Perlmanns Schweigen - Teil 30
denn gar nichts auszusetzen gehabt habe, fragte ihn Ruge beim Hinausgehen. Perlmann war noch erfüllt von der eben gewonnenen Einsicht in die Logik seines Mißverständnisses, und es gelang ihm ein entspanntes Lächeln. Er habe es einfach genossen, einmal nur zuzuhören, sagte er leichthin. Man müsse ja sonst soviel reden.
«Eh… ja, da haben Sie allerdings Recht», lachte Ruge, und Perlmann schien es, als sei dieses Lachen eine Spur weniger selbstsicher als sonst.
Millar stand an die Empfangstheke gelehnt und spielte mit dem Zimmerschlüssel. Jetzt trat er auf Perlmann zu. Wie es mit ihrer Verabredung sei?«Wegen jener Frage, meine ich. »
Perlmann bat Signora Morelli um den Schlüssel und suchte ihren Blick, als könne sie ihm helfen. Der Schutz, den ihm die Einsicht von vorhin gegeben hatte, war wie weggeblasen.
«Ich melde mich», sagte er schließlich und verschwand so schnell in Marias Büro, daß es an eine Unverschämtheit grenzte.
Die vielen Reifen an Marias Handgelenken klirrten bei jeder Bewegung, die sie am Computer machte. Heute hatte sie einen Kaugummi im Mund, und wie gewohnt atmete sie den Rauch während des Sprechens aus. Perlmann bat sie, wegen der Platte in Rapallo anzurufen. Scherzend brachte sie die Leute am anderen Ende dazu, trotz der beginnenden Siesta schnell nachzusehen. Keines der beiden Musikgeschäfte dort hatte die Platte, aber das zweite bot an, sie aus Genua kommen zu lassen, es würde ein bis zwei Tage dauern. Perlmann schüttelte den Kopf, als sie ihm das übermittelte, und daraufhin beendete sie das Telefonat, ein bißchen ratlos ob seiner unverständlichen Eile. Sie ließ keine Ungeduld erkennen, als Perlmann sie bat, es jetzt in Genua zu versuchen. Nur der Kaugummi knallte ab und zu zwischen ihren Zähnen. Sie kannte das größte Musikgeschäft am Ort, sie war, wie sie sagte, dort aufgewachsen. Zunächst hieß es, die Platte sei nicht da, und nach Marias Gesicht zu schließen bezweifelten sie, daß es sie überhaupt gab. Doch dann sagte Maria ein paar undeutliche, bis zur Unkenntlichkeit verschliffene Sätze, die Genueser Dialekt sein mußten, und daraufhin ließen sie im Lager und bei den Neuzugängen nachsehen. Es dauerte lange, Perlmann fühlte sich unbehaglich, und er war Maria dankbar, als sie scherzhaft sagte, da müsse aber eine besonders schöne Musik drauf sein. Sie war sichtlich erleichtert, als sie Perlmann schließlich sagen konnte, die Platte sei da, sie sei mit der letzten Lieferung gekommen und noch gar nicht richtig ausgepackt. Er ließ ausrichten, sie möchten sie für ihn zurücklegen und sie auf gar keinen Fall verkaufen, er würde im Laufe des Nachmittags vorbeikommen. Beim Hinausgehen hätte er Maria gern ein erklärendes Wort gesagt, aber außer einem wiederholten Mille grazie! fiel ihm nichts ein.
Er holte Geld und Kreditkarten aus dem Zimmer und ging dann zu Fuß zum Bahnhof. Eile hatte keinen Sinn, er wollte nicht schon wieder vor einem wegen der Siesta geschlossenen Geschäft stehen. Auf dem Bahnsteig, wo er fast eine Stunde warten mußte, überfiel einen in unregelmäßigen Abständen, die unerklärlich blieben, ein schrilles Klingeln, das durch Mark und Bein ging. Glücklicherweise war der Zug fast leer. Perlmann zog den schmuddeligen Vorhang vors Abteilfenster und versuchte zu schlafen. Eine Woche war vorbei. Ein Fünftel. War das viel oder wenig? Er wünschte, Silvestri würde sich bald entscheiden, ob er in der vierten oder fünften Woche vortrug. War es erst die fünfte, so blieben ihm selbst nur noch fünfzehn Tage, um einen Beitrag zu schreiben. Sonst waren es achtzehn Tage; neunzehn, wenn er das Kopieren auf Samstag verschob. Samstags arbeitete Maria manchmal nicht. War Kopieren trotzdem möglich? Würden sie ihn gegebenenfalls selbst an den Apparat lassen?
Genua war verstopft von Autos, überall parkten mitten auf der Straße Lieferwagen, die entladen wurden, man stand vor einer grünen Ampel und kam keinen Schritt voran, Hupkonzert, es war zum Verzweifeln. Das sei montags immer so, meinte der Taxifahrer gelassen und musterte seinen unruhigen Gast im Rückspiegel. Siesta? Ja, schon, aber natürlich nicht für den Warenverkehr. Jedenfalls nicht montags. Als sie nach einer Ewigkeit vor dem Musikladen hielten, war das Geschäft noch dunkel, obwohl die Mittagspause laut Angabe der Geschäftszeiten seit zehn Minuten vorbei war. Perlmann schickte das Taxi weg. Warum hielten sich die Leute nicht an das, was geschrieben stand? Warum nicht?
Und dann, als habe sein verzweifelter Ärger ihn endlich aufgeweckt, kam es ihm in den Sinn: Er mußte doch mindestens zwei, drei Tage einrechnen, an denen Maria seinen Text schreiben konnte. Seine bisherigen Rechnungen waren allesamt falsch. Er zog die Jacke aus und wischte sich mit dem Taschentuch über den verschwitzten Hals. In Wirklichkeit war es so: Entschied sich Silvestri für die fünfte Woche, so blieben, wenn er Maria auch den Freitag einräumen wollte, nicht mehr als zehn Tage. Und wenn sie bereit war, das Ganze am Montag und Dienstag herunterzuschreiben, so waren es dreizehn, wobei das für die Kollegen mit der Zumutung verbunden war, die Sache an einem einzigen Tag zu lesen. Trug Silvestri dagegen in der vierten Woche vor, so waren es sechzehn Tage, wieder vorausgesetzt, Maria schaffte es an zwei Tagen und machte die Kopien noch Freitag abend, bevor sie ins Wochenende ging. Zittrig zog Perlmann die Jacke wieder an und schüttelte sich angeekelt, als er spürte, wie das Hemd am Rücken klebte.
Im Geschäft mußte er noch einmal warten, weil der Mann, mit dem Maria gesprochen hatte, zu spät kam. Unter den verwunderten Blicken des Verkäufers riß er die Schutzhülle auf und fingerte hektisch an der Doppelpackung herum, ohne sie aufzubekommen.«Ecco!»lächelte der Verkäufer, nachdem er sie mit einem einzigen, leichten Griff aufgeklappt hatte. Die zweite der beiden Platten war die richtige. Perlmann suchte die Nummer 930 heraus, ließ die Platte einlegen und setzte die Kopfhörer auf.
Es war das Stück, das Millar gespielt hatte.
Die Panik von vorhin war verschwunden. Aber er war enttäuscht, daß das Gefühl des Triumphs nicht stärker war. Daß es eigentlich überhaupt nicht da war. Plötzlich kam ihm die ganze Aktion völlig sinnlos vor, kindisch und sinnlos. Er zahlte und trat auf die Straße, ermattet und beschämt. Mit schleppendem Schritt machte er sich auf den Weg zum Bahnhof.
Es war zunächst kaum zu erkennen, daß hinter dem Baugerüst eine Buchhandlung lag, die offenbar gerade eröffnet hatte. Perlmann drehte um und betrat den Laden, der viele Spiegelwände hatte und fabelhaft ausgeleuchtet war. Die Hände in den Taschen schlenderte er an den Tischen mit den Bestsellern entlang, vorbei an den Regalen mit der Belletristik, und weiter in die Sprachabteilung.
Das große Buch mit dem roten Rücken und der schwarzen Beschriftung sprang ihm sofort ins Auge. Es war ein Wörterbuch für Russisch-Englisch und umgekehrt. Das Papier war dünn und gräulich, und wenn man es anfaßte, hatte man nachher einen seifigen Film an den Fingern; aber die Angaben zu den Wörtern waren sehr differenziert und nicht selten eine Viertelspalte lang. Osvaivat’. Perlmann setzte sich in einen eleganten, aber unbequemen Sessel und schlug nach. To assimilate, master; to become familiar with. Er hatte richtig geraten: Was im Prozeß des erzählerischen Erinnerns geschah, war Leskov zufolge, daß man die eigene Vergangenheit bewältigte und sie sich dadurch näher brachte; und genau das waren die Elemente im Begriff der Aneignung. Sich zu eigen machen wäre eine andere Formulierung, dachte er. Wie würde man zwischen den angegebenen Wörtern entscheiden, wenn man den Text ins Englische übersetzte?
Er wünschte, er hätte sein Vokabelheft bei sich, dann könnte er die vielen Lücken, die es darin gab, jetzt auf dem Umweg übers Englische füllen. Er suchte das Regal ab: Ein russisch-deutsches Lexikon hatten sie nicht. Dagegen stand der deutsch-englische Langenscheidt da, den er auch im Hotel hatte. Sich aneignen: to appropriate, to acquire, to adopt. Appropriating, so schien es, war die Handlung, Sachen in seinen Besitz zu bringen, während man acquiring bei der Aneignung von Kenntnissen brauchte und adopting heißen konnte, eine Meinung zu übernehmen und vielleicht auch, eine Haltung einzunehmen. Er griff erneut zum roten Lexikon und schlug to appropriate nach: prisvaivat’. Dann to acquire und to adopt: usvaivat’. Wörter also, die sich jeweils nur durch das Präfix von osvaivat’ unterschieden. Wie genau konnte man sich Leskovs Wortwahl zurechtlegen? Perlmann rückte zur Seite, um eine Frau mit riesigen Ohrringen ans Regal zu lassen, die zielsicher nach dem kleinen russisch-italienischen Wörterbuch griff. Er war versucht, sie anzusprechen und in seine innere Diskussion einzubeziehen, aber da hatte sie sich schon mit einem flüchtigen Lächeln abgewandt und ging zur Kasse. Die eigene Vergangenheit, dachte er, eignete man sich nicht an wie eine Sache. Aber eigentlich auch nicht wie ein Stück Wissen, eine Meinung oder eine Haltung. Hieß aneignen hier nicht auch anerkennen? Für recognizing gab das Wörterbuch soznavat’ an, das auch realizing heißen konnte, für acknowledging priznavat’. Hatte er nicht eines dieser Wörter beim Überfliegen in Leskovs Text gesehen?
Verstohlen blickte er sich um und stellte das Lexikon langsam zurück ins Regal. Er hatte wieder diese Hitze im Gesicht, die man von außen sehen konnte. Agnes jedenfalls hatte sie gesehen, wenn er mit Bergen von Wörterbüchern am Boden saß, und sie hatte dieses heiße Gesicht nicht gemocht. Du siehst dann irgendwie… fanatisch aus, hatte sie einmal gesagt, und es hatte nichts genützt, daß sie nachher erklärte, das sei das völlig falsche Wort gewesen.
Er war schon zwei Straßen weiter, als er umdrehte. Eine Weile blieb er unter dem Gerüst stehen, wippte auf den Absätzen und sah in den Rinnstein, wo der Rest einer Eistüte in einem ekligen, braunen Brei lag. Dann drehte er sich mit einem Ruck um, ging hinein und holte das große, rote Lexikon aus dem Regal. Dabei machte er, wie der Spiegel zeigte,