Perlmanns Schweigen - Teil 39
spürte, wie seine Hände gefroren. Er wollte um keinen Preis nicken und nickte doch.
«Ich bin wirklich sehr gespannt darauf», sagte Millar, und durch die anschwellende Hitze im Gesicht hindurch nahm Perlmann wahr, daß er es ganz ohne Argwohn und Tücke sagte.
«Man hat den Eindruck, Sie arbeiten Tag und Nacht daran. Na ja, in… warten Sie… in zwei Wochen können wir es ja lesen. »
Bevor Perlmann den anderen in den Salon folgte, ging er auf die Toilette und hielt das Gesicht in die Wasserschale, die er mit den Händen formte. Es sind nur noch elf Tage. Spätestens am Donnerstag morgen muß Maria den Text haben.
«Wenn ich heute wieder spiele, ist es bereits ein Ritual», sagte Millar gerade, als Perlmann den Salon betrat.
Von Levetzov und Evelyn Mistral klatschten. Millar grinste, knöpfte den Blazer auf und ließ sich nach einer angedeuteten Verbeugung auf der Klavierbank nieder. Er spielte Präludien und Fugen aus dem Wohltemperierten Klavier.
Minutenlang saß Perlmann mit geschlossenen Augen da und stemmte sich mit aller Kraft nach innen, um zu verhindern, daß die Panik in ihm hochschoß wie eine Fontäne. Wenn ich in etwas drin bin, kann ich sehr schnell schreiben. Das weiß ich. So etwas ändert sich auch nicht. Um hineinzukommen brauche ich einen Tag. Oder zwei. Dann bleiben neun Tage. Siebzig, achtzig Arbeitsstunden. Ich kann es noch schaffen.
Die Verkrampfung ließ ein bißchen nach, die Musik drang zu ihm durch, und vage, wie aus weiter Ferne, meldete sich die Erinnerung an Bela Szabo, der sich mit dem Taschentuch den Schweiß aus dem Gesicht wischte. Perlmann griff nach diesem schemenhaften Bild wie nach einem rettenden Instrument, er zwang es herbei und starrte es an, bis es klarer und dichter wurde und nach und nach eine ganze Szene freigab, die in ihrer wachsenden Lebendigkeit die flackernde Angst zurückdrängte.
Als er Perlmann die Episode mit heiserer Stimme erzählte, hatte Szabo zusammengekrümmt dagesessen, die Ellbogen auf die Knie gestemmt, den Kopf in den Händen. Schostakowitsch, der als Juror zum Bach-Wettbewerb in Leipzig entsandt worden war, hatte ihn beim abschließenden Buffet angesprochen. Szabos Komposition sei nicht schlecht, habe er gesagt, sie sei durchaus gefällig, und sogar ein bißchen mehr. Aber noch nicht wirklich ein Einfall.
Während draußen vor dem Konservatorium Lastwagen vorbeidonnerten, hatte Szabo diesen Satz stets von neuem wiederholt, und in der Bitterkeit seiner Stimme hatte die Gewißheit gelegen, daß er ihn nie würde vergessen können. Perlmann war aufgestanden und hatte trotz der Hitze das Fenster zugemacht.
Dabei habe sich Schostakowitsch damals in Leipzig als ein ausgemachter Feigling entpuppt, hatte Szabo gesagt, während er sich mit dem Taschentuch übers Gesicht fuhr. Als er öffentlich auf einen nicht gezeichneten Artikel in der Pravda angesprochen worden sei, in dem Hindemith, Schönberg und Strawinski als Obskuranten und Lakaien des imperialistischen Kapitalismus gebrandmarkt wurden, habe er, wenn auch zögernd, erklärt, er stimme dem zu. Er habe seinen Ohren nicht getraut, sagte Szabo, und dann hatte Perlmann gesehen, wie das Blut in der violetten Zornesader pulsierte, die an seiner bleichen, alabasternen Schläfe hervorgetreten war. Diese Art von Feigheit, hatte Szabo herausgepreßt, sei mitverantwortlich gewesen für die blutige Niederschlagung des Ungarn-Aufstands, an dessen Ende sie seinen Vater an die Wand gestellt hatten. Vielleicht eine Minute lang hatte Szabo mit geballten Fäusten dagesessen. Dann hatte er Perlmann mit seinen wäßrig grauen Augen angeblickt, die denen von Achim Ruge nicht unähnlich waren. Warum erzähle ich Ihnen das alles? Let’s get back to work! Dabei haßte er Englisch.
Bachs Präludien und Fugen wurden unter Millars Händen auch heute abend zu unsichtbaren Gebilden von kristalliner Architektonik – feine weiße Linien hinter der Nacht. Das war die Musik, die Schostakowitsch damals in Leipzig derart fasziniert hatte, daß er mit einem eigenen Zyklus reagierte. Perlmann versuchte, die Fugen der beiden Komponisten nebeneinander zu hören. Hatte er das gläserne Perlen und die besondere Art des Verklingens, die Schostakowitschs Stücke kennzeichneten, damals in dem Konzert eigentlich wirklich gemocht? Oder war es eher Hanna mit der verbundenen Hand gewesen, die alles verklärt hatte?
«Du hast ausgesehen, als seist du sehr weit weg, auf einem anderen Stern», sagte Evelyn Mistral beim Hinausgehen.«Machen wir morgen wieder einen Spaziergang? Vielleicht wird ja wieder geheiratet! »
Perlmann nickte.
Aber noch nicht wirklich ein Einfall. Kaum hatte er die Tür hinter sich zugemacht, schlug Perlmann das russische Wort für Einfall nach und versuchte dann, Schostakowitschs ganze Bemerkung auf russisch zu formulieren. Er war unsicher, ob die Art, wie er die russischen Wörter brav aneinanderreihte, die flüßige Beiläufigkeit der deutschen Bemerkung traf. Und plötzlich kam es ihm vor, als könne er überhaupt kein Russisch. Eine Weile starrte er auf die Wörter, um sich zu vergewissern, daß er die kyrillische Schrift wirklich lesen konnte.
Hatte er selbst jemals einen wirklichen Einfall gehabt? Der Mond schien ins Zimmer. Er zog die Vorhänge zu. Jetzt war die Dunkelheit erstickend. Er schob die Vorhänge wieder zurück. Neun Tage. Zehn. Die Panik sickerte in die quälende Wachheit hinein. Er ging ins Bad und nahm eine ganze Schlaftablette.
15
Er schlief bis weit in den Sonntag hinein. Der Kellner, der ihm das späte Frühstück brachte, überreichte ihm einen Zettel, der in der Tür gesteckt hatte: Also doch kein«Hochzeitsspaziergang»? Wenn du am Nachmittag etwas unternehmen willst, melde dich! Evelyn.
Ihre sorgfältige, nach vorne geneigte Schrift mit den gerundeten Verbindungslinien zwischen den Buchstaben gefiel ihm, und als der Kellner die Tür hinter sich zugemacht hatte, ging er zum Telefon. Mitten im Wählen legte er wieder auf. Nicht mit diesem Kopf, und überhaupt nicht in einer derart zittrigen Verfassung.
In Leskovs Text kamen jetzt die Seiten, auf denen die Erinnerung an sinnliche Erfahrungen in Analogie zur Erinnerung an Gefühle interpretiert wurde. Der reiche, von Leskov offenbar mit Genuß ausgebreitete Wortschatz für die Schattierungen in Geruch und Geschmack, aber auch für Tonqualitäten, war wie ein Dickicht, durch das man sich Schritt für Schritt hindurchkämpfen mußte, und wieder einmal wurde Perlmann bewußt, wie viele Winkel es auch im Englischen gab, in die er noch nie geleuchtet hatte. Oft mußte er zum englisch-deutschen Wörterbuch greifen, um zu wissen, wovon die Rede war, und es blieben gut zwei Dutzend Stellen, wo er ein englisches Wort hinschrieb, ohne zu wissen, was es bedeutete. Millar wüβte es. Er kam sich dann vor wie eine Maschine, die Zeichen nach bloß syntaktischen Regeln zuordnete, ohne irgend etwas von der Entsprechung der Bedeutungen zu wissen. Das ließ nicht nur eine Empfindung der Blindheit und Hilflosigkeit entstehen, sondern verhinderte auch, daß er richtig in den Sog des Übersetzens geriet, der ihn gegen die Panik hätte schützen können, die jetzt, wo die nächtliche Betäubung abgeklungen war, mit immer mehr Macht ins Bewußtsein drängte.
Als er spürte, daß ihn die Angst im nächsten Augenblick überspülen und mit sich fortreißen würde, streckte er den Arm aus und griff nach dem russisch-italienischen Wörterbuch in der hinteren Ecke des Schreibtischs wie nach einem Rettungsanker. Er hatte Glück, eine Reihe der unverstandenen Wörter wurde ihm über diesen Umweg klar, und nun warf er sich mit aller Kraft in den Versuch, die nächsten Absätze direkt ins Italienische zu übersetzen.
Die ersten Zeilen, die er direkt hinter einen englischen Absatz geschrieben hatte, strich er wieder aus und nahm für den italienischen Text neue Blätter. Allmählich stellte sich das Prickeln ein, das er immer empfand, wenn er zwischen zwei Fremdsprachen hin- und hersprang. In den nun folgenden Passagen ging es um farbliche Erinnerungen, und jetzt stellte er fest, wie wenig versiert er im Italienischen war, wenn es um ausgefallene Farbwörter ging. In freudiger Aufregung griff er wieder zum großen roten Lexikon und fand dort viele der Wörter wieder, die Laura Sand ihm gestern nachmittag erklärt hatte. Er stellte eine englisch-italienische Liste dieser Wörter zusammen und war ärgerlich, daß das russisch-italienische Wörterbuch zu beschränkt war, um alle Lücken zu schließen.
Als er im Handkoffer nach neuem Schreibpapier suchte, fiel ihm das schwarze Wachstuchheft mit seinen Aufzeichnungen in die Hand. Der einzige eigene Text, den ich mithabe. In einer Mischung aus Neugierde und Scheu setzte er sich in den roten Sessel und begann zu lesen:
Man kann es nicht oft genug betonen: Man wächst in die Welt hinein durch Nachplappern von Wörtern. Diese Wörter kommen nicht allein, wir hören sie als Teile von Urteilen, Sinnsprüchen, Sentenzen. Mit diesen Urteilen verhält es sich lange Zeit ähnlich: Auch sie plappern wir einfach nach. Nicht viel anders als den Refrain eines Kinderlieds. Und man muß es fast als einen Glücksfall bezeichnen, wenn es einem später gelingt, diese aufdringlichen, betäubenden Wortfolgen als das zu erkennen, was sie sind: blinde Gewohnheiten.
MESTRE IST HÄSSLICH, sagt der Vater, wann immer die Rede auf Venedig kommt. VENEDIG IST EIN TRAUM. MESTRE DAGEGEN IST HÄSSLICH. Man hört den Satz immer wieder, er kommt mit der Regelmäßigkeit eines Automaten. Es ist die schiere Wiederholung, das Klicken eines Automatismus, sonst nichts. Und dann spricht man den Satz nach. Man hat ihn nicht überprüft, von Aneignung keine Spur. Es geschieht wirklich nur dieses: Man spricht ihn nach, wiederholt ihn mit wachsender Routine. Das ist alles. Man versteht den Satz, es ist ein Satz der Muttersprache. Trotzdem drückt er nichts aus, was man einen Gedanken nennen könnte. Es ist ein blind verstandener, buchstäblich gedankenloser Satz.
DIE POEBENE IST LANGWEILIG ist ein anderer dieser Sätze, dieses Mal einer der Mutter. Man sagt in Zukunft:«Wenn es auf der Fahrt durch die Poebene Nacht ist, so macht das nichts, die Poebene ist ohnehin langweilig»; und so weiter. Der Satz steht nicht mehr zur Disposition. Er ist ein innerer Fixpunkt, eine Konstante, ein Träger im Gerüst. Er stellt für immer eine Weiche, macht ein Geleise