Perlmanns Schweigen - Teil 57
ins Innerste. Nur mühsam kämpfte er den Gedanken nieder, daß er im Begriff war, den Verstand zu verlieren.
Donnerstag abend ging er in die Trattoria. Er sah den Wirtsleuten an, daß ihnen die Frage, wo er in den letzten Tagen geblieben sei, auf der Zunge lag. Aber nach einem langen, erschrockenen Blick auf sein Gesicht unterdrückten sie beide ihre Neugier. Perlmann ging auf die Toilette und betrachtete sein Gesicht im Spiegel. Es war, fand er, nicht bleicher als sonst; im Gegenteil, die Schiffahrt mit Kirsten hatte einen Hauch von Bräune hinterlassen. Aber die Farbe, jetzt sah er es, war auch gar nicht der Anlaß für das Erschrecken der Wirtsleute gewesen. Es war die Leblosigkeit der Gesichtszüge, die einen zurückschrecken ließ. Das Gesicht hatte etwas von der Erschöpfung eines Schiffbrüchigen an sich, etwas Verlassenes, das einem den sonderbaren Gedanken eingab, sein Besitzer habe sich davongemacht und es einfach stehenlassen. Perlmann versuchte ein Lächeln, brach aber sofort ab, als er sah, wie kalt und fratzenhaft es ausfiel.
Als Sandra ins fast leere Lokal gehüpft kam, bedeuteten ihr die Eltern mit einem Blick auf Perlmann, leise zu sein. Da bat er das Mädchen, sich zu ihm zu setzen, und fragte nach der Schule. Sie schien an seinem Gesicht nichts Besonderes zu finden, langweilte sich aber bei der Fragerei und war erleichtert, als sie wieder gehen durfte. Perlmann ließ die Hälfte seines Essens stehen, murmelte eine abstruse Ausrede und war froh, als sich der Glasperlenvorhang mit einem leisen Klirren hinter ihm schloß.
Eine Weile stand er am Hafen und sah zu, wie sich die Wellen an den Betonblöcken vor der Mole brachen. Es war gar nicht wahr, daß es schon morgen geschehen würde. Morgen war doch erst Freitag, der Tag, an dem er Maria seinen Text hätte geben sollen. Wenn er einmal annahm, daß er seine Sitzungen mit Vorträgen bestritt statt mit verteilten Texten, so war noch ein Spielraum von immerhin sechs Tagen. Abzüglich der Zeit für Silvestris Sitzungen. Er atmete ein paarmal tief durch. Jetzt kam es darauf an, das bißchen Zuversicht, das sich regte, am Leben zu erhalten. Fünf Tage, das war im Grunde eine Menge Zeit. Er hatte ja schließlich Erfahrung im Schreiben von Vorträgen, viel Erfahrung. Langsam, als könne die Zuversicht durch zu heftige Bewegungen zerbrechen, ging er zum Hotel zurück.
Als er die Tür zu seinem Zimmer aufschloß, begann das Telefon zu klingeln.
«Ich bin’s», sagte Kirsten.«Ich wollte nur schnell hören, wie es dir ergangen ist. »
Zuerst verstand Perlmann nicht. Erst als Kirsten das zweite Mal«Hallo?»rief, begriff er: Sie dachte, heute sei seine Sitzung gewesen. Es war aus Ärger über den Ton studentischer Kameraderie gewesen, den sie auch jetzt wieder anschlug, daß er ihr am Sonntag in Rapallo nichts von der Verschiebung gesagt hatte.
«Ich bin noch nicht dran», sagte er.«Es gab eine Veränderung im Zeitplan. Ich bin erst in einer Woche dran.»
«Ach so, dann hab’ ich dir den Daumen umsonst gehalten. Wer war heute dran?»
«Evelyn.»
«Aha.»
Es entstand eine Pause.
«Gibt es Giorgio noch?»
Er lachte und war darüber verwundert.«Ja, den gibt’s noch.»
«Grüß ihn von mir. Aber nicht zu freundlich! Und sag ihm… nein, laß es. »
Perlmann setzte sich an den Schreibtisch und blickte auf das Blatt mit den Stichworten, an dessen Rand er Figuren gezeichnet hatte. Wenn ich mich im Seminar langweile, zeichne ich auch Ornamente, hatte sie gesagt. Was zwischen ihr und Silvestri vorgefallen war, würde er wahrscheinlich nie erfahren. Und fragen durfte er auf keinen Fall. Diesen Fehler hatte er nur einmal begangen. Er sah ihr wütendes Gesicht vor sich und hörte den Scherz, den Agnes über seine erschrokkene Reaktion gemacht hatte.
In diesem Moment klingelte erneut das Telefon.
«Ich muß noch heute nacht nach Bologna in die Klinik fahren», sagte Silvestri.«Ausgerechnet jetzt, wo der Chef weg ist, ist der andere Oberarzt erkrankt, und es scheint auf einmal der Teufel los zu sein.»Perlmann hörte ihn rauchen.«Zwei Patienten sind… ausgerissen. Sie werden für gefährlich gehalten, und die Polizei hat sich eingeschaltet.»Er hustete.«Es tut mir leid, daß ich so unzuverlässig bin. Aber ich kann die anderen unmöglich hängenlassen. Aus meinen Sitzungen am Montag und Dienstag wird nun natürlich nichts. Ich nehme an, Sie selbst werden diese Termine übernehmen. Ich komme auf jeden Fall noch einmal zurück, und vielleicht kann ich dann in der zweiten Hälfte der Woche etwas vortragen.»Er lachte.«Und wenn nicht – die Wissenschaft wird auch ohne mich weitergehen!»
Langsam legte Perlmann auf. Seine Finger hinterließen Schweißspuren auf dem Hörer. Montag. Morgen ist Freitag. Und ich habe nichts. Keinen einzigen Satz. Er wischte die Hände an der Hose ab. Er fror. Es war vollkommen gleichgültig, was er jetzt tat. Jede Bewegung war genauso unbegründet und nutzlos wie jede andere. Jetzt war es nicht mehr aufzuhalten.
Mit schleppenden Schritten ging er ins Bad und nahm eine ganze Schlaftablette. Das Wasser schmeckte heute stärker nach Chlor als sonst. Der Geschmack erinnerte ihn an die erste Schwimmstunde im Hallenbad, als er beinahe ertrunken war. Es war eine beklemmende Erinnerung, aber sie führte weg aus der Gegenwart, und er hielt sich an ihr fest, während sich die Betäubung langsam in ihm ausbreitete.
II
Der Plan
25
Er erwachte mit Kopfschmerzen und einem Film von Schweiß auf dem Gesicht. Es war Viertel vor zehn, und die Sonne schien aus einem wolkenlosen Himmel auf das spiegelglatte Wasser der Bucht. Heute muβ ich eine Entscheidung treffen. Irgendeine.
Hier in diesem Zimmer, gleichsam unter den Augen der anderen, konnte er zu keinem Entschluß gelangen, dachte er unter der Dusche. Er verließ das Hotel durch den Hinterausgang und trank in einer Bar an der Piazza Veneto Kaffee. Allmählich ließen die Kopfschmerzen nach, und er ertrug es besser, in den strahlenden Herbsttag hinauszublicken.
Es nützte nichts, den anderen Silvestris Abreise zu verschweigen. Im Laufe des Tages würden sie es von Signora Morelli erfahren, spätestens, wenn sie nach den Texten für die Montagssitzung fragten. Und dann würden sie unweigerlich annehmen, daß er, Perlmann, die nächsten beiden Sitzungen bestritt. Where are his papers? hörte er Millar fragen. Spätestens beim Abendessen mußte er sagen können, daß das Kopieren im Gange sei. Sonst konnte er sich nicht mehr blicken lassen.
Drüben auf der Mole, wo die Linienschiffe anlegten, sammelten sich Menschen, Einheimische mit Körben und Fahrrädern, aber auch einige Touristen mit Kameras. Auf einmal kam es Perlmann vor, als würde ihm eine lange Fahrt mit dem Schiff mehr als alles andere helfen, Klarheit zu gewinnen, und er legte möglichst viel Nachdruck in diesen Gedanken, damit er die lauernde Panik übertönte.
Um elf fuhr ein Schiff nach Genua. Er stand abseits von der wartenden Gruppe, noch eine Viertelstunde, er rauchte ungeduldig, jetzt erschien es ihm unerträglich, noch länger auf dem Festland zu stehen, er wollte endlich den Fuß aufs Boot setzen und zusehen, wie sich die Wasserfläche zwischen ihm und der Hafenmole vergrößerte. Um elf war das Schiff noch immer nicht zu sehen. Er verfluchte die italienische Unpünktlichkeit.
Als er eine halbe Stunde später endlich an der Reling stand, ganz vorne auf dem Schiff, strengte er sich an, die Sinne weit zu öffnen, damit ihre Eindrücke tief und mit Macht in ihn eindrängen, so daß sie die verzweifelten Gedanken zu überwältigen und ersticken vermöchten. Er hatte keine Sonnenbrille bei sich, es tat weh, in das blendende Licht hinauszublicken, aber er kniff die Augen zusammen und versuchte, es trotzdem ganz in sich aufzunehmen. Es brach sich auf dem Wasser, in der Nähe des Bugs waren es funkelnde Punkte, leuchtende kleine Sterne, weiter draußen ruhige Flächen aus Weißgold und Platin, darüber eine Schicht von hauchdünnem Nebel, und in der Ferne ging die gleißende Fläche bruchlos über in Dunst, der sich nach oben in eine Kuppel aus milchigem Blau auflöste. Den schweren, ein bißchen betäubenden Geruch des Meerwassers atmete er in langsamen, tiefen Zügen ein, einen Geruch, der ihn schon als Kind immer von neuem zum Hamburger Hafen gezogen hatte, weil er eine intensive und zugleich vollkommen mühelose Gegenwart versprach.
Ich muβ mich konzentrieren. Wenn ich auf der Rückfahrt wieder an dieser Stelle vorbeikomme, muβ ich wissen, was ich tun werde. Er setzte sich unter das Vordach der Kabine in den Schatten. Es gab nur drei Möglichkeiten. Eine erste bestand darin, nichts vorzulegen. Kein Text, keine Sitzung. Das wäre eine Bankrotterklärung, welche die anderen zudem vor den Kopf stoßen müßte, denn sie käme ohne Vorankündigung und ohne vorheriges Werben um Verständnis. Das hatte er ja versäumt; im Gegenteil, er hatte, indem er sich bei Millar nach englischen Wörtern erkundigte, unweigerlich den Anschein erweckt, laufend an einem Text zu arbeiten. Es wäre ein plötzlicher und sprachloser Bankrott, ohne Erklärung von seiner Seite und ohne Verstehen bei den anderen, ein Abgrund an stummer Peinlichkeit. Und vollends unerträglich erschien Perlmann diese Möglichkeit, als er überlegte, auf welchem Wege er seinen Bankrott bekanntgeben könnte. Er konnte den anderen ja kaum einfach einen Zettel ins Fach legen lassen, auf dem ihnen in dürren Worten mitgeteilt wurde, es werde keinen Beitrag von ihm geben, die dafür vorgesehenen Sitzungen entfielen. Sollte er etwa hinzufügen: weil mir beim besten Willen nichts eingefallen ist? Sie würden eine Begründung verlangen, entweder ausdrücklich oder durch die Art ihres Schweigens. Oder sollte er beim Abendessen einen Offenbarungseid leisten, ans Glas klopfen und dann mit Worten, die allein schon durch die Situation von einer ungewollten und gräßlichen Feierlichkeit wären, erklären, daß er leider wissenschaftlich absolut nichts mehr zu sagen habe? Sollte er womöglich die einzelnen Kollegen auf ihren Zimmern aufsuchen und ihnen sein Unvermögen darlegen, sechsmal hintereinander und dann ein siebtes Mal am Telefon Angelini gegenüber, der zu seiner Sitzung unbedingt kommen wollte? Perlmann bekam einen