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Perlmanns Schweigen - Teil 61

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ein, als er das Schild mit der Anweisung, nicht zu stören, an die Tür hängte. Er war dankbar dafür, daß die sanfte Welle der Betäubung die Empfindungen überspülte, die an die Oberfläche drängten, Empfindungen der Niederlage, der Scham und der Angst, das Gefühl abzustürzen, ohne zu wissen, wann er aufschlagen würde, die Gewißheit, daß es von nun an nie mehr einen Halt für ihn geben würde. Ohne Licht zu machen legte er sich ins Bett und war froh, daß sich die Lücke zwischen ihm und der Welt rasch vergrößerte.

26

Ich muß verrückt gewesen sein, komplett verrückt. Mit einem Schlag wurde Perlmann von einer schmerzhaften Wachheit überfallen, einer Wachheit hinter geschlossenen Augen, umspült von körperlicher Benommenheit. Es war Viertel vor acht. Hastig und noch unsicher in den Bewegungen zog er die Hose und den Pullover über den Schlafanzug und schlüpfte ohne Socken in die Schuhe. Vielleicht sind die Kopien noch gar nicht fertig, sonst sammle ich sie einfach wieder ein, noch ist nichts geschehen.

In eckigen Bewegungen, die seine Benommenheit verrieten, rannte er die Treppe hinunter, und einmal wäre er fast gestürzt. Kurz vor dem letzten Treppenabsatz kam er zum Stehen, indem er sich mit beiden Händen ans Geländer klammerte. Unten an der Theke standen Millar und von Levetzov und nahmen die Texte entgegen, die Signora Morelli ihnen reichte.

«Das Papier ist noch warm», sagte Millar grinsend und ließ den Blätterstoß den Daumen entlanggleiten wie ein Kartenspiel.

Die anderen Kopien steckten noch in den Fächern. Minuten, ich bin nur um Minuten zu spät gekommen, aber jetzt kann ich nicht mehr hingehen und den Text zurückfordern, damit würde ich mich unmöglich machen, das kann man nicht erklären. Wäre die Signora nur weniger tüchtig gewesen, nur dieses eine Mal.

Perlmann hastete zurück ins Zimmer, dabei stockte ihm auf jedem Absatz der Atem bei der Vorstellung, jetzt einem der anderen Kollegen in die Arme zu laufen. Im Badezimmer spülte er den Mund aus und setzte sich dann mit einer Zigarette in den roten Sessel. Es war ihm schwindlig. Er hatte eine Schwelle überschritten, hinter die er nie wieder würde zurückgehen können. Mit diesem Betrug, dessen Folgen sich nun unaufhaltsam entfalteten, würde er leben müssen, für immer. Übermorgen und am Tag danach würde er in der Veranda Marconi sitzen und einen Text verteidigen, den er gestohlen hatte. Die Stunden, die Minuten, die er dort als unerkannter Betrüger vor den anderen saß, würden endlos dauern, und wenn der Aufenthalt hier vorbei war, würde er die Wohnung in Frankfurt als Betrüger betreten. Er würde das Bild von Agnes betrachten und mit Kirsten sprechen, stets im Bewußtsein dieses Betrugs. Nichts würde mehr sein wie vorher. Das Plagiat stand nun für immer zwischen ihm und der Welt wie eine dünne Wand aus Glas, sichtbar nur für ihn. Er würde die Dinge und Menschen berühren, ohne sie jemals erreichen zu können.

Er konnte nicht in diesem Gebäude bleiben, in dem Menschen saßen, die in den nächsten Stunden Leskovs Gedankengängen in der Annahme folgten, es seien seine. Und er hielt es in diesem Hotelzimmer nicht mehr aus, für das seit vier Wochen pro Tag fast dreihundert Mark bezahlt wurden, ohne daß er darin das geringste geleistet hatte. Außer einer Übersetzung, die jetzt zu einer betrügerischen Übersetzung geworden war.

Er duschte nicht, es stand ihm von nun an nicht mehr zu, das luxuriöse Badezimmer länger als unbedingt nötig zu benutzen. Nachdem er sich richtig angezogen hatte, hätte er gerne noch Kaffee bestellt, um die Nachwirkung der Tablette zu bekämpfen, die ihn vor nichts mehr zu schützen vermochte und nur noch als ein fortwährender Druck über den Augen lag, so daß er ständig das Bedürfnis hatte, sie zu schließen. Aber nicht einmal dem Kellner mochte er unter die Augen treten, und auch Zimmerservice gehörte zu den Dingen, auf die er in Zukunft kein Anrecht mehr hatte.

Er verließ das Hotel durch den Hinterausgang und trat hinaus in einen wolkenlosen, strahlenden Herbsttag. So schnell er konnte ging er auf den Felsvorsprung zu, hinter dem die Straße nach Portofino verschwand, die letzten Meter, bevor er außer Sichtweite des Hotels war, rannte er fast. Aber sie wissen es doch gar nicht. Trotzdem, ich muβ aus ihrem Blickfeld verschwinden. Er wagte nicht, sich hinter der Biegung auf das Geländer zu lehnen. Er hätte unweigerlich ausgesehen wie ein Urlauber, ein Kurgast, der einen phantastischen italienischen Herbstmorgen genoß. So rauchte er die Zigarette aufrecht und steif, die eine Hand in der Hosentasche. Er mußte gehen, immer weiter, im Gehen ließ es sich noch am ehesten ertragen. Der Magen tat ihm weh, seit den wenigen Bissen Pizza gestern in Genua hatte er nichts mehr gegessen, und jetzt die Zigaretten.

Es fiel ihm schwer, sich zu vergegenwärtigen, wie genau das gestern nacht gewesen war. Am meisten Schwierigkeiten bereitete der Versuch, die innere Gestalt jenes Moments zurückzurufen, in dem er Leskovs Text aus dem Koffer genommen hatte und zur Tür gegangen war. Während dieser Sekunden war es geschehen, da war etwas in Gang gesetzt worden, das nicht mehr abgebrochen werden konnte, eine Bewegungsfolge, die ihn bis zum Ende mit sich riß, bis zu der fatalen Armbewegung, mit der er Giovanni den Text übergeben hatte, und bis zu der mühsamen Bewegung des Mundes, mit der er die verhängnisvolle Anweisung zum Kopieren und Verteilen gegeben hatte. Als er jetzt mit geschlossenen Augen daran zurückdachte, kam ihm jenes Geschehen wie etwas vor, was gar keine Handlung gewesen, sondern über ihn gekommen, ihm einfach zugestoßen war; oder wenn es eine Handlung war, dann eine wie die eines Schlafwandlers. Einen Augenblick lang verschaffte ihm dieser Gedanke Erleichterung, und sein Schritt wurde ein bißchen leichter.

Aber das hielt nicht lange an. Es war, darüber konnte man nicht hinwegsehen, etwas im Gefüge seines eigenen Denkens und Fühlens gewesen, das diese eine, ganz bestimmte Bewegungsfolge in Gang gesetzt hatte, und nicht eine andere. Auf dem Schiff gestern hatte es nach einem Gleichgewicht der Gründe ausgesehen. Die drei Möglichkeiten des Handelns hatten sich genau die Waage gehalten, sie schienen alle drei in gleichem Maße unausdenkbar, und darin hatte die Qual bestanden. In seinem unruhigen Schlaf dann mußte es in ihm gearbeitet haben, ein Kräftespiel mußte stattgefunden haben, und am Ende hatte etwas, vielleicht nur ein winziges Übergewicht einer Empfindung, den Ausschlag gegeben.

Obgleich die Sonne direkt auf ihn herunterschien, knöpfte Perlmann die Jacke zu. Bei dem Gedanken, daß er einer war, in dem, ohne daß er es merkte und ohne daß er einzugreifen vermochte, der Betrug die Oberhand gewinnen konnte, fror er. Das einzige, was er dieser Tatsache entgegenzusetzen hatte, so daß sie ihn nicht vollständig erdrückte, war eine Erklärung für das innere Geschehen. Seine Angst vor der persönlichen Entblößung, davor, ohne jede Möglichkeit der Abgrenzung gegen die anderen dazustehen, mußte noch viel größer sein, als er bisher angenommen hatte, größer sogar als seine bewußten Empfindungen. Offenbar war sie so mächtig, daß die beiden anderen Möglichkeiten irgendwo in der Tiefe, ohne sein Zutun, ausgeschieden worden waren und nichts anderes übrig blieb, als sich hinter Leskovs Text zu verstecken, der ihn gegen die anderen schützen sollte. Auf diese Weise war, ohne daß er es bemerkt hätte, der paradoxe Wille in ihm entstanden, seine Abgrenzung, die Verteidigung des Eigenen gegen das Fremde, durch ein Instrument zu erreichen, das gar nicht ihm selbst gehörte, nichts Eigenes war.

Diese Erklärung vermochte nichts zu mildern und zu beschönigen. Aber sie stellte eine Einsicht dar, die ihm einen kleinen Rest von innerer Freiheit zurückgab, die Freiheit des Erkennenden.

Über dem spiegelglatten, blendenden Wasser lag eine Schicht von feinstem Nebel, genau wie gestern, als er vorne im Schiff gestanden und versucht hatte, seine Sinne für diese leuchtende Gegenwart zu öffnen. Aber zwischen gestern und heute lagen Äonen. Gestern war der Blick auf die Flächen von reinstem Glanz noch ein Blick in eine offene Zukunft gewesen. Ihre Offenheit hatte ihn gequält, denn jeder der möglichen Wege, auf denen er in sie hineingehen konnte, war bedrohlich erschienen. Aber es war trotz allem eine offene Zukunft gewesen, es hatte noch Verzweigungen des Handelns gegeben und damit noch Hoffnung, oder doch wenigstens die Freiheit der Ungewißheit. Jetzt war alles, die Ungewißheit und die Hoffnung, vernichtet, die Zukunft war kein Spielraum von Möglichkeiten mehr, sondern nur noch eine enge, verzweigungslose Strecke Zeit, auf der er die unabänderlichen Konsequenzen seines Betrugs zu durchleben hatte. In jenem alles entscheidenden Augenblick, als er Leskovs Text über die Theke reichte und die unheilvollen Worte herauspreßte, hatte er sich für immer einer offenen Zukunft beraubt und damit auch jedweder Hoffnung, irgendwann vielleicht doch noch zu seiner Gegenwart zu finden.

Die gleißende Wasserfläche, die weiße Tiefe des Horizonts, das Gewölbe aus durchsichtigem Azur, durchschnitten vom silbernen Schweif eines steigenden Flugzeugs – all das war in unerreichbare Ferne gerückt, unerreichbar für sein Erleben. Wenn man so etwas getan hatte wie er, durfte man nicht mehr nach draußen sehen. Freude über Schönheit, ein Augenblick des Glücks gar, das stand einem nicht mehr zu. Der Preis für Betrug war Blindheit. Was blieb, war, sich innerlich zusammenzukauern und den Strudel von Schuld und Gegenwartslosigkeit über sich ergehen zu lassen. Die Welt draußen war nur noch Kulisse, eine in ihrer Schönheit quälende Kulisse, eine Marter.

Perlmann war froh, daß man bis Portofino lange ging. Er hatte einen Rhythmus des Gehens gefunden, durch den sich der Schmerz und die Verzweiflung in der Schwebe halten ließen. Es war ein labiles Gleichgewicht, und als er einmal anhalten und eine Gruppe Pfadfinder im Gänsemarsch vorbeilassen mußte, stürzten die Empfindungen auf ihn ein, er war ihnen schutzlos ausgeliefert, und

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