▶ JETZT! Kostenlos lesen Bestseller-Bücher online
  • HOME
  • BUCH
    • Populäres Buch
    • Bücherliste
    • Genre-Liste
  • BLOG
Suche Erweitert
Sign in Sign up
  • HOME
  • BUCH
    • Populäres Buch
    • Bücherliste
    • Genre-Liste
  • BLOG
  • Adult
  • Action
  • Bestseller
  • Romance
  • Fantasy
  • Thrillers
  • Science-fiction

Perlmanns Schweigen - Teil 25

  1. Home
  2. Perlmanns Schweigen
  3. Teil 25
Prev
Next

suchte lange nach Worten dafür und entschied sich schließlich für die Formel, daß hier Melodie vollständig in Struktur aufgelöst wurde. Er suchte damit zwei Besonderheiten im Erleben einzufangen, die durch Millars Spiel hervorgerufen wurden. Die eine betraf die Art, in der man das Ausgebreitetsein der Tonfolgen in der Zeit wahrnahm. Die Töne, obgleich sie im gewöhnlichen Sinne verklungen waren, blieben in einem anderen Sinne gewissermaßen stehen, die nachfolgenden Töne fügten sich aufbauend an, und so wuchs von Takt zu Takt eine Architektur, die man in erlebter Gleichzeitigkeit vor sich hatte. Die im Moment erklingenden, führenden Töne waren, dachte Perlmann, wie die sich bewegende Spitze einer schreibenden Kreide, deren vergangenen Bewegungsverlauf man als ganzen auf der Tafel vor sich sah. Aber ist das bei einer Melodie nicht immer so, ist das nicht geradezu das Wesen musikalischer Gestalt, woran liegt es nur, daß es bei ihm wie etwas Neues und Eigenes, etwas Besonderes wirkt, wie macht er das bloß.

Die andere Wirkung von Millars Spiel war, daß man sich der gehörten Melodie nicht überlassen konnte. Man konnte sich keinen Moment lang in sie hineinfallen lassen, man wurde draußen gehalten wie durch eine unsichtbare Wand, und das machte das Zuhören anstrengend, ohne daß man es richtig merkte. Perlmann probierte eine Reihe von Eigenschaftswörtern aus: herb, spröde, sachlich, kalt, intellektuell, gotisch. Er verwarf sie alle, sie waren oberflächlich und klischeehaft. Man mußte zur Kenntnis nehmen, daß die Besonderheit von Millars Spiel nicht einfach Ausdruck eines Temperaments, eines Charakters war, sondern daß sie eine regelrechte Interpretation, eine Auslegung von Bachs Musik darstellte.

Perlmann versteckte die rechte Hand unter der linken und versuchte, Millars rechte Hand nachzuspielen. Dazu bewegte er unauffällig die Füße. Es war lange her, daß er das gemacht hatte. Damals, als Abiturient, hatte er so gut wie jedes Konzert gehört, an dem ein Pianist beteiligt war, und manchmal war er per Anhalter auch noch nach Lübeck und Kiel gefahren. Am liebsten waren ihm reine Klavierabende, da konnte man sich ohne Ablenkung ganz auf den Pianisten konzentrieren. Hinten, auf den billigen Plätzen, konnte man ungeniert die Augen schließen und im Dunkeln die vorne spielenden Hände zu imitieren versuchen. Die meisten Werke, die er auf diese Weise zu hören bekam, kannte er bereits, sein musikalisches Gedächtnis war – von Bach abgesehen – ausgezeichnet. Daran hatte es nicht gelegen. Ob Millar weiß, was das ist: eine Angststelle?

Inzwischen hatten sich auch die Gäste von außerhalb, die vorhin beim Abendessen gesessen hatten, im Salon eingefunden. Die ockerfarbenen Sessel waren alle besetzt, die Tür zur Bar stand offen, und die festliche Kleidung trug zu dem Eindruck bei, daß hier ein kleines Konzert stattfand. Millar spielte nun schon eine halbe Stunde, und auf einmal fand Perlmann seinen Bach flach und langweilig. Er wäre am liebsten schnell in die Trattoria gegangen und hätte in der Chronik nachgelesen, was damals, als er die grauhaarige, gebeugte Clara Haskil in einem ihrer letzten Konzerte gehört hatte, draußen in der Welt geschehen war.

Millar, der über die Größe verblüfft schien, die das Publikum hinter seinem Rücken angenommen hatte, bedankte sich für das Klatschen mit einer sportlichen Verbeugung, die Perlmann ein bißchen ans Salutieren erinnerte. Am lautesten und längsten klatschte Adrian von Levetzov, der zunächst Anstalten machte aufzustehen, dann aber, nach einem Blick in die Runde, auf der Kante seines Sessels sitzenblieb.

«i Un extra!» rief Evelyn Mistral.«Was heißt das auf englisch?»

«An encore», lächelte Millar, und als er das Nicken der anderen sah, setzte er sich wieder an den Flügel. Einen Moment nahm er die Brille ab und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel.«Was jetzt kommt», sagte er dann mit selbstgefälliger Nachdenklichkeit,«ist ein kostbares kleines Stück, das kaum jemand spielt. Zum Beispiel gibt es keine Platte, auf der es vorkäme. Eine kleine Trouvaille von mir. »

Nach wenigen Takten schon stellte sich bei Perlmann eine Empfindung der Vertrautheit ein. Immer deutlicher hatte er den Eindruck, dieses Stück zu kennen, oder besser, es einmal, vor langer Zeit, gut gekannt zu haben. Er schloß die Augen und konzentrierte sich in die Vergangenheit hinein, lange Zeit vergeblich, bis es dann plötzlich da war wie etwas Selbstverständliches. Hannas Stück, natürlich, es ist Hannas Stück, das wir getauft haben, eines ihrer Lieblingsstücke.

Er sah sie sofort vor sich, Johanna Liebig mit der dunklen Strähne im feinen, goldblonden Haar, das ein ungewöhnlich flaches Gesicht mit einer sehr geraden Nase und einem bronzenen Teint umrahmte. Man konnte es ein schönes Gesicht nennen, obwohl man sich hüten mußte, es ihr gegenüber zu tun. Er hatte dieses Gesicht stets ein bißchen unnahbar gefunden und hatte sich vor dem direkten Blick aus den hellbraunen Augen gefürchtet, den sie effektvoll einzusetzen verstand. Diese Unnahbarkeit war der Grund, warum es mit ihnen beiden nie etwas geworden war. Er hatte sich einfach nicht getraut, und plötzlich hatte er dann gemerkt, daß es zu spät war. Er hatte damals nicht gewußt, daß es für so etwas einen Zeitpunkt gab, den man verpassen konnte, und er wußte bis heute nicht, ob sie darauf gewartet hatte. Nach einiger Zeit dann, in der sie sich aus dem Weg gegangen waren, wurden sie gute Kumpel. Sie hörten sich beim Spielen wechselseitig zu und kritisierten sich, und gelegentlich gingen sie zusammen ins Konzert. Sie war begabter als er, doch bei ihr hatte ihm das nichts ausgemacht. Es gab keine Konkurrenz zwischen ihnen, er mochte es im Gegenteil nicht ungern, wenn sie ihm überlegen war und ihn auf spöttische Weise auch ein bißchen bemutterte. Wütend wurde er nur, wenn sie, die alles leichter, spielerischer zu nehmen vermochte, ihm seine Verbissenheit vorwarf. Das machte ihn hilflos, und dann redete er kein Wort mehr, nicht anders als später bei Agnes, wenn sie sturmzulaufen versuchte gegen seine schwerblütige und oft humorlose Art.

«Was mir daran so gefällt», hatte Hanna gesagt, als sie ihm das Stück zum erstenmal vorspielte,«ist seine Einfachheit; fast möchte ich sagen: rührende Einfachheit.»Er hatte sofort verstanden, war aber mit dem Wort nicht zufrieden gewesen. «Einfach ist zu blaß», hatte er nach einer Weile gemeint.«Besser wäre: einfältig; wenn es nicht diesen abwertenden Beigeschmack hätte. »Sie hatten dann lange über das Wort geredet und es gewissermaßen für sich entdeckt. Am Ende war der Beigeschmack weg, und sie fanden es nur noch ein sehr schönes Wort. Als er einen Blick auf die Noten warf und sah, daß es die Nummer 930 des Werkverzeichnisses war, hatte er gelacht.«Wenn man die Zahl so liest, wie die Amerikaner ein Datum schreiben, also mit dem Monat vor dem Tag, so kommt Dein Geburtstag heraus! »Und so war der Name geboren worden: das einfältige GeburtstagsStück.

«Das war natürlich alles Bach», lächelte von Levetzov,«aber ich kann es im Moment nicht einordnen. Bei Mozart kenne ich mich besser aus. »

«Wohingegen ich mich nirgendwo auskenne», sagte Ruge in seiner unnachahmlichen Trockenheit und erntete schallendes Gelächter, in das auch einige der anderen Gäste einstimmten.

«Es waren die zweite und dritte der Englischen Suiten», sagte Millar in seiner erklärenden Admiralsstimme.

«Englisch? Warum englisch?», fragte Laura Sand mit dem mürrischen, gereizten Ausdruck, den sie immer bekam, wenn sie etwas nicht verstand.

Der Titel, erklärte Millar und schlug die Beine übereinander, stamme nicht von Bach selbst. Es gebe eine Abschrift der Partitur von Johann Christian Bach, der in London arbeitete, und darauf stünde, ohne jeden weiteren Kommentar, faites pour les Anglais. Und so habe man sich angewöhnt, von den Englischen Suiten zu reden.

Während Millar sprach und jedes Detail der Geschichte weitschweifig erläuterte, hatte Perlmann plötzlich das Gefühl, eine Entdeckung zu machen: Der Wille, etwas in dieser Weise ganz genau zu wissen: Das ist es, was mir immer gefehlt hat. Ich will die Dinge nur im Umriß wissen und mag es, wenn die Linien ein bißchen verschwimmen. Das ist der Grund, warum mir die Wissenschaft eigentlich von Anfang an fremd war.

Sie würde gern die Zugabe von vorhin noch einmal hören, sagte Laura Sand. «I like it. It’s so… ingenuous.»

Während Millar spielte, schloß sie die Augen. Ihr Gesicht war schön, das hatte Perlmann bisher nicht bemerkt. Bisher hatte ihr zorniger Blick über den spöttischen Lippen alles dominiert. Er hatte sie als intelligent und interessant gesehen, als erfüllt von einer durchdringenden Wachheit, aber nicht als schön. Jetzt gaben die langen Wimpern und die fast geraden Augenbrauen dem weißen Gesicht, dem die afrikanische Sonne offenbar überhaupt nichts hatte anhaben können, eine marmorne Ruhe. Sie wirkte erschöpft.

Perlmann hielt Hannas Gesicht daneben. Er wußte nicht, ob es ihm gefiel oder ihn störte, daß diese Frau hier das Stück mit einem Wort beschrieben hatte, das vielleicht näher als jedes andere englische Wort an einfältig herankam. Wurde dadurch die vergangene Intimität mit Hanna, wie sie in dem kleinen Spiel der Namensgebung zum Ausdruck gekommen war, verletzt?

Laura Sand mußte ihm, als sie einen Moment die Augen öffnete, angesehen haben, daß er sich mit ihr beschäftigte, denn kurze Zeit danach klappte sie ein Auge auf, und diese spöttische Einäugigkeit war wie das Herausstrecken der Zunge.

Die Zugabe sei ein kleines Präludium in g-Moll gewesen, die Nummer 902 aus dem Werkverzeichnis, gab Millar Auskunft, als von Levetzov ihn fragte.

Wie bei der Entdeckung gestern in der Sitzung setzte sich Perlmann unwillkürlich ganz gerade hin. Sein Herz klopfte wie wild. Hatte er sich geirrt, weil er die Dinge bei Bach einfach nicht auseinanderhalten konnte? War es gar nicht das Geburtstagsstück? Während Millar im Ton des Kenners über die wenig bekannte Klaviermusik Bachs sprach, ließ Perlmann das Stück im Inneren noch einmal erklingen. Es war das Stück, er war sich ganz sicher. Hatte er also ein falsches

Prev
Next

SIE KÖNNEN AUCH MÖGEN

Lea
Lea – Pascal Mercier
April 22, 2020
Nachtzug nach Lissabon
Nachtzug nach Lissabon
April 22, 2020
Der Klavierstimmer
Der Klavierstimmer
April 22, 2020
Das Gewicht der Worte
Das Gewicht der Worte
April 18, 2020
  • HOME
  • Copyright
  • Privacy Policy
  • DMCA Notice
  • ABOUT US
  • Contact Us

© 2019 Das Urheberrecht liegt beim Autor der Bücher. All rights reserved