Perlmanns Schweigen - Teil 71
ihm verlangt wurde, die über seinen Tod hinausreichte und für ihn deshalb jeglicher Bedeutung entbehrte, brachte ihm erneut in aller Schärfe zu Bewußtsein, wie tief die Kluft geworden war zwischen seiner privaten, zu Ende gehenden Zeit und der öffentlichen Zeit, der Zeit der Verträge und des Geldes, die immer weitergehen würde.
«Für zwei Tage», sagte er heiser.
Ob er ihn noch morgen abend zurückbringen werde?
Es dauerte viel zu lange, bis er sich endlich, ohne Grund und mit dem Gefühl, etwas vollkommen Zufälliges zu sagen, für ein«Ja»entschied, und man konnte der Hostess die Verwunderung darüber ansehen, wie wenig dieser Kunde, der eben noch derart arrogant aufgetreten war, über seine eigenen Pläne Bescheid zu wissen schien.
Welche Versicherung er abschließen wolle? Ob auch Kasko- und Insassenversicherung dabei sein sollten?
«Das Übliche», sagte Perlmann tonlos.
«Wie bitte?»fragte die Hostess und gab sich keine Mühe, ihre Ungeduld zu verbergen.
«Das Übliche», wiederholte Perlmann mit forcierter Festigkeit und hatte das Gefühl, sie müßte ihm ansehen können, wie sein Gesicht brannte. Im schlimmsten Fall konnte die Polizei also über die Zulassung und AVIS ans Hotel gelangen, dachte er, als die Hostess schließlich noch seine hiesige Adresse eintrug.
Auf dem Weg zum Ausgang blieb er vor dem Monitor stehen, der die ankommenden Flüge aufführte. Der momentan letzte auf der Liste war ein Flug aus Paris, der fünf vor drei landen sollte. Es war doch vollkommen gleichgültig, sagte er sich, woher Leskovs Flug kommen würde. Einen Direktflug hierher gab es natürlich nicht, aber es spielte nun wirklich nicht die geringste Rolle, wo Leskov umstieg. Außerdem brauchte die Maschine, die er morgen nahm, nicht täglich zu verkehren. Trotzdem blieb Perlmann stehen, rauchte und starrte gebannt auf den flimmernden Bildschirm. Und als er die zweite Zigarette ausgetreten hatte und wieder aufblickte, war der Flug da: AZ 00423, 15.05 aus Frankfurt.
Für einen Moment sah Perlmann, wie Leskov in dem abgewetzten Lodenmantel, den er damals getragen hatte, rudernd und schnaufend durch den Frankfurter Flughafen ging. Es war kindisch und in seiner Situation grotesk, dachte er, aber daß dieser Mann ausgerechnet auf seinem Flughafen umsteigen würde, brachte ihn auf, es kam ihm vor, als würde Leskov damit seine Intimsphäre verletzen. Verärgert verscheuchte er das Bild und ging hinaus zum Parkplatz.
30
Beim Einsteigen in die lange, dunkelblaue Limousine fiel sein Blick sofort auf die Handbremse. Bei diesem Wagen war sie ungewöhnlich weit drüben beim Beifahrersitz. Er hätte also Leskovs breiten Körper beim Lösen des Hebels über dem Abgrund unweigerlich berühren müssen. Es gab ihm ein Gefühl der Hilflosigkeit, daß diese Vorstellung ihn minutenlang gefangenhielt, obwohl sie doch überholt war und keinerlei praktische Bedeutung mehr besaß. Schließlich gelang es ihm, sie abzuschütteln, und er entfaltete die Karte.
Für einen frontalen Zusammenstoß mit einem Lastwagen, bei dem sonst niemand Schaden nehmen durfte, kam die Küstenstraße nicht in Frage. Große Laster würden dort kaum fahren, und wiederum galt, daß es zu der fraglichen Zeit viel zuviel Verkehr gab. Es blieb auch für diesen Plan nur die Straße über Molassana nach Chiávari. Er mußte darauf setzen, daß an einem Montag nachmittag dort auch Lastwagen fuhren. Es war ihm unangenehm, daß er damit in seinem schrecklichen Vorhaben von anderen Leuten und ihren zeitlichen Plänen abhing. Unmittelbar bevor sie in Dunkel und Stille verschwand, würde sich seine eigene Zeit auf diese Weise mit der Zeit der anderen kreuzen müssen. Als er die Karte neben sich auf den Sitz legte und eine Zigarette anzündete, überkam ihn ein Ekel vor der hemmungslosen Selbstbezogenheit, die in diesen Gedanken zum Ausdruck kam.
Die Handbremse war fest angezogen und löste sich erst beim dritten Druck auf den Knopf. Wie im Traum, dachte er, als er den Wagen unsicher aus dem Parkplatz hinaussteuerte. Er fuhr wie ein Anfänger, und noch bevor er richtig unterwegs war, hatte er einen Bordstein gestreift und jemandem die Vorfahrt abgeschnitten.
Nach der Karte zu urteilen kam die Abzweigung nach Molassana erst östlich vom Zentrum, und so fuhr er zunächst an den Industrieanlagen und dann am Hafen entlang, auf einer menschenleeren Straße mit verfallenen Häusern, toten Baustellen und Bergen von Schutt. Trotz des strahlenden Wetters war es eine beklemmende Kulisse, und er fuhr so schnell über das unebene Pflaster und die vielen Schlaglöcher, daß es ihm mehrmals das Steuer aus der Hand schlug. Er sah keinen Hinweis auf das Zentrum, und als ihm die Sache allmählich spanisch vorkam, entdeckte er, daß er bereits auf dem Weg nach Genova Nervi war. Er fing an zu schwitzen und zog die Jacke aus. So schlimm war es doch gar nicht; er hatte nur etwa eine Viertelstunde verloren, höchstens zwanzig Minuten. Er wendete und nahm die nächste Straße, die mehr in die Häusergegend hineinführte.«Immer geradeaus», sagte der mürrische Tankwart, den er nach dem Weg fragte.
Unvermittelt, wie ihm schien, fand er sich auf einem der Plätze, an denen er – es war eine Ewigkeit her – auf der Fahrt zum Plattengeschäft vorbeigekommen war. Zögernd fuhr er weiter, bog aufs Geratewohl in die nächste Straße ein, mußte wegen des Einbahnverkehrs eine Schleife fahren und landete wieder auf demselben Platz. Das Stadtzentrum war an diesem Sonntag mittag eigentümlich still, von der Industriemesse war nichts zu merken, und er mußte den wenigen Passanten hinterherlaufen, um sie nach dem Weg zu fragen.
«Immer am Fluß entlang», sagte ihm schließlich ein alter Mann, der wie für den Kirchgang angezogen war und mit seinem Stock an den dunklen Schaufenstern vorbeischlich. Jetzt erst sah Perlmann den Fluß auf der Karte. Verärgert über sich fuhr er in die angegebene Richtung. Bei einer Endstation für Busse fragte er einen Fahrer.
«Molassana ist ein bekanntes Viertel von Genua, ein Vorort, da braucht niemand ein Hinweisschild», erwiderte der Fahrer auf Perlmanns vorwurfsvolle Bemerkung und sah ihn an, als sei er hinter dem Mond zu Hause.
Perlmann fluchte hinter dem Steuer über die irreführende Darstellung auf der Karte und beruhigte sich erst, als er den Fluß überquerte, wo es dann doch ein Hinweisschild gab. Er hatte gerade richtig Gas gegeben, da bremste er wieder ab und fuhr rechts ran. Ich darf mich morgen nicht verfahren. Das wäre die Hölle. Eine Weile versuchte er, die direkte Route hierher im Kopf zu rekonstruieren, indem er die verschiedenen Umwege abschnitt. Aber es gelang nicht, das Hin und Her war zu verwirrend gewesen. Fünf nach eins. In genau sechsundzwanzig Stunden landet er. Er rauchte hastig ein paar Züge, warf die Zigarette zum Fenster hinaus und fuhr zurück bis zur Hafenstraße.
Auf der erneuten Fahrt nach Molassana hielt er immer wieder an und prägte sich die kritischen Stellen genau ein. Da waren zunächst die beiden Eisenwarenhandlungen, die sich aufs Haar glichen: gleich groß, beide an einer Ecke, beide mit rostigen Rolläden. Bog man bereits bei der ersten ab, so zwang einen der Einbahnverkehr wieder zurück zum Hafen, während eine ähnlich unauffällige Abzweigung bei der zweiten in Richtung Zentrum führte. Auf keinen Fall schon bei der ersten abbiegen. Als nächstes mußte er aufpassen, daß er an dem Platz, wo das Gebäude mit dem Säulenvorbau stand, nicht, wie vorhin, der Straßenbahntrasse nach rechts folgte, sondern die Kurve nach links nahm. Bei der Baustelle mit der Umleitung verfuhr er sich zweimal: Man mußte wirklich unmittelbar hinter der Bäckerei wieder abbiegen, um zurück auf die Hauptstraße zu gelangen. Und schließlich war die Stelle mit den vielen Bushaltestellen kritisch: Man durfte nicht der dreispurigen Straße in die Unterführung folgen, sondern mußte sich ganz links einordnen und in einem spitzen Winkel zur Hauptverkehrsader auf dem Kopfsteinpflaster weiterfahren. Es war immer noch eine ziemlich umständliche Route, dachte er, wahrscheinlich gab es eine einfachere. Aber mehr Zeit durfte er nicht mehr verlieren.
Um zwei Uhr war er wieder am Fluß, wo er gedreht hatte. Auf der fast leeren Straße fuhr er viel zu schnell. Zwar fürchtete er sich davor, an eine Stelle zu kommen, wo es sich machen ließ; aber noch schlimmer war die Ungewißheit, und mit jedem Kilometer, der nicht in Frage kam, wurde sie unerträglicher. Er würde vielleicht länger auf einen Lastwagen zu warten haben. An der fraglichen Stelle mußte es deshalb eine Ausbuchtung geben, wo er neben der Straße parken konnte. Den Laster mußte man bereits weit hinten auftauchen sehen, so daß Zeit genug blieb, um loszufahren, zu beschleunigen und den Wagen im letzten Moment nach links hinüberzureißen. Ferner mußte es für den Fahrer unmöglich sein auszuweichen. Am besten, auf seiner Seite der Straße war Fels.
Auf dem steilen Stück vor dem Tunnel, der die Schleife ins Gebirge hinauf abschnitt und den Scheitelpunkt der Strecke bildete, kam eine solche Stelle. Perlmann hielt mit klopfendem Herzen. Nein, hier ging es nicht, dachte er, als er die feuchten Hände mit dem Taschentuch abtrocknete. Wo er nun zwischen sich und dem Lastwagen diesen langen, stabilen Kühler hatte, kam alles auf hohe Geschwindigkeit an, und die war am Berg selbst mit diesem Wagen nicht zu erreichen. Außerdem konnten die Bremsen des Lastwagens durch den Aufprall beschädigt werden, und dann würde er, das Wrack des Lancias vor sich herschiebend, hinunterrollen, mit wachsender Geschwindigkeit und unabsehbaren Folgen.
Nach dem Tunnel kamen einige Stellen, die vom Straßenverlauf her in Frage gekommen wären. Aber dort gab es Häuser mit Leuten, die gaffend in den Fenstern lehnten. Solche Leute würde es auch morgen geben, und es war unmöglich, es unter ihren Augen zu tun. Überhaupt gab es viel zu viele Häuser, ein Dorf folgte auf das andere. Und überall Leute in den Fenstern, Hunderte von ihnen, wie es Perlmann schien. So hatte er sich das nicht vorgestellt; auf der Karte sah man von diesen Nestern nichts.
Weit über die Hälfte der Strecke