Perlmanns Schweigen - Teil 33
redete Millar, ohne sich auch nur zu ihm umzudrehen, einfach weiter, als sei da nur ein störendes Geräusch gewesen, das er über sich hatte ergehen lassen müssen.
Es hatte aufgehört zu regnen, aber über der Bucht hingen immer noch dunkle Wolken, und von den weißen Tischen auf der Terrasse tropfte es in den Kies. Der junge Mann mit dem Rucksack und der Pelerine, der jetzt in Perlmanns Blickfeld trat, hatte einen zögernden Schritt und sah sich um wie einer, der befürchtet, bei etwas Verbotenem ertappt zu werden. Er blickte zur Fassade hinauf, machte ein paar Schritte in Richtung Schwimmbecken, und als er sah, daß in der Veranda Leute saßen, ging er eilig zurück zur Freitreppe. Das Hagere seiner Gestalt und die Art, wie er die Zigarette gehalten hatte, erinnerten Perlmann an etwas Unangenehmes, irgendeine Begebenheit in den Semesterferien, aber kurz bevor er es zu fassen bekam, verschwand es wieder in der Müdigkeit.
Eigentlich wahr, sagte Millar gerade, das sei doch die ideale Gelegenheit, um einmal in Ruhe die verschiedenen Grammatiktheorien der letzten Jahre Revue passieren zu lassen und eine Bilanzierung zu versuchen. Achim und er selbst könnten das morgen vorbereiten, und dann könnten sie die Dinge am Donnerstag und Freitag zusammen durchgehen. Ob es Adrian etwas ausmache, wenn seine Sitzung erst zu Beginn der nächsten Woche stattfinde?
Dann verschiebt sich alles um eine halbe Woche. Das bedeutet, daß ich auf keinen Fall schon in der vierten Woche drankomme. Also bleiben mir fünfzehn Tage, vorausgesetzt, Donnerstag und Freitag reichen für das Abschreiben. Er finde es eine gute Idee, sagte Perlmann, als ihn die anderen fragend ansahen.
«Und ob das eine gute Idee ist! »sagte Evelyn Mistral zu ihm, als sie die Veranda als letzte verließen.«Dadurch gewinne ich eine halbe Woche! Sollen wir das in der Stadt mit einer Pizza feiern? Trotz des Regens?»
Er wolle sich lieber etwas ausruhen, sagte er, er habe schlecht geschlafen.
«Ja, man sieht es dir an», sagte sie und berührte ihn leicht am Arm.
Als er kurz vor vier aufwachte, wußte er plötzlich, woran ihn der hagere Junge in der Pelerine erinnert hatte. Zum drittenmal schon hatte Frau Hartwig gemahnt, jenen Brief wegen der Zusammenarbeit mit einem israelischen Kollegen zu beantworten, und so war er kurz vor ihrem Dienstschluß ins Büro gegangen und hatte die Absage diktiert. Nachher hatte er die übrige Post durchgesehen, und weil er gerade einen Bücherkatalog mit Schwung in den Papierkorb beförderte, hatte er das zögernde, schuldbewußte Klopfen fast überhört.
Es war ein Student, ein hagerer Junge mit vorstehendem Adamsapfel und abstehenden Ohren, der die selbstgedrehte Zigarette auffällig weit von sich weg hielt, als ekle er sich davor. Er hatte in dem unübersichtlichen Gebäude die Orientierung verloren und wollte eigentlich nur ein Vorlesungsverzeichnis. Perlmann bat ihn herein und fragte ihn über eine halbe Stunde aus, der Junge wußte nicht, wie ihm geschah. Er fragte ihn sogar nach seinen Urlaubsplänen und seiner finanziellen Situation, und die Frage nach einer Freundin unterdrückte er erst im letzten Moment. Nachher erschrak er über seine Distanzlosigkeit. Ein paar Tage später war ihm der Junge mit seiner Freundin auf der anderen Straßenseite entgegengekommen. Perlmann war zusammengezuckt, als er sah, wie die beiden tuschelten und lachten, und hatte sich wegen drohenden Verfolgungswahns ermahnen müssen. Die Freundin war sehr hübsch, und an ihrer Seite hatte der Junge überhaupt nicht mehr verschüchtert und hilflos gewirkt. Auch die Ohren schienen weniger abzustehen. Perlmann erinnerte sich jetzt wieder genau, was er gedacht hatte: Ich verliere das Urteilsvermögen. Wenn ich denn jemals eines besessen habe.
Er duschte lange, um die Erinnerung wegzuschwemmen, und begann dann mit Leskovs Text ganz von vorn. Jetzt, im zweiten Durchgang, verstand er alles viel besser, und die ersten Absätze standen erstaunlich schnell. Das neue Wörterbuch war wirklich fabelhaft, nur das gräuliche Papier mit seiner seifigen Glätte blieb unangenehm anzufassen, so daß er hin und wieder das Bedürfnis hatte, die Hände zu waschen. Der programmatische Satz am Anfang des Texts war auf englisch kein Problem, und erst bei den Beispielen für den Begriff einer erinnerten Szene geriet er ins Stocken. Die Konzentration ließ nach, und jetzt meldete sich auch der flaue Magen. Sandra. Die Klausur. Kurz vor acht schlich er sich durch den Hinterausgang aus dem Hotel und machte sich auf den Weg zur Trattoria.
Wo er denn gestern gewesen sei, fragte die Wirtin scherzend, und dann rief sie nach Sandra, die mit hüpfendem Zopf heruntergelaufen kam und ihm das offene Heft auf den Teller legte. Es war immer noch viel Rot auf den Seiten, aber es hatte zu einer genügenden Note gereicht, der ersten seit Wochen. Den Rest der Woche könne er umsonst essen, sagte der Wirt und schlug ihm mit seiner schweren Hand auf die Schulter. Und er solle sich ruhig das Teuerste aussuchen!
Perlmann schlug in der Chronik das Attentat auf Robert Kennedy nach. Richtig, nur wenige Wochen davor, während er sich auf die Doktorprüfung vorbereitet hatte, war auch auf Martin Luther King und Rudi Dutschke geschossen worden. Der Prager Frühling. Die Studentenunruhen in Paris. Von Woche zu Woche, beinahe schon von Tag zu Tag, war ihm damals die Spannung zwischen seinen persönlichen Sorgen, die der Prüfung und der offenen Assistentenstelle galten, und den politischen Entwicklungen draußen in der Welt immer deutlicher zu Bewußtsein gekommen. Was war wichtiger? Was hieß da wichtig? Und in welchem Sinne konnte man von der Verpflichtung sprechen, an den politischen Entwicklungen Anteil zu nehmen? War es klar, was Anteil nehmen hieß? Für einige Zeit hatte er seine Gewohnheiten geändert und morgens, bevor er an den Schreibtisch ging, Zeitung gelesen. Aber es war gegen sein Empfinden, und so war er, ohne auf seine Fragen eine Antwort gefunden zu haben, wieder zu dem alten, umgekehrten Rhythmus zurückgekehrt.
Es war im Zug nach Venedig gewesen, daß er damals in der Zeitung vom Attentat auf Robert Kennedy gelesen hatte. Perlmann stützte den Kopf in die verschränkten Hände und dachte an den Moment zurück, in dem der Zug in Mestre auf den Damm nach Venedig hinüber eingebogen war. Er hatte den Kopf in den warmen Abend hinausgestreckt und sich immer wieder das Zauberwort vorgesagt: Venedig. Der Moment war auch jetzt noch so lebendig, daß er all die anderen Köpfe und ausgestreckten Arme entlang dem Zug vor sich zu sehen meinte. Und dann, bei der Einfahrt in den Bahnhof, hatte seine offene Zeitung mit dem Bericht über den Contergan-Prozeß auf dem Sitz gelegen. Die Reisetasche schon in der Hand, hatte er noch einmal auf die Bilder verkrüppelter Kinder geblickt. Eine schmerzhafte Wachheit war in ihn gefahren, als er in seiner vielsagenden Unschlüssigkeit als letzter im Abteil stand. Den damaligen Konflikt zwischen dem eigenen Glück und der Anteilnahme an fremdem Leid hatte er seither in zahllosen Variationen immer wieder erlebt. Er hatte die Zeitung schließlich liegenlassen, und die schrecklichen Bilder der Kinder waren von dem lauten, wunderbaren Bahnhofstrubel weggespült worden.
Die Tauben hatten sie zusammengeführt, die Tauben auf dem Markusplatz. Als er dastand, die Hände in den Taschen, und zusah, wie sie auf Kopf und Schultern der Touristen landeten, hatte auch er sich plötzlich mitten in einer Wolke aus flatternden Tieren befunden, deren Flügel sein Gesicht entlangwischten und ihm um ein Haar die Brille herunterrissen. Es war ihm wie ein Überfall vorgekommen, und er hatte aufgeregt um sich geschlagen. Agnes mit der großen Kamera vor dem Gesicht hatte er erst bemerkt, als die Tauben von ihm abließen. Der Apparat klickte noch ein paarmal, und dann sah er zum erstenmal ihren hellen, wäßrig leuchtenden Blick und ihr spöttisches Lächeln, das weicher und leichter war als dasjenige von Laura Sand, weil es keinen Hintergrund aus Zorn gab.
Sie war in ihren hellen Hosen und den Sandaletten auf ihn zugekommen.«Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse», hatte sie gesagt, und wie zahllose Male danach hatte ihn das Dunkle in der Stimme überrascht, das so gar nicht zu den transparenten Augen paßte.«Aber es sah einfach zu komisch aus, wie Sie sich da wehrten. Wie gegen einen Hagelsturm oder Taifun. Es steckt eine Geschichte in der Szene. So etwas muß ich festhalten. Das ist wie eine Sucht. Wenn Sie wollen, schicke ich Ihnen ein paar Abzüge. »
Bevor er hatte antworten können, hatte sie laut aufgelacht und auf sein Haar gedeutet.«Nein, nicht hinfassen! Es ist voller Taubendreck. »
Als sie erfuhr, daß sein Hotel am anderen Ende der Stadt lag, zog sie ihn mit sich zu dem kleinen Albergo um die Ecke, wo sie wohnte. Er mußte sich auf einen Schemel knien, und dann wusch sie ihm in dem fleckigen Waschbecken, das mehrere Sprünge hatte, das Haar aus. Ihre sanfte, praktische Art brach jeden Widerstand. Sie könne nicht erklären, warum sie ihn auf deutsch angesprochen habe, sagte sie beim Frottieren; irgendwie habe er auf sie einfach so gewirkt.
Wieder auf der Straße, hatte sie sich bald von ihm verabschiedet. Eine Verabredung mit einem Kollegen von der Zeitung. Er hatte ihr noch seine Adresse auf einen Zettel gekritzelt, und dann war sie in der nächsten Gasse verschwunden. Es war alles gewesen wie ein Spuk. Er war froh, daß er seinen frisch erworbenen Doktortitel nicht mit auf den Zettel geschrieben hatte. Im übrigen hatte er keine Ahnung, was er empfand, als er nachher in einem Cafe auf dem Markusplatz saß und bei Musik sein weniges Geld für überteuerte Getränke ausgab, so daß es am Ende nicht einmal mehr für ein Abendessen reichte. Oder doch, eines wußte er: Es gefiel ihm, wie die Episode mit dieser Frau aufgeblitzt war und sich ohne Vorgeschichte und ohne Fortsetzung in seine gegenwartsarme