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Perlmanns Schweigen - Teil 78

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nicht das erste sein, was sie fand, wenn sie kam, um seine Sachen abzuholen. Auch ihr würde er nichts verraten können. Und ebensowenig Martin. Aber wenn er auf dem Schreibtisch lag, würde sie ihn sofort in die Hand nehmen. Das letzte, was Papa geschrieben hat. Sie würde den Titel wiedererkennen und sich an die Verstimmung erinnern, die es vor einer Woche gegeben hatte, als er auf ihre Idee mit der Reiselektüre so ungeduldig reagiert hatte. Die Vorstellung war unerträglich. Perlmann blickte sich im Zimmer um. Schließlich schob er den Text in die Schreibtischschublade unter das Telefonbuch.

Gleich war es halb neun. Er rechnete nicht mehr. Jetzt hatte er es im Gefühl, wieviel Zeit ihm noch blieb. Minutenlang dachte er an gar nichts, blickte einfach nur hinaus in das noch bleiche Sonnenlicht über der Bucht. Er hätte gerne gewußt, wie man das machte: von einem Ort Abschied nehmen, um in den Tod zu gehen. Er dachte, daß alles, was er sah, nun eine besondere Qualität haben müßte. Es müßte klarer sein und ruhiger, weil man in diesem Moment nichts mehr auf die Dinge projizierte – weil man selbst keinen Gefühlsschatten mehr warf, der einem die Sicht verdunkelte. Denn durch den Entschluß zu sterben hatte man sich vollständig aus der Welt zurückgenommen, die Verstrickungen hatten ihre Macht über einen verloren, man stand daneben und konnte alles ganz unverstellt sehen. Damit kam man so nahe wie nur möglich an den Standpunkt der Ewigkeit heran. Das war es, was man gewann, wenn man bereit war, alles einzusetzen.

Doch nach einer Weile gestand er sich ein, daß er nichts von alledem erlebte. Er stand am offenen Fenster, wie immer zwei Schritte hinter der Brüstung, draußen lag die Bucht im feinen Morgennebel, Verkehrslärm, eine Schiffssirene, ein Schleimknoten im Hals vom vielen Rauchen. Weiter nichts.

Er band die Krawatte um, schlüpfte in den Blazer und setzte sich dann, den Handkoffer neben sich, in den roten Sessel, um zu warten. Einen Ort verlassen, aber noch warten müssen, wie etwa vor einem Abflug: In solchen Momenten, dachte er, hatte es oft geschienen, als könnte Gegenwart auch ihm gelingen. Man hatte dann ein Stück Zeit vor sich, ein, zwei Stunden vielleicht, in denen man nichts zu tun brauchte, man hatte die Ausrede mit dem erzwungenen Warten und konnte sich ganz der Empfindung innerer Freiheit überlassen, die sich entfaltete, wenn man diese Zeit mit vollem Bewußtsein einfach verstreichen ließ. In diesem Zustand hatte er sich jeweils vorgestellt, wie es wäre, hier zu leben und Gegenwart zu erleben; und genau dasselbe hatte er auch getan, wenn er von zu Hause abflog. Die Einbildungskraft brachte dann mühelos zustande, was sonst unerreichbar schien: Indem sie das Bild einer gelebten Gegenwart entwarf, verlieh sie auch dem Augenblick des Entwerfens selbst die Qualität des Gegenwärtigen. Sie war zerbrechlich, diese Gegenwart, und es brauchte Übung im Umgang mit ihr. In dem Augenblick nämlich, in dem man tatsächlich begänne, an jenem Ort zu leben, und sei es auch nur im Flughafen, und nur dadurch, daß man jemandem eine Kleinigkeit verspräche, etwa: auf einen Koffer aufzupassen, oder für ihn Geld zu wechseln – in diesem Augenblick wäre es mit der Gegenwart vorbei. Es war eine Gegenwart neben dem Koffer, und alles hing davon ab, daß nicht die geringste Verpflichtung, nicht einmal ein Gespräch, den Ring von Losgelöstheit, von völlig losgelöstem Warten, durchbrach oder auch nur berührte. Und weil das durch die Art, wie die Menschen in seine Nähe kamen, immer wieder zu geschehen drohte, war er in der Abflughalle mit seinem Koffer rastlos von Platz zu Platz gezogen.

Jetzt, wo ihm nur noch wenige Stunden zu leben blieben, war alles anders. Die delikate Operation, durch eine vorgestellte Gegenwart hindurch in die wirkliche zu finden, konnte nur gelingen, wenn man eine offene Zukunft vor sich hatte, in die hinein man sich umdichten konnte. Er aber wußte alles über seine erstickend enge und unaufhaltsam schrumpfende Zukunft. Er hätte die ganze Folge der noch kommenden Ereignisse aufschreiben können bis in jede Einzelheit hinein, und deshalb war die Stunde, die bis zum Aufbruch noch blieb, nichts weiter als ein abstraktes, blasses Stück Zeit, vorgezeichnet durch eine unverrückbare, unbeeinflußbare Dimension der physischen Welt, in der sich beobachten ließ, wie die Sonne stieg, und in der man zählen konnte, wie oft jemand unten auf der Uferstraße hupte.

Langeweile ist es nicht, um Gottes willen, nein, Langeweile darf es nicht sein. Und es war es auch nicht, dachte er erleichtert. Es war ganz anders als damals im Bett mit Kamillentee, Umschlägen und noch einmal demselben Bilderbuch. Denn was dieses Warten hier so entsetzlich leblos machte, war nicht eine Behinderung, eine Einschränkung, ein Mangel an Gelegenheit. Es war eine innere Erstarrung, die er erfolglos zu lösen versuchte, bis er schließlich begriff, daß sie das einzige war, was ihn vor dem Grauen schützte, das lautlos, hoch und blendend aus dem Tunnel auf ihn zurollte.

Einmal stand er auf, holte zwei Schachteln Zigaretten aus dem Schrank und steckte sie ein. Später ging er ins Bad und wusch sich die Hände. Beim Abtrocknen hielt er auf einmal inne und begann, den Ehering an der rechten Hand abzustreifen. Trotz der Seife, die er zu Hilfe nahm, war es mühsam und tat weh. Er drehte den Ring unschlüssig zwischen den Fingern, dann steckte er ihn in den Koffer zu den Wertsachen. Kirsten würde ihn finden, und er war sicher, daß sie dann an Evelyn Mistral dachte. Gleichgültig war ihm das nicht; aber er spürte, wie der Gedanke an die anderen von Stunde zu Stunde an Einfluß verlor, und nun war er offenbar dabei, sich auch von seiner Tochter zu lösen.

Kurz vor halb elf trug er den Handkoffer zur Tür. Dann ging er langsam durchs Zimmer. Vor dem Schreibtisch blieb er stehen und rückte den Zettel mit Kirstens Telefonnummer in die Mitte der Glasplatte. Nach einem prüfenden Blick schob er ihn in die rechte untere, dann in die obere Ecke. Er holte das rote Feuerzeug vom runden Tisch und legte es daneben. Er hatte sich schon zur Tür gewandt, da drehte er um, tat das Feuerzeug zurück auf den runden Tisch und schubste es mit einem Finger, bis ihm die Lage zufällig genug vorkam.

Von der Tür aus ließ er den Blick noch einmal durch den Raum gleiten. Den weißen Papierrand, der unter der herunterhängenden Bettdecke hervorsah, bemerkte er erst im letzten Moment. Hastig zog er das Blatt hervor. Es war ein zerknittertes und eingerissenes Blatt des russischen Texts. Perlmann schlug die Bettdecke hoch, ging auf die Knie und untersuchte alles. Stets von neuem tastete sein Blick die gesamte Fläche unter dem Bett ab, als könnte sich zwischen zwei Durchgängen plötzlich ein neues Blatt materialisieren. Schließlich zog er die Decke wieder herunter, stopfte das Blatt in den Handkoffer und wartete, mit der Stirn an die Tür gelehnt, bis der Puls sich beruhigt hatte. Dann ging er ohne zurückzublicken hinaus.

34

In der Halle kam Millar auf ihn zu, der gerade ein Gespräch mit Signora Morelli beendet hatte. Er trug den dunkelblauen Zweireiher und die Krawatte mit dem gestickten Anker. Im Gesicht und den Bewegungen lag der Elan eines Organisators.

«Haben Sie daran gedacht, ein Exemplar Ihres Texts in Leskovs Fach legen zu lassen?»fragte er mit gehobenen Augenbrauen und im vorwurfsvollen Ton von jemandem, der sicher ist, eine negative Antwort zu bekommen.

Perlmann war darauf gefaßt, daß er wie gewöhnlich gegen die Angst vor Millar würde ankämpfen müssen. Doch auf einmal war da nun doch etwas von der Distanz zu den Dingen, auf die er vorhin vergeblich gewartet hatte. Es gelang ihm, für drei, vier Sekunden überhaupt nicht zu reagieren und an Millar vorbei zur Tür hinauszublicken. Er genoß das Ausbleiben jeglicher Angst und jeglicher Versuchung zur Beflissenheit. Dann blickte er in die blauen Augen, in denen bereits ein Anflug von Irritation lag, wartete noch einmal zwei, drei Sekunden und sagte dann mit kühler Gleichgültigkeit:

«Nein, daran habe ich nicht gedacht. »

«Das dachte ich mir», sagte Millar mit einer Stimme, in der Perlmann eine Spur von Verblüffung und sogar Unsicherheit wahrzunehmen glaubte. So war ihm Perlmann in den gesamten vier Wochen noch nie begegnet.

«Ich habe deshalb Signora Morelli mein eigenes Exemplar des Texts gegeben, damit sie das erledigt. Es ist netter, wenn Leskov den Text gleich bei der Ankunft überreicht bekommt. Eine Frage des Stils. »

«Okay», sagte Perlmann, ließ ihn einfach stehen und ging zur Theke, wo er Signora Morelli den Zimmerschlüssel übergab. Daß diese Geste langsamer und mit mehr Bewußtsein geschah als sonst, fiel nur ihm selbst auf, denn bevor sie vollendet war, klingelte das Telefon.

Auf dem Absatz der Freitreppe machte er halt und setzte die Sonnenbrille auf. Keine Angst mehr vor Millar und eine Unbeflissenheit, die er sich nicht mühsam abringen mußte – das also war es, was er durch den Entschluß zu sterben gewonnen hatte. Er zündete eine Zigarette an und ging langsam hinüber zum Lancia. Die soeben gemachte Erfahrung wollte er auskosten. Er stellte den Handkoffer auf den Rücksitz und saß dann eine Weile still hinter dem Steuer.

Es war ein Augenblick der Gegenwart – oder hätte einer sein können, wenn er zu einem Leben mit offener Zukunft gehört hätte, einem Leben mit Erwartungen, Hoffnungen und Plänen. Hier bei dieser Tankstelle, die Hand am Zündschlüssel des Wagens, mit dem er es nachher tun würde, verstand Perlmann zum erstenmal, wie die Fähigkeit zur inneren Abgrenzung gegen die anderen Menschen mit dem Gegenwartserleben zusammenhing. Mit einer übergroßen Klarheit, die fast schwindlig machte, begriff er, daß die immer aufs neue mißlingende

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