Perlmanns Schweigen - Teil 59
in all den Dingen, die einfach nur da waren und sich selbst genügten.
An Land hielt es ihn nicht, das Fehlen der schaukelnden Bewegung gab ihm ein Gefühl von Kerker, auch wenn es ihm freistand zu gehen wohin er wollte in dieser Stadt am Hang, die im herbstlichen Mittagslicht etwas von einer Wüstenstadt hatte, etwas Orientalisches. Das Schiff ging erst um Viertel nach drei wieder zurück, aber es gab stündlich eine Hafenrundfahrt, und die Leute für die Fahrt um eins stiegen gerade ein. Perlmann war froh, daß es spät im Jahr war und die beiden Plätze neben ihm frei blieben. Wenn er den Arm über die Bootswand hinabhängen ließ, konnte er das dunkelgrüne, beinahe schwarze Wasser fast berühren. Es trieben Öllachen vorbei und Abfall, an den klareren Stellen konnte man Algen erkennen, und ab und zu war eine verrostete Kette zu sehen, die zur Vertäuung eines Schiffs diente.
Er fuhr zusammen, als der Lautsprecher mit einem Knacken eingeschaltet wurde und eine unnötig laute Frauenstimme die Gäste begrüßte, zuerst auf italienisch, dann auf englisch, deutsch, französisch und spanisch und zuletzt in einer Sprache, die Japanisch sein mußte. Es war idiotisch, aber daran hatte er nicht gedacht, gerade so, als sei er das erste Mal im Leben auf einem Sightseeing-Boot. Es würde eine einstündige Tortur werden, all diese Informationen und Erklärungen, die ihn einen Dreck interessierten, und alles immer in sechs Sprachen. Dabei mußte er dringend nachdenken, noch nie waren Ruhe und Konzentration so wichtig gewesen wie jetzt.
Die Stimme aus dem Lautsprecher, schrill und gelangweilt, begann mit Angaben über die Größe des Hafens und das Volumen des Güterumschlags, dann lief ein Band mit denselben Informationen in den anderen Sprachen, alles Frauenstimmen, nur der spanische Text wurde von einem Mann gesprochen. Perlmann hielt sich die Ohren zu, die Wiederholungen waren unerträglich. Daß er die Dummheit begangen hatte, diese Fahrt mitzumachen, kam ihm vor wie ein Zeichen, daß es aus seiner Zwangslage keinen Ausweg gab. Es war wie ein Vorbote unabwendbaren Unheils.
Sie fuhren an den ersten großen Schiffen vorbei, ihr schwarzer, geschwungener Bug ragte weit hinauf, entlang der Reling waren Rettungsboote befestigt, und vereinzelt gab es Matrosen, die winkten. Versetzt hinter einem anderen Schiff tauchte auf einmal eine schwarze Schiffswand mit dem Wort LENINGRAD auf, gemalt in weißen, kyrillischen Buchstaben. Perlmann wurde heiß und kalt, er schluckte und spürte, wie sich alles an ihm verkrampfte. Er wünschte sich in diesem Moment sehnlichst, die Buchstaben möchten für ihn vollständig fremd sein, weiße Linien nur, an denen es nichts zu lesen gab und nichts zu verstehen. Daß sie vertraut waren und ihm in ihrer Selbstverständlichkeit eine Bedeutung aufdrängten, gegen deren Erkennen er sich nicht zu wehren vermochte, war eine Quelle von Unglück, der eigentliche Grund, so schien ihm, für seine verzweifelte Lage.
Agnes, da war er sich ganz sicher, hätte ihm zum ersten Weg geraten. Natürlich hätte sie verstanden, daß er ihm unangenehm war; aber sie hätte das Ganze viel weniger dramatisch gesehen als er. Es war, hätte sie vielleicht gesagt, wie wenn sie in der Agentur erklären müßte:«Tut mir leid, aber in den letzten Wochen sind mir irgendwie keine brauchbaren Aufnahmen gelungen.»Das war alles, eine vorübergehende Krise, kein Grund, von einem Gesichtsverlust zu reden.
Aber Agnes hatte für eine Agentur gearbeitet, in der es sehr kollegial zuging, fast freundschaftlich. Sie hatte die akademische Welt mit ihrer Atmosphäre der Konkurrenz und des gegenseitigen Belauerns nicht von innen gekannt, nur aus seinen Erzählungen, und es war nicht selten zu Mißstimmungen gekommen, wenn er zu spüren meinte, daß sie ihm den stummen Vorwurf einer übergroßen, unverhältnismäßigen Empfindlichkeit in diesen Dingen machte.
Die Fahrt verlief jetzt am Kai entlang, an dem die großen Frachter lagen. Zwischen den einzelnen Schiffen hindurch konnte man die lange Reihe der Lastwagen sehen, welche die Güter übernahmen. Hier wurde die Ware gelöscht. Ware löschen, das merkte Perlmann jetzt, war ein Ausdruck, zu dem er in keiner anderen Sprache das Gegenstück kannte, und für eine Weile hörte er auf, sich gegen den Lautsprecher zu stemmen, und konzentrierte sich auf den Wortschatz für Hafen und Schiffe. Er überließ sich ganz der schrillen italienischen Stimme und danach den anderen, den Tonbandstimmen mit ihrem sterilen Tonfall, der, so schien es ihm, nicht das geringste mit der farbigen Kulisse draußen zu tun hatte.
Ohne es recht zu merken, fing er an, in Gedanken zu dolmetschen. Zuerst probierte er, wie gut er mitkam, wenn er ins Deutsche übersetzte. Es wurde ihm immer klarer, daß es darauf ankam, eine ganz bestimmte Balance der Konzentration zu halten. Man mußte auf den gerade zu Ende gehenden Satz zurückblicken und durfte den deutschen Satz erst zu formen beginnen, wenn im fremden Satz der Punkt der syntaktischen Eindeutigkeit erreicht war, nicht früher, sonst konnte es geschehen, daß man auf dem falschen Fuß begann und ins Stolpern geriet. Das hieß, daß man den deutschen Satz zwangsläufig zeitversetzt abschloß, mit einem starken Bedürfnis, ihn hinter sich zu bringen, um den Kopf für den nächsten frei zu haben. Man beschleunigte deshalb in der zweiten Satzhälfte ganz automatisch, indem man die Routine und Selbstverständlichkeit ausbeutete, mit der einem die Muttersprache zur Verfügung stand. Diese Phase durfte praktisch keinerlei Aufmerksamkeit mehr binden, denn die mußte bereits ganz auf den neuen Satz verwendet werden. All das bedeutete in jeder Sekunde einen Drahtseilakt, bei dem man auf zweierlei Weise abstürzen konnte. Einmal konnte es einem geschehen, daß man über den alten Satz einen Augenblick zu lange nachdenken mußte, vielleicht sogar, daß man durch ein unbekanntes Wort in Panik versetzt wurde; dann startete man zu spät in den Prozeß hinein, in dem man seine geschulten Erwartungen den neuen Satz betreffend hätte aufbauen sollen, und mußte den neuen Satz als verpaßt abschreiben. Oder man ließ sich von der Angst hetzen, daß genau das passieren könnte; dann lief man Gefahr, den Blick einen Tick zu früh nach vorne zu richten, noch bevor die deutsche Gestalt des alten Satzes den Punkt der Selbstverständlichkeit erreicht hatte und der unbewußten Beendigungsroutine überlassen werden konnte, und nun schaffte man den Abschluß des alten Satzes nicht mehr. Der schlimmste Fall war eine Kombination von beidem. Dann trat eine Art Lähmung ein, man spürte, daß man eigentlich noch einmal kurz zurückblicken sollte, um den alten Satz korrekt abzuschließen, aber es war klar, daß man dann für den neuen Satz zu spät käme, man wußte nicht, was wichtiger war, durch diesen Zweifel verlor man Zeit, und dann fiel man für beide Sätze aus, den alten und den neuen, und mußte den Ärger über das eigene Versagen schleunigst abschütteln, um sich in die nächste Satzfolge einzuklinken.
Das schien Perlmann das Schwerste zu sein: nicht zum Gefangenen des Ärgers über gelegentliche Einbrüche zu werden, die unvermeidlich waren. Zum Training eines Dolmetschers, dachte er, würde gehören, erst gar keinen Ärger aufkommen zu lassen, blitzschnell und emotionslos die Entscheidung zu treffen, daß an dem laufenden Satz nichts mehr zu retten war, eine normale Panne, die sofort zu vergessen war. Das war vor allem eine Frage des Selbstvertrauens, der Gewißheit, daß man sich insgesamt auf seine Konzentrationsfähigkeit verlassen konnte. Und solange man diese schwierige Balance hielt und erlebte, wie man Herr der Lage blieb, war es ein wunderbares Gefühl, das zum Rausch werden konnte. Der Rausch müßte sich noch steigern, dachte er, wenn man soweit war, zwischen zwei Fremdsprachen dolmetschen zu können, zweien, die möglichst exotisch waren, weit entfernt von der natürlichen Selbstverständlichkeit der Muttersprache. Vielfalt der beherrschten Sprachen, das war Freiheit, und die eigenen Grenzen ganz weit ins Exotische hinausschieben zu können, das mußte eine ungeheure Steigerung des Lebensgefühls sein, ein wahrer Freiheitsrausch.
Perlmann probierte jetzt, zwischen den Fremdsprachen, die aus dem Lautsprecher kamen, hin und her zu springen, und er kam sich jedesmal plump und dumm vor, wenn er gegen das Japanische prallte wie gegen eine undurchdringliche Wand. Die besondere Höhe und Helligkeit der japanischen Stimme hörte sich dann an, als mache sich die Frau über sein fehlendes Verstehen lustig. Es gefiel ihm, die ganze Anstrengung im stillen unternehmen zu können, sich gewissermaßen nur innerlich einzumischen, ohne den Lärm, den es bedeutete, wenn man sich sprechend mit der Welt einließ. Und in einer Pause des Lautsprechers, als nur das leise Rauschen des Wassers und das Tuckern des Motors zu hören waren, wußte er auf einmal, was er hätte sein mögen: ein Langstreckenläufer durch alle Sprachen der Welt hindurch, mit viel leerem Raum um sich, und ohne die Verpflichtung, mit den Menschen auch nur ein einziges Wort zu wechseln.
Diesem Gedanken hing er nach, als er nachher in einer schäbigen Kneipe in der Nähe des Hafens vor einer Pizza saß, die ihm widerstand. Er bat den verwunderten Wirt um Papier und Bleistift und begann, auf einem fleckigen Rechnungsblock die Art von Gegenwart und Freiheit zu beschreiben, die entstand, wenn man kurz hintereinander mehrere Sprachen durchschritt. Anfänglich war es mühsam, er war müde von Sonne und Lautsprecher, und die viel zu lauten Stimmen hallten im Kopf nach. Doch dann kam er in Fahrt, es gelangen ihm präzise und dichte Beschreibungen, und er formulierte Dinge, die er bisher nur vage gefühlt, noch nie aber in Worte gefaßt hatte. Zwischendurch blickte er nach Süden. Das Hotel war über eine Schiffsstunde entfernt. Er wurde ruhig. Hier an diesem wackligen Tisch, von dem die Farbe abblätterte, inmitten von Männern in Unterhemden und Latzhosen, die im Hafen arbeiten mochten, fühlte er sich mit einemmal sicher. Es gelang ihm, ganz dazu zu stehen, daß er einer war, den Sätze, wie sie auf diesen kleinen Zetteln standen, viel