Perlmanns Schweigen - Teil 91
naheliegende Annahme. Da Perlmanns Name nicht draufstand, würde Leskov keinen Augenblick an Plagiat denken. Er mußte statt dessen annehmen, Perlmann sei die perfekte Überraschung gelungen, indem er auf der Fahrt zunächst erklärt hatte, der russische Text sei noch viel zu schwer für ihn, um ihm dann hier ohne jeden Kommentar die Übersetzung zu überreichen, die er angefertigt hatte. Er mußte sich geschmeichelt, eigentlich fast überwältigt fühlen bei der Vorstellung, daß ein Mann wie Philipp Perlmann die viele Zeit aufgewendet hatte, um einen derart umfangreichen Text zu übersetzen. Er mußte die Arbeit für bedeutend halten, für hervorragend, anders war das ja nicht zu erklären. Aufgeregt und voller Dankbarkeit würde Leskov zum Telefon greifen oder hier heraufkommen, Perlmann konnte das Klopfen beinahe schon hören. Oder aber es ging ihm durch den Kopf, wie schade es war, daß es sich nicht um eine Übersetzung der zweiten, viel besseren Fassung handelte. Er griff ins offene Außenfach des Handkoffers und erstarrte. Er konnte es nicht verstehen und wühlte den ganzen Koffer durch, immer wieder. Aber er argwöhnte nichts, im Gegenteil, er war Perlmann von neuem überschwenglich dankbar für das Geschenk, denn nun konnte er wenigstens die erste Fassung präsentieren. Und wieder war es Perlmann, als höre er auf dem Flur bereits Leskovs Schritte.
Hier konnte er nicht bleiben. Er müßte sich taub stellen und jedes einzelne Klingeln, jedes einzelne Klopfen zitternd über sich ergehen lassen. Und Leskov würde es lange versuchen und immer wieder, denn Signora Morellis Auskunft zufolge hatte er das Zimmer nicht verlassen. Er stand auf, und ohne es recht zu merken, war er froh darüber, daß er kurzfristig ein Ziel hatte, wenngleich ein unklares.
Er zog die Schuhe aus, und erst jetzt, als der Druck nachließ, kam ihm zu Bewußtsein, daß ihm die Zehen seit vielen Stunden weh taten und durch den dumpfen Schmerz zu einem einzigen gefühllosen Klumpen geworden waren. Aber zum Massieren blieb keine Zeit. Hastig schlüpfte er in die andere Hose und war gerade dabei, das frische Hemd hineinzustopfen, als er merkte, daß das ja die Hose mit dem aufgerissenen Bein war. Jetzt blieb ihm nur noch die helle Hose, selbst im Süden viel zu leicht für eine Nacht im November. Für einen Gürtel war keine Zeit, Leskov war unterwegs, Pullover und Jacke, glücklicherweise hatte er heute früh das Zahlenschloß am Koffer nicht verstellt, Geld, Reiseschecks und Kreditkarten, die Zigaretten, noch etwas kaltes Wasser ins Gesicht, die Packung mit den Schlaftabletten, er ließ sie in die Hosentasche gleiten ohne einen Gedanken, es war wie ein Reflex. Erst unter der Tür sah er auf die Uhr: zwei Minuten nach halb neun. Er schloß die Tür wieder. Mindestens fünf Minuten mußte er warten, sonst lief er womöglich den anderen in die Arme.
Also hatte Leskov noch nicht gelesen. Oder er hatte vor, ihm beim Essen für die Übersetzung zu danken, laut und unüberhörbar für alle anderen. Als Perlmann zum Fenster ging, sah er auf dem Schreibtisch den Zettel mit Kirstens Adresse. Er war verrutscht, und auch das rote Feuerzeug auf dem runden Tisch lag anders als heute morgen. Das Zimmermädchen.
Spätestens jetzt setzten sie sich alle zu Tisch. Leskov war unruhig und trotz Dankbarkeit ein bißchen ärgerlich, daß sein Gastgeber nicht endlich kam, um ihn einzuführen. Millar war empört über dieses abermalige gesellschaftliche Versagen von Perlmann, heute wenigstens hätte er einmal pünktlich sein können. Er zögerte nicht, ersatzweise die Rolle des host zu spielen – Perlmann hörte ihn dieses Wort sagen, selbstgerecht und anklagend. Vielleicht aber war ihm Angelini zuvorgekommen und hatte mit gewandter Liebenswürdigkeit die Regie übernommen.
Perlmann verschob Kirstens Feuerzeug ein bißchen und rückte den Zettel mit ihrer Adresse zurecht. Er hatte gerade die Tür geöffnet, als es ihm einfiel: der Text. Er mußte den Text beseitigen, den er heute morgen unters Telefonbuch getan hatte. Der Gedanke war nicht das Ergebnis einer Überlegung, keine Folgerung aus etwas anderem, er war plötzlich einfach da und mit ihm ein unwiderstehliches Bedürfnis, diesen Stoß Blätter beiseite zu schaffen. Er nahm ihn aus der Schreibtischschublade. Sein Atem ging schneller, wohin damit, so ungeschützt konnte er ihn nicht durchs Hotel tragen. Sein Handkoffer war noch im Auto. Schließlich klemmte er ihn zwischen die Deckel der großen Hotelmappe mit der Speisekarte, den Prospekten und dem Briefpapier. Die Hand auf der Klinke, wandte er sich noch einmal um: Was immer jetzt geschehen mochte, dieses Zimmer würde er nie mehr betreten. Er hatte keine Ahnung, was aus seinen Sachen würde, den Kleidern, Büchern und Papieren-wohin sie getragen würden und von wem. Er wußte nur dieses eine: Hier, in diesem Hotel, würde er niemals mehr jemandem unter die Augen treten.
Als die Tür ins Schloß fiel, klingelte drinnen das Telefon. Sie haben begonnen, mich zu suchen. Ungesehen gelangte er zum Hinterausgang.
39
Hinter dem Felsvorsprung, wo man den Widerschein der Stadtlichter nicht mehr sah, wurde es bald sehr dunkel, und die ruhige, schwarze Fläche des Wassers wirkte auf Perlmann wie eine stumme Drohung. Drüben bei Sestri Levante floß ein unaufhörlicher Lichterstrom, und weit draußen war ein Schiff zu erkennen, an dessen Bug ein Licht rhythmisch blinkte. In den langen Pausen zwischen den vereinzelten Autos hörte er auf das leise Rauschen der kleinen Wellen, und die Erschöpfung, die ihn gefühllos machte, half ihm, an nichts zu denken. Einmal schrak er auf, als hinter ihm ein junges Paar vorbeiging, das sich eng umschlungen hielt. Und erst jetzt, als ihm die Hotelmappe beinahe übers Geländer gerutscht wäre, wurde ihm bewußt, wie absurd, wie vollständig widersinnig es gewesen war, sein Exemplar von Leskovs Text aus dem Hotel zu schmuggeln, wo doch die anderen alle ein Exemplar in Händen hielten. ]etzt verliere ich schon bei den einfachsten Dingen die Übersicht, sagte er in die Nacht hinaus, und es beschlich ihn die unheimliche Empfindung, daß seine Gedanken aus den Fugen gerieten und seine Fähigkeit zu denken lautlos zerfiel.
Er begann zu frieren. Die Richtung weiter nach Portofino kam nicht in Frage, dort waren die Katze mit dem geteilten Gesicht und der Wirt in Hosenträgern, der an die Tür schlug. Außerdem war es in dieser Richtung dunkel, dunkel und kalt. Perlmann ging mit zögernden Schritten zurück zum Felsvorsprung, die Mappe unter dem Arm, die Hände in den Taschen. Er sah hinüber zu den Hotels und weiter zur Stadt und ihren Lichtern wie einer, der an der Schwelle zu einer verbotenen Welt steht.
Das MIRAMARE sah aus wie auf einem Werbeprospekt, elegant, die Beleuchtung des Säulenvorbaus und das Licht der Scheinwerfer in den Pinien machten es geheimnisvoll, verlockend, verführerisch, dazu die weiße Leuchtschrift auf königsblauem Grund – Filmbilder, Traumbilder. Die vorderen Fenster des Speisesaals waren von hier aus durch die Säulen verdeckt, aber durch das hinterste meinte er einen Kronleuchter zu erkennen.
Er konnte weder nach vorn in diese funkelnde Welt noch zurück ins Dunkel. Es kam ihm vor, als könne er in seinem Leben keinen einzigen Schritt mehr tun, als sei er verdammt, für immer an genau dieser einen Stelle stehenzubleiben.
Vor dem Hotel REGINA ELENA hielt ein Taxi, und der Fahrer half einer alten Frau beim Aussteigen. Perlmann rannte, als gelte es, das letzte Taxi auf dieser Erde zu ergattern. Die Mappe war hinderlich, die Deckel strebten wegen der Dicke des Texts auseinander, er winkte und rief, und als er atemlos anlangte, hatte der Fahrer schon den Motor angelassen. Er stieg hinten ein und gab als Ziel das Hotel IMPERIALE an. Als sie am MIRAMARE vorbeifuhren, schirmte er den Kopf mit der Hotelmappe ab und kam sich dabei vor wie in einem billigen Kriminalfilm voller Kitsch und Klischees. Auf der Steigung vor dem IMPERIALE fiel ihm ein, daß er das Hotel nicht mit der Mappe betreten konnte, auf der in großen, goldenen Lettern MIRAMARE eingraviert war. Er nahm den Text heraus und schob die Mappe von hinten unauffällig unter den Beifahrersitz.
Die Sitzgruppe am Fenster, wo er mit Kirsten gesessen hatte, war von einer Reihe elegant gekleideter Leute besetzt, die etwas feierten, Champagner tranken und gerade laut lachten, als Perlmann eintrat. Er setzte sich in die dunkle Ecke, wo offenbar die Lampe kaputt war, und bestellte einen Whisky, zusammen mit einem Mineralwasser. Das hatte Kirsten besonders beeindruckt: daß es einen Kellner gab, der den langen Weg von der Bar hierher machte, um zu bedienen. Man kommt sich so wichtig vor, und reich, hatte sie gesagt, und er hatte ihr angesehen, wie der Spaß am Mondänen mit anderen, gegenläufigen Einstellungen in Konflikt geriet, die sie seit längerem äußerte und die für ihre Generation typisch waren.
Er legte Leskovs Text mit der Schrift nach unten auf den niedrigen Marmortisch und zündete eine Zigarette an. Nach den beiden Packungen, die er heute geraucht hatte, fühlte sich die Lunge verdreckt und verklebt an, und vorhin im Taxi hatte das trockene Husten sehr weh getan und überhaupt nicht mehr aufhören wollen. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Hunger hatte er nicht, aber es war ihm flau im Magen, und eine sonderbare, nie gekannte Schwäche im ganzen Körper gab ihm das widersinnige Gefühl, in dem tiefen Plüschsessel mit den hohen Armlehnen unsicher zu sitzen. Als der Kellner die Getränke brachte, bestellte er ein belegtes Brot. Er würde es nur mit Mühe hinunterwürgen können. Aber etwas zu sich nehmen mußte er.
Noch nie zuvor war es ihm zugestoßen, daß er in dieser Weise nicht die geringste Ahnung hatte, wie es in den nächsten Minuten mit seinen Gedanken, wenn denn überhaupt noch welche kamen, weitergehen würde. Es war keine Blindheit, kein Brett vor dem Kopf, sondern das Empfinden der Ausweglosigkeit, das