Perlmanns Schweigen - Teil 49
abgesagten Vortrag gedacht. Dabei hatte er in den Nächten, die damals der Kapitulation vorangingen, das erste Mal genau die Erfahrung gemacht, die ihn nun seit Wochen lähmte und erstarren ließ: die Erfahrung, daß er absolut nichts zu sagen hatte. Sie war ein derartiger Schock gewesen, diese plötzliche Erfahrung, daß er sie hatte verbannen müssen. Und darin war er sehr erfolgreich gewesen, denn er hatte nachher Dutzende von Vorträgen geschrieben, die ihm leicht und selbstverständlich aus der Feder geflossen waren. Und diese ganze Zeit über war ihm nicht die Spur einer Erinnerung an das damalige Versagen in die Quere gekommen. Bis zum heutigen Tage, von dem aus gesehen jener Abend Ende März als der erste, drohende Vorbote der jetzigen Katastrophe erschien.
Er nahm eine halbe Schlaftablette, probierte noch einmal alle Fernsehkanäle durch, und löschte dann das Licht. Ganz stimmte es nicht, daß die damals verbannte Erfahrung sich nie mehr gemeldet hatte. Er dachte wieder an den Moment vor einem Jahr, als er sich auf dem Konferenzprogramm plötzlich als Hauptredner aufgeführt gefunden hatte. Von der Panik, die damals aufgeflackert war, gab es, so kam es ihm jetzt vor, einen untergründig erlebten Spannungsbogen sechs Jahre zurück zu dem Tag von Chagalls Tod. Warum eigentlich nicht, hatte Agnes gesagt, als er ihr gereizt erklärte, er könne den Organisatoren der Konferenz doch nicht einfach mitteilen, er habe nichts zu sagen.
Perlmanns Gedanken begannen an den Rändern zu verschwimmen. Wie paßten die beiden Reaktionen von Agnes, die vor einem Jahr und die vor sieben Jahren, zusammen? Er versuchte sich das Gesicht vorzustellen, das die beiden Bemerkungen begleitet hatte. Aber das einzige Gesicht, das kam, war dasjenige auf dem Foto in Frankfurt, vor dem er gestern geflohen war, weil es zuviel wußte.
Immer dann, wenn alles Denken und Wollen zu zerfließen begann und jeden Moment die Stille einsetzen konnte, schrak er auf, und dann verkrampfte sich alles hinter der Stirn. Beim viertenmal machte er Licht und wusch sich im Bad das Gesicht. Dann wählte er Kirstens Nummer. Ihre verschlafene Stimme klang gequält.
«Oh, entschuldige», sagte er,«ich hab’ dich geweckt. »
«Ach, du bist es, Papa. Sekunde.»Er hörte ein wischendes Geräusch, dann eine Weile nichts mehr. Erst jetzt sah er auf die Uhr: Viertel vor eins.
«So, da bin ich wieder. »Jetzt klang ihre Stimme frischer.«Gibt’s was Besonderes? Oder rufst du nur so an?»
«Eh… nur so. Das heißt… eigentlich wollte ich dich fragen, warum Agnes… warum Mama Chagalls Farben nicht mochte.»Er verfluchte sich, daß er sie mit seiner schweren, pelzigen Zunge angerufen und nicht wenigstens vorher eine Sprechprobe gemacht hatte.
«Was für Farben?»
Er ballte die Faust und war versucht, einfach aufzulegen.«Die Farben auf Marc Chagalls Bildern. »
«Ach so. Chagall. Du sprichst so undeutlich. Na ja… ich weiß nicht… eine komische Frage. Hat sie sie denn wirklich nicht gemocht? »
«Ja, hat sie. Aber jetzt noch was anderes: Glaubst du, sie hätte es verstanden, wenn ich mal nichts zu sagen gewußt hätte?»
«Wie: nichts zu sagen?»
«Wenn mir… ich meine, wenn mir mal einfach nichts eingefallen wäre. »
«Zu was?»
«Zu… einfach so. Nichts eingefallen. Und die anderen warteten.»«Papa, du sprichst in Rätseln. Welche anderen denn?»
«Die anderen eben. »Er hatte es so leise gesagt, daß er unsicher war, ob sie es gehört hatte.
«Ich verstehe nur Bahnhof. Papa, was ist los mit dir?»
Er versuchte, ganz schnell Speichel zu erzeugen, und ließ ihn über die Zunge laufen.«Nichts, Kirsten. Es ist nichts. Ich wollte nur ein bißchen mit dir reden. Gute Nacht jetzt. »
«Eh… ja. Dann also… gute Nacht.»
Er ging ins Bad und nahm noch eine Vierteltablette. Zum Glück hatte er sie nicht gefragt, ob sie sich an den abgesagten Vortrag damals erinnere. Viel hatte nicht gefehlt. Er drehte sich auf den Bauch und preßte das Gesicht ins Kissen, als könne er dadurch den Schlaf herbeizwingen.
20
Auch Laura Sands zweite Sitzung begann mit Filmbildern. Es war ganz anderes Material als am Tag zuvor, und in der ersten halben Stunde kamen hin und wieder Bildfolgen, bei denen sie sich in der Blende vertan hatte. Sie schimpfte über die schlechte Qualität der Filme dort unten, aber Perlmann sah sofort, daß es daran nicht gelegen hatte. Beinah so deutlich, als seien es hineingeschnittene Filmbilder, sah er Agnes im weißen Kittel aus der Dunkelkammer kommen, wütend über sich selbst und tröstungsbedürftig wie ein Kind. Statt zum wirklichen Film zurückzukehren, blieb er bei diesen Bildern und glitt zurück durch die Nacht bis zum Gespräch mit Kirsten. Von Chagall hatte er etwas gefaselt, und irgendeine absurde Frage über Agnes hatte er ihr gestellt. Die Einzelheiten hatte die verfluchte Tablette sofort gelöscht. Ich muß endlich damit aufhören. Aufhören. Er griff zum Mineralwasser, und als er mit dem Glas an die Kaffeekanne stieß, wandten die anderen den Kopf. Zum Glück hatte Maria vorhin vor dem Bildschirm gesessen. Auf diese Weise hatte er die vorbereiteten Sätze, die mit jeder inneren Sprechprobe noch hölzerner geklungen hatten, nicht abzuspulen brauchen.
«Dios mio!» rief Evelyn Mistral leise aus. Perlmann sah nach vorn. Die Bilder, die jetzt liefen, waren tatsächlich atemberaubend schön. Das gläserne Licht eines frühen Morgens über der Steppe machte aus den Konturen der kargen Sträucher geheimnisvolle, poetische Gebilde, auf die sich die Einbildungskraft sofort stürzte, und das verwaschene, von einem hellen Grau durchzogene Gelb der Steppe verlor sich gegen die aufgehende Sonne hin in einer endlos scheinenden, weißen Tiefe. Der Anblick hatte Laura Sand selbst derart gefangengenommen, daß sie beim selben Ausschnitt geblieben war, bis die Arme vor Ermüdung gezittert hatten.
Jetzt schwenkte die Kamera langsam zur Seite, und mit einemmal war die Steppe übersät von Gerippen toter Tiere. «i Jesús María!» rief Evelyn Mistral, und danach konnte man hören, wie sie mit offenem Mund Luft holte. Die Kamera bewegte sich weiter nach links, dann kam ein Schnitt, und nun sah man den Rand einer Siedlung, immer noch im selben träumerischen Licht. Die Menschen bewegten sich kaum, blickten mißtrauisch oder apathisch in die Kamera. Aufgeblähte Kinderbäuche, ausgewachsene Körper so ausgemergelt, daß die Gelenkknochen als groteske Vergrößerungen erschienen. Überall Fliegen, gegen die sich längst niemand mehr wehrte. Langsam strich die Kamera über die Siedlung. Die Bilder glichen sich. Die Kamera glitt weiter, bis die Menschen aus dem Bild verschwunden waren. Für ein paar Sekunden noch einmal die Schönheit der menschenleeren Steppe, jetzt bereits in einem Licht, das die sengende Hitze des Mittags ahnen ließ. Dann brach der Film ab.
Für einige Augenblicke rührte sich im Dunkeln niemand, nur das Rücken von Laura Sands Stuhl war zu hören. Dann gingen Evelyn Mistral und Silvestri ans Fenster und lösten die Jalousien, die nach oben schnappten.
«Well», sagte Millar im Ton von jemandem, der gerade etwas höchst Zweifelhaftes gehört hat.
Ruckartig hob Laura Sand den Kopf.«Ist was?»Eine lauernde Schärfe vibrierte in ihrer Stimme.
«Nun ja», sagte Millar,«Hunger und Tod als poetische Kulisse – ich weiß nicht. »
Laura Sands Gesicht erschien über dem schwarzen Rollkragen noch weißer als sonst.
«Nonsense», sagte sie und preßte das Wort so heftig heraus, daß man nur die erste Silbe richtig hörte.
«Das», sagte Millar langsam und neigte den Kopf,«kann ich nicht finden. »
An Adrian von Levetzovs nervöser Hand konnte man erkennen, daß er den Streit, der sich da anbahnte, nicht ertrug.«In welcher Gegend ist das gefilmt?»fragte er mit der aufgeräumten Interessiertheit eines Bildungsbürgers, in die er sonst niemals verfallen würde.
«Sahelzone», gab Laura Sand knapp zurück.
«Indeed», murmelte Millar, «indeed.»
Giorgio Silvestri blies den Rauch lauter aus als nötig.«Die Bilder am Ende waren sehr eindrücklich», sagte er.«Auch wenn dieses Licht – come dire – zum Vergessen verführt. Oder zum Verschleiern. Aber eigentlich würde ich gern zum Thema zurückkommen: zur Deutung der interessanten Blicke, die sich die Tiere da zugeworfen haben. »
Seine Stimme hatte eine sonderbare, unaufdringliche Autorität gehabt, dachte Perlmann nachher, als das fachliche Gespräch wieder in Gang gekommen war. Es war die Stimme von jemandem, der gewohnt war, in genau dem richtigen Moment einzugreifen und einer heiklen Gesprächssituation eine bestimmte Wendung zu geben. Dabei hatte dieses Eingreifen nicht das geringste von einem Chef an sich gehabt, und jetzt hatte der Italiener bereits wieder das Bein angezogen und lümmelte sich auf seinen Stuhl wie ein Teenager.
Laura Sand blieb in ihren weiteren Beiträgen kühl, und man spürte die verhaltene Wut auch dann noch, als ihre erste Erregung abgeklungen war. Millar gab sich Mühe und kleidete seine Einwände in Frageform. Aus Evelyn Mistral sprudelte es heute zum Glück nur so heraus, und als sie den Botschaften, welche die Tiere ihrer Ansicht nach austauschten, eine burschikose sprachliche Form gab, die zudem einige lustige grammatische Fehler enthielt, mußte auch Laura Sand schließlich lachen.
Perlmann sagte nichts. Es ging auf ein Uhr, und er probte innerlich die Sätze für Maria; denn daß er ein zweites Mal unbemerkt an ihr vorbeikam, wo sie doch auf seinen Text wartete, war höchst unwahrscheinlich.
Er finde diesen ganzen Stoff unerhört spannend, sagte Millar, als Laura Sand auf die Uhr sah und ihre Papiere zusammenschob. Und deshalb schlage er vor, damit auch am Montag noch weiterzumachen. Er blätterte in den Texten.«Und am Dienstag. Denn auch theoretisch gibt es da noch vieles, worüber ich mehr wissen möchte. »
Laura Sand ließ sich Zeit, bis sie seinen erwartungsvollen Blick erwiderte. «Okay», sagte sie dann, und die Art, wie sie Millars Yankee-Tonfall imitierte, war das Zeichen, daß sie sein Versöhnungsangebot annahm. Millar rückte mit dem Zeigefinger die Brille über der Nase zurecht. «Swell.» Sie verzog das Gesicht ob dieser Ausdrucksweise. Um seinen Mund herum zuckte es.
Perlmann rechnete fieberhaft: Das hieß, daß die zweite Hälfte der kommenden Woche von Evelyn Mistral bestritten wurde und er erst am Montag der letzten Woche dran war. Spätestens am Samstag vorher