Perlmanns Schweigen - Teil 66
auch ein bißchen mochte, hatte er ihn doch vier Wochen lang gefürchtet, den biederen Mann mit dem glucksenden Lachen, aus dem er stets eine gefährliche Rechtschaffenheit hatte heraushören müssen, oft gegen besseres Wissen. Doch jetzt, wo ihn die Furcht hätte überwältigen müssen, war ihm der große, kahle Kopf mit den wäßrig grauen Augen hinter der kaputten Brille nur noch fremd und fern und ging ihn nichts an. Daß er Laura Sands schöne Bilder des Leids verteidigt hatte, änderte daran kaum etwas.
Schon schwieriger war es bei Adrian von Levetzov, den er in all seiner Geziertheit schätzengelernt hatte. Er würde nach außen hin im Chor der Entrüsteten mitsingen; das war das Spiel. Aber Perlmann hoffte und hielt es für möglich, daß er ihm insgeheim ein gewisses Verständnis entgegenbrächte und eine gewisse Sympathie. Wie hatten die Worte gelautet, die er am Ende jener Sitzung zu Millar gesagt hatte? Ich könnte mir denken, daß es ihm darum ganz und gar nicht geht. Noch einmal sah Perlmann den großgewachsenen Mann vor sich, wie er die Veranda in jener sonderbaren Haltung verlassen hatte. Nein, gleichgültig war ihm sein Urteil nicht.
Giorgio Silvestri, da war er sich ziemlich sicher, würde ihn nicht verurteilen, und er traute ihm zu, daß er eine Ahnung von seiner Not hätte. Laura Sand. Auf ihre ironische, abwehrende Art mochte sie ihn. Und es hatte den Nachmittag der vielen Farben gegeben. Wenn sein Eindruck zutraf, daß sie ihn sehr schnell durchschaut hatte, dann wäre sie nicht allzu überrascht und nähme die Nachricht als etwas auf, was sich mühelos in ihr düsteres Bild vom menschlichen Zusammenleben einfügte. Weit davon entfernt, über ihn zu richten, wäre sie ärgerlich, daß er der albernen akademischen Welt eine derartige Macht über sich eingeräumt hatte.
Schlimm wäre Evelyn Mistral. Er dachte zurück an die Male, wo sie sich empört über spanische Kollegen geäußert hatte, die nicht seriös arbeiteten, und stets sah er sie dabei mit der feinen, mattsilbrigen Brille und dem aufgesteckten Haar. Sie müßte zerrissen werden zwischen ihrer ungebrochenen, ein bißchen naiven Ernsthaftigkeit, von der sie in ihrer Arbeit getragen wurde, und den freundschaftlichen, berührungslos zärtlichen Empfindungen, die sie ihm entgegenbrachte. Diese Empfindungen müßten ihr nun als etwas erscheinen, was er sich erschlichen hatte. Sie würden sich zersetzen und die Farbe der Verachtung und des Ekels annehmen. Er sah sie noch einmal vor sich, wie sie sich vorhin, nach seiner Brüskierung, blicklos abgewendet hatte. Er durfte nicht an ihr Gesicht denken, wenn sie es erfuhr.
Wie war es mit Leskov selbst? Was empfand man einem Menschen gegenüber, der einem einen Text gestohlen hatte, auf den man stolz war? Wut? Verachtung? Oder konnte man sich großmütige Nachsicht leisten, wenn man erfuhr, mit welchem Preis der Dieb dafür am Ende hatte bezahlen müssen? Perlmann merkte, wie wenig er den Menschen Leskov kannte, wie unbestimmt seine innere Gestalt, die über ihn als Autor hinausreichte, blieb. Er empfand vage Erleichterung darüber, die in Gleichgültigkeit überging. Um Leskovs Urteil ging es nicht.
An Millars Reaktion wagte er nur zu denken, indem er den inneren Blick halb abwandte. Es war unerträglich, sich die Genugtuung vorzustellen, die dieser selbstgerechte Yankee mit dem blauen, stets gleichförmig wachen Blick empfinden würde. Irgendwie überrascht es mich nicht allzusehr, würde er vielleicht sagen und den Kopf mit einem betont zurückhaltenden Lächeln nach links bis auf die Schulter neigen. Perlmann wurde von einem Haß überspült, der pochend bis in jede Zelle seines Körpers zu dringen schien, und für eine Weile wurde ihm von neuem übel. Untergetaucht in diesem Haß sah er, deutlich wie in einer Halluzination, Millars behaarte Hände vor sich, die über die Tastatur des Flügels glitten.
Doch am schlimmsten war der Gedanke an Kirsten. Es war erlösend zu spüren, wieviel wichtiger als alles andere ihm seine Tochter war und wie selbst der Haß auf Millar verblaßte, wenn sie vor ihm auftauchte. Das gab ihm das Gefühl, die Proportionen noch nicht ganz verloren zu haben. Um so entsetzlicher war es dann aber, sich vorzustellen, was geschähe, wenn sie es erführe. Papa ein Betrüger, der sich mit fremden Federn geschmückt hatte, weil er selbst nichts mehr zustande brachte. Daß ihm nichts mehr eingefallen war, das könnte sie vielleicht noch irgendwie verstehen. Etwas hatte sie ja bei ihrem Besuch gespürt, und sie würde es sich durch Agnes’ Tod erklären. Daß er aber nicht die Ehrlichkeit und den Mut gehabt hatte, es offen einzugestehen, das würde sie nicht verstehen können. Wie ihre Mutter kannte auch sie das Milieu nicht, und vor allem konnte sie keine Ahnung davon haben, daß er nicht wegen Agnes’ Tod jetzt mit leeren Händen dastand, sondern wegen eines anderen, in gewissem Sinne noch viel größeren Verlusts, der sich so schwer beschreiben und eigentlich überhaupt nicht erklären ließ. Somit konnte sie auch nicht wissen, daß er ein Eingeständnis seiner derzeitigen Unfähigkeit nicht als etwas hätte erleben können, was unangenehm war, peinlich, aber doch etwas, wofür man um Verständnis werben konnte angesichts einer persönlichen Tragödie wie der seinen; daß er es vielmehr als eine öffentliche Preisgabe eines viel weitergehenden Bankrotts hätte erleben müssen, der ihn als ganze Person betraf, und daß ein Offenbarungseid deshalb undenkbar gewesen war. Er dachte daran, wie sie frühmorgens in ihrem langen, schwarzen Mantel vor der Tür gestanden hatte, er sah ihr spöttisches, verlegenes Lächeln und hörte ihr Hallo, Papa. Noch einmal spürte er die warme, trockene Hand mit den vielen Ringen, die sie ihm aus dem Zugfenster entgegengestreckt hatte. Gli ho detto che ti voglio bene. Giusto?
Er blickte zum Fenster hinüber. Nein. Nein.
Nach einer Pause der Erschöpfung, in der er sich aufs Kissen fallen ließ, spürte er mit zitternder Wachheit, daß die Gedanken, die sich nun gleich Bahn brechen würden, grauenerregend waren und ihn für immer verändern würden. Sie kamen, so schien ihm, aus einer unbekannten Ferne und bewegten sich auf ihn zu wie Wellen, die immer mächtiger wurden, bis sie ihn am Ende unter sich begraben würden. Er preßte seine eiskalten Handflächen gegen die Stirn, als könne er die Gedanken dadurch zurückdrängen. Aber sie kamen unaufhaltsam näher, sie waren stärker als er, und ohnmächtig spürte er, wie sie seinen Widerstand jeden Moment brechen konnten.
Er schaltete das Fernsehen ein. Auf den meisten Kanälen liefen Spielfilme, aber er wollte sich jetzt nicht mit erfundenen Geschichten, Konflikten und Gefühlen beschäftigen. Auch bei Talkshows schaltete er sofort weiter; noch nie waren ihm die Ansichten fremder Leute so gleichgültig gewesen. Endlich fand er eine Nachrichtensendung. Das war es, was er jetzt brauchte: objektive, wirkliche Geschehnisse, Ausschnitte der Welt, in denen etwas Wichtiges, etwas von wirklicher Bedeutung geschah, am besten dramatische Ereignisse, die ihm, weil sie in ihrer Tragweite weit über ein individuelles Leben hinausgingen, helfen konnten, den Kerker seiner eigenen, ganz auf ihn selbst bezogenen Gedankenwelt zu sprengen. Jede Nachricht sollte wie ein Steg sein, auf dem er in die wirkliche Welt hinausgelangen konnte, in der sich der Alptraum, der ihn in diesem Zimmer gefangenhielt, verflüchtigen und als bloßer Spuk entpuppen würde. Er starrte auf die Bilder, bis ihm die Augen tränten, er wollte sich ganz in den Geschehnissen dort draußen verlieren, je weiter entfernt der Schauplatz einer Nachricht war, desto leichter dünkte es ihn, sich in ihr von sich selbst zu entfernen. Er beneidete die Menschen, über die berichtet wurde, sie waren nicht er, und mit einem Gefühl der Scham, das er nicht näher untersuchen wollte, merkte er, daß er diejenigen von ihnen, über die eine Katastrophe hereingebrochen war, um ihr handfestes Unglück besonders beneidete. Selbst mit den Soldaten, die verwundet auf einer Bahre lagen, hätte er tauschen mögen.
Er stellte den Ton ab und ließ die Bilder stumm weiterlaufen. War es denkbar, daß Leskov schwieg – aus Dankbarkeit für die Einladung und vielleicht auch in Erinnerung an die Eremitage?
Doch selbst wenn: Es wäre unerträglich, sich für alle Zukunft in seiner Hand zu wissen. Er würde ihn nicht erpressen, da war sich Perlmann sicher. Aber das Wissen, fortan für immer erpreßbar zu sein, würde genügen, um ihn vollständig zu lähmen. Man mußte sich vorstellen: Er, Perlmann, an der Stirnseite der Tische in der Veranda sitzend, er mußte den Text erläutern und verteidigen, während Leskov in schäbigen Kleidern irgendwo hinten saß, an der Pfeife ziehend, auf schelmische Weise zufrieden, womöglich noch Fragen stellend und Einwände machend zur eigenen makabren Belustigung, alles mit todernstem Gesicht. Perlmann spürte den kalten Schweiß an den Händen, als er das brennende Gesicht aufstützte.
Und dann ihre Beziehung unter vier Augen: Leskovs väterlicher Ton würde sich vielleicht, objektiv betrachtet, nicht im geringsten ändern. Aber er, Perlmann, würde künftig stets einen drohenden Unterton heraushören, eine Nuance, die ihm jede Möglichkeit raubte, sich zur Wehr zu setzen. Er müßte stillhalten und wäre wie ein Knecht, selbst wenn über die Angelegenheit nie auch nur ein einziges Wort gesprochen würde.
Perlmann fing an, diesen Vasilij Leskov zu hassen. Es war ein ganz anderer Haß als der Haß auf Millar. Daß er Millar haßte, hatte mit dem zu tun, was er gesagt und getan hatte. Dieser Haß hatte seinen Ursprung in Dingen, die zwischen ihnen beiden vorgefallen waren. Millar war an seiner Entstehung aktiv beteiligt, und infolgedessen war Perlmanns Haß gewissermaßen in ihm verankert. Der Haß auf Leskov dagegen entstand, ohne daß dieser Russe, der jetzt ahnungslos seine Koffer packte, das geringste getan hatte. Das Haßgefühl, das ihn zur Zielscheibe zu haben schien, glitt deshalb bei näherer Betrachtung an ihm ab und fiel auf Perlmann zurück, der die Schäbigkeit seiner Empfindung wahrnahm, ohne sich gegen sie wehren zu können.
Er stellte den Ton des