Perlmanns Schweigen - Teil 79
Abgrenzung und die ständig zurückweichende Gegenwart zwei Facetten ein und derselben Schwierigkeit waren, die sich wie ein roter Faden durch sein Leben zog und ihn zu einem Menschen hatte werden lassen, der selbst in den ruhigsten Phasen seines Lebens – und auch dann, wenn er es gar nicht recht bemerkte – stets außer Atem war. Und mit der gleichen Klarheit sah er, daß der Gedanke an den nahen Tod, der ihm die Abgrenzung jetzt möglich machte und damit die Voraussetzung für eine erlebte Gegenwart geschaffen hätte, diese Gegenwart gleichzeitig auch wieder zunichte machte, indem er ihm die Zukunft raubte und das Bewußtsein einer Schuld entstehen ließ, in dem alles Erleben erstarrte.
Als er auf die Uferstraße hinausfuhr, kamen die anderen alle gerade die Freitreppe herunter. Nur Angelini war nicht dabei.
«Perlmann!», rief von Levetzov, der zum dunklen Anzug eine graue Weste trug, die ihm ein distinguiertes Aussehen verlieh.
Perlmann hatte automatisch zu ihm hingesehen, und jetzt war es unmöglich, einfach weiterzufahren. Er hielt.
«Nice car», sagte Millar und strich mit den Fingerspitzen über den blitzenden Kotflügel. Ohne sich um die hupenden Autos zu kümmern, ging er mit Kennermiene um den Wagen herum und sah Perlmann dann mit einem Blick an, in dem Überraschung, Neugierde und Anerkennung ineinanderflossen. Jetzt macht mich diese Mordwaffe, die mir wegen der Messe aufgezwungen wurde, auch noch zu einem Mann mit Stil.
«Nur der Dreck an den Reifen paßt nicht», grinste Ruge, der auch für diesen Anlaß den braunen Anzug mit offenem Hemd trug. Er stieg hinten ein.
«Es geht schon», wehrte er ab, als Perlmann sich anschickte, den Handkoffer wegzunehmen, um ihn in den Kofferraum zu tun.«Ist sogar ganz bequem», fügte er hinzu und stützte den Ellbogen darauf. Es würde nichts passieren, selbst wenn er hineinsähe. Er kann kein Russisch. Niemand hier kann Russisch.
Als auch Millar und von Levetzov eingestiegen waren, schnallte sich Perlmann automatisch an und startete den Motor. Das Klicken des einschnappenden Gurts ließ auch Millar, der neben ihm saß, nach dem Gurt greifen. Er ruckte zweimal, und als der Gurt nicht nachgab, drehte er sich auf dem Sitz halb um und zog mit beiden Händen. Perlmann hielt den Atem an. Er spürte den verletzten Finger und merkte, daß die andere Hand, die den Ganghebel im Leerlauf hin und her bewegte, schweißnaß war.
«Es ist ja nur für dieses kurze Stück», sagte von Levetzov hinter ihm, als Millar gerade ein Knie unter den Körper schieben wollte, um besser untersuchen zu können, woran es lag.
«Stimmt eigentlich», sagte Millar und lehnte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen bequem im Sitz zurück.«Trotzdem», meinte er, während Perlmann unsanft anfuhr,«man würde erwarten, daß die Sitzgurte in einem solchen Schlitten einwandfrei funktionieren. »
Bevor Perlmann um die Kurve bog, warf er im Rückspiegel einen letzten Blick auf das verhaßte Hotel und die schräg gewachsene Pinie, die über die Straße hinausragte. Dann überholte er die beiden Frauen, die lieber hatten zu Fuß gehen wollen. Evelyn Mistral trug einen weißen Plisseerock, der bei jedem Schritt schwang, und darüber eine rote Jacke, deren Kragen sie hochgestellt hatte, so daß das aufliegende blonde Haar sich nach außen wölbte. Als sie ihnen mit ihrem strahlenden Lachen zuwinkte, schloß Perlmann die Augen und hätte fast einen Radfahrer gestreift, der plötzlich vom Gehsteig auf die Straße flitzte. In den wenigen Minuten seit der Tankstelle waren alle Distanz und alle Klarheit, die so gefestigt, so endgültig geschienen hatten, verflogen, er bekam in dem vollen Wagen Platzangst, sein Körper verkrampfte sich, und er fuhr eckig wie ein Fahrschüler.
Millar und Ruge redeten über die Sicherheitsstandards von Autos, über Knautschzonen, nachgebende Lenksäulen, die bei einem Frontalzusammenstoß brachen, und über das Airbag-System. Ruge fuhr einen Volvo, Millar einen Saab.
«Über diesen Wagen hier habe ich neulich einen Bericht gelesen», sagte Millar und sah Perlmann von der Seite an.«Scheint die sicherste italienische Kiste überhaupt zu sein. »
«Tatsächlich?»murmelte Perlmann heiser und erwiderte Millars Blick etwas zu spät.
Vor dem Rathaus fuhr er an mehreren Parklücken, auf welche die anderen hinwiesen, vorbei, weil er befürchtete, sie könnten für den Lancia zu eng sein. Er wollte sich beim Einparken des ungewohnt großen Wagens nicht blamieren. Als spielte das jetzt noch eine Rolle. Unter dem ratlosen Schweigen der anderen bog er in eine Nebenstraße ein, wo alles frei war. Er war schon ausgestiegen, da warf von Levetzov noch einen Blick durch die halb geschlossene Autotür.
«Merkwürdig», sagte er,«der Kasten für den Gurt ist ganz zerkratzt. »Dann stieß er die Tür zu.
Millar, der seine Tür bereits schwungvoll zugeworfen hatte und auf ein Schaufenster zutrat, machte kehrt. Aber bevor er mit der Hand am Griff war, hatte Perlmann bereits die Zentralverriegelung betätigt und ließ den Schlüssel in die Hosentasche gleiten.
Am Platz vor dem Rathaus stieg gerade Angelini, der unterwegs die beiden Frauen mitgenommen hatte, aus seinem roten Alfa Romeo. Er trug einen dezent grauen Anzug mit breitem Revers, auf dem ein kleines Abzeichen befestigt war, dazu ein rosafarbenes Hemd mit einer blauen Krawatte. Er nahm die Zigarette aus dem Mundwinkel und erzählte etwas über die Figur auf dem efeubedeckten Denkmal, einen Mann mit verschränkten Armen, einem nachdenklich geneigten Kopf und einer Schriftrolle in der Hand. Perlmann nahm kein einziges Wort auf, er wandte nur den Kopf in Angelinis Richtung, als er merkte, wie der Italiener seinen Blick immer wieder suchte.
Er hatte gemeint, sich in der Qual der Gegenwartslosigkeit auszukennen. Jetzt merkte er, daß es noch eine Steigerung gab. Während Angelinis Stimme wie aus weiter Ferne zu ihm drang, zog sich die Gegenwart aus allem zurück, was ihn umgab. Sie wich aus den Dingen und ließ eine Welt zurück, die ihm vorkam wie eine leblose Kulisse aus Pappmache, in der alle Bewegungen so ziellos und künstlich erschienen wie bei Figuren in einer Turmuhr. Er war froh, endlich auf das Haus mit der verwaschen gelben Fassade, den grünen Fensterläden und den beiden Palmen vor der Tür zugehen und durch die eigenen Bewegungen ein bißchen Wirklichkeit zurückgewinnen zu können.
Es war niemand da, um sie zu empfangen. Die Türen zum Ratssaal und zum Büro des Bürgermeisters waren verschlossen. Auf dem Flur des ersten Stocks, von dem aus man in das staubige Treppenhaus und die Halle mit dem bröckelnden Putz hinuntersehen konnte, gingen rauchend und schwatzend Angestellte vorbei, die der wartenden Gruppe nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkten und in irgendwelchen Räumen verschwanden.
Während die anderen verlegen auf den Absätzen wippten oder zum Glaskasten mit den Aushängen hinübergingen, genoß Laura Sand die Situation. Ihr Gesicht zeigte eine spöttische Zufriedenheit, sie schlenderte in ihrer schwarzen Kordhose und der eleganten hellgrauen Jacke den Flur entlang und sagte schließlich amüsiert zu Perlmann, sie seien ja wohl alle ein bißchen zu fein angezogen. Angelini, der die ganze Zeit über wie auf Kohlen gesessen hatte, drehte ruckartig den Kopf, als er ihre Bemerkung hörte. Mit dem eisigen Gesicht eines Chefs trat er die gerade angezündete Zigarette auf dem gekachelten Boden aus und betrat ohne anzuklopfen das nächstgelegene Büro.
Als er wieder herauskam, folgte ihm ein schmaler, bleicher Mann mit schwarzer Hornbrille, der aussah und sich benahm wie die überzeichnete Figur des beflissenen Bürodieners in einem Film. Nachdem er zunächst zwei falsche Schlüssel probiert hatte, schloß er ihnen schließlich das Büro des Bürgermeisters auf.
Der Raum wurde beherrscht von einem schwarzen, geschnitzten Schreibtisch und einem Stuhl, der mit seinen Verzierungen und der hohen Lehne an ein Kirchengestühl erinnerte. Dahinter war zwischen zwei silbernen, ziselierten Stangen die Fahne von Santa Margherita aufgespannt, zwei gelbe Löwen auf grün-weißem Grund. Neben der italienischen Fahne in der Ecke hing das Bild des Präsidenten der Republik. Mit einem gequälten Lächeln, das seinen Ärger nicht zu verbergen vermochte, machte Angelini die Gebärde des Gastgebers und lud ein, auf den roten Lederbänken mit den goldenen Noppen Platz zu nehmen. Dann ging er hinaus.
Der Bürgermeister platzte mitten in ein Gelächter hinein, das Ruge durch eine Bemerkung über die dicke Staubschicht auf dem Schreibtisch hervorgerufen hatte. Mit seinem Bauch, dem fettigen Haar und dem Schnurrbart erinnerte er Perlmann an den Wirt in Portofino. Er entschuldigte sich schnaufend für die Verspätung und warf Angelini, der die Tür schloß, einen verlegenen Blick zu. Dann deponierte er die mitgebrachte flache Schachtel und eine Papierrolle auf dem Schreibtisch, und während der aufgewirbelte Staub sich setzte, zog er umständlich einige Blätter aus der Jackentasche.
Es sei ihm eine große Ehre und eine besondere Freude, fing er an, Professore Philipp Peremann und seine Gruppe in der Stadt willkommen zu heißen.
«Perlmann», zischte Angelini von der Bank aus, «con l. »
«Scusi», sagte der Bürgermeister und sah kopfschüttelnd in seinen Text, in dem offenbar ein Schreibfehler war. Er bat Perlmann, zu ihm an den Schreibtisch zu kommen, schüttelte ihm die Hand und fuhr dann fort, den vorbereiteten englischen Text zu verlesen, wobei er mit der freien Hand hin und wieder die Hose hochzog, die stets von neuem unter den Bauch zu rutschen drohte.
Perlmann blickte von der Seite auf das verschwitzte Gesicht des Bürgermeisters, auf den schlecht rasierten Hals und den schmutzigen Hemdkragen. Vorhin, als er die Halle betreten und aus Versehen Evelyn Mistrals Hand berührt hatte, die ihm die Tür hielt, hatte er gedacht, er würde hier oben die gesamte Willenskraft, die ihm geblieben war, brauchen, um Sekunde für Sekunde dem übermächtigen Drang zur Flucht zu widerstehen. Inzwischen hatte der komische, ja groteske Verlauf des Empfangs ihn in einen Zustand heiterer, beinahe übermütiger Gleichgültigkeit versetzt, den er so lange wie möglich aufrechterhalten wollte, obgleich er sich unangenehm künstlich anfühlte, als sei eine Droge für ihn verantwortlich. Er mußte aufpassen, dachte er, daß er jetzt nicht etwas Unmögliches tat, wie beispielsweise