das ist unglaublich», murmelte Millar,«einfach unglaublich.»Leskovs fragenden Blick auffangend fuhr er fort:«Sehen Sie, Vasilij, es ist leider eine Tatsache, daß wir alle, jeder einzelne von uns, eine Kopie genau dieses Texts bekommen haben. Zwar steht Phils Name nicht drauf, aber wir mußten glauben, daß es sein Beitrag für die morgige Sitzung ist. Er hat keinen anderen Text von sich verteilt und auch sonst nichts getan, um die Sache richtigzustellen. Es kommt hinzu», mochte er hinzugefügt haben,«daß der Text zu einem Zeitpunkt verteilt wurde, als noch niemand etwas von Ihrer Ankunft wußte, auch er nicht. Das alles zwingt zu der Annahme, daß Perlmann uns betrügen wollte, indem er Ihren Text als den seinen ausgab. Plagiat also. Plagiarism. Unfaßbar; aber es gibt keine andere Erklärung. Und jetzt wundert einen auch nicht mehr, daß er nicht zum Essen erschienen ist.»

Perlmann brauchte eine Ewigkeit für den ersten Bissen des belegten Brots. Er kaute und kaute, jedes Bewegen des Kiefers war eine Leistung, der Lachs und das Ei schmeckten nach nichts, und die Sperre, die sich vor dem Schlucken aufgerichtet hatte, war schließlich nur durch ein gewaltsames Drücken mit geschlossenen Augen zu überwinden. Natürlich, es war Millar, der es ausgesprochen hatte. In Perlmann flammte der alte Haß auf, und die Verzweiflung färbte ihn noch dunkler als sonst. Er legte das Brot zurück auf den Tisch und fing an, den Whisky in kleinen Schlucken zu trinken.

Leskovs Gesicht nach der Eröffnung der Wahrheit wagte er sich nicht vorzustellen. Nach dem ersten Schock hatte es in ihm zu arbeiten begonnen. Die vielen auffälligen Dinge auf der Fahrt wurden mit einem Schlag wieder gegenwärtig und fügten sich zu einem Muster: Perlmanns Gereiztheit am Flughafen; seine Fahrigkeit am Steuer und die Wortkargheit; die sonderbare Route; die Übelkeit; das verrückte Fahren im Tunnel und die lahmen Begründungen danach. Beweisen konnte er nichts, selbst wenn er ihn ununterbrochen beobachtet hatte. Es hatte keine einzige falsche Bewegung gegeben, nichts, was eindeutig und unwiderlegbar eine Mordabsicht verraten hätte. Daß einer in einem Moment, wo es galt, einen breiten Wagen durch einen Engpaß zu lenken, die Hände vom Steuer nahm und dabei die Augen schloß, war unvorsichtig, fahrlässig und noch unverantwortlicher als die Raserei. Auch war es an der Oberfläche nicht verständlich und deutete auf einen dunklen Punkt in der Persönlichkeit des Fahrers hin. Aber es war nicht die Spur, nicht der Schatten eines Beweises für einen geplanten Mord. Das war auch Leskov klar, und deshalb würde er es niemandem erzählen; eine solche Beschuldigung war zu ungeheuerlich. Auch unter vier Augen konnte er ihn nicht anklagen. Er konnte nicht beweisen, daß die Geschichte mit der Übelkeit und die Erklärung mit der panischen Angst vor Bulldozern glatte Lügen waren. Und doch war Perlmann ganz sicher, daß Leskov heute abend, jetzt, in diesem Augenblick, alles wußte. Es war völlig ausgeschlossen, diesem Mann, der ihn als seinen Mörder anblicken würde, noch einmal zu begegnen.

Als Perlmanns Hand aus Versehen die Tischkante streifte, löste sich das Pflaster am Finger. Erst jetzt merkte er, daß der Finger stark geschwollen war. Um die blutunterlaufene Stelle herum war er gelb und grün, die Haut spannte und war heiß. Und jetzt juckte auch der Kopf wieder. Er holte die Schachtel mit den Schlaftabletten hervor, hielt sie unter die Jacke, sah sich verstohlen um und entnahm ihr eine. Nach einem Moment des Zögerns brach er sie in der Mitte durch und spülte die eine Hälfte mit Mineralwasser hinunter.

Sie würden alle schweigend auf ihn warten, wenn er morgen früh die Veranda Marconi betrat.

«Sie haben ja nun alle diesen Text bekommen», könnte er lächelnd sagen,«ich hoffe, Sie haben ihn nicht irrtümlich für meinen eigenen gehalten, obwohl ja mein Name gar nicht draufsteht. Inzwischen werden Sie sicher wissen, daß es ein Text unseres russischen Kollegen ist, den ich übersetzt habe. Ich habe ihn verteilen lassen, weil er mir als Ausgangspunkt für das dienen soll, was ich nun entwickeln möchte. Und es ist eine glückliche Fügung, daß Vasilij nun sogar selbst dabei sein kann. Ich verspreche mir viel davon. »

Es wäre ein tollkühner Poker. Perlmann wurde schwindlig bei der Vorstellung, und dieser Schwindel verschmolz mit der beginnenden Wirkung der Tablette. Sie würden ihm kein Wort glauben, kein einziges Wort. Sie wußten, daß er ein Betrüger war, ein Hochstapler, und jetzt lernten sie ihn auch noch als eiskalten Lügner kennen. Er würde niemals die Kraft aufbringen, jeden einzelnen ihrer verachtungsvollen Blicke mit herausfordernder Härte zurückzugeben, bis sie unsicher wurden. Unsicher würden sie höchstens dann, wenn er nun einen durch und durch originellen, brillanten Vortrag hielte. Aber er hatte ja nichts zu sagen, keinen einzigen Satz. Er stünde dort vorne als einer, der stumm nach Luft schnappte.

Oder sollte er sich vorn hinsetzen und in dürren Worten, mit versteinertem Gesicht, die Wahrheit aussprechen? Mit welchen Worten würde er das tun? Wie viele Sätze würde er benötigen? Wohin würde er blicken? Und wenn er es gesagt hatte: Was dann? Konnte man sich für etwas Derartiges überhaupt entschuldigen? War es nicht fast ein Hohn, einfach zu sagen:«I am terribly sorry?»Und dann: aufstehen und gehen? Wohin?

Konnte man mit einer solchen Ächtung weiterleben? Richtig leben und sich innerlich entwickeln, so daß es nicht nur ein geducktes Dahinschleichen war, ein Aushalten und Überstehen, ein Vegetieren? Man müßte eine Möglichkeit finden, sich vom Urteil der anderen und vom Bedürfnis nach Anerkennung vollständig unabhängig zu machen. Frei zu werden, richtig frei. Mit einemmal wurde es in Perlmann ruhiger. Die Wogen von Panik und Verzweiflung glätteten sich, und er hatte das Gefühl, ganz dicht vor einer entscheidenden, einer erlösenden Einsicht zu stehen, der wichtigsten seines gesamten Lebens. Warum sollte es denn nicht möglich sein, sich aus der beruflichen Rolle, der öffentlichen Identität, ganz zurückzuziehen in die private, die eigentliche Person, in

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