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Perlmanns Schweigen - Teil 135

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es Perlmann, über die eine oder andere Stelle, die er zum wiederholten Male las, zu lächeln, und stets war es ein gefährdetes Lächeln, das sich nicht zu weit vorwagen durfte, wenn es nicht in erneuten Tränen untergehen wollte. Als die frühe Dämmerung einsetzte, ging er an den Flügel und spielte das Nocturne in Des-Dur. Blind vor Tränen griff er immer wieder daneben.

62

Mitte Dezember fuhr er zu Hanna Liebig nach Hamburg. Ihr goldenes Haar hatte einen silbernen Schimmer bekommen, und unter der dunklen Strähne, die sie betont in die Stirn kämmte, war eine lange Narbe, die, wie sie verlegen sagte, von einem Autounfall stammte. Energisch war sie immer noch. Doch es war, fand er, etwas Verbrauchtes und Enttäuschtes in ihrem Gesicht. Die Wohnung gefiel ihm, aber es gab eine verschnörkelte Wanduhr und ein paar Keramikdinge, die ihn verstörten, weil sie ihm schrullig vorkamen – wie Symptome dafür, daß Hannas früher so ausgeprägter Sinn für elegantes Design dabei war, ihr zu entgleiten.

Beim Essen erzählte er ihr von der Forschungsgruppe, von Millar und ihrer Rivalität. Auch daß er die As-Dur-Polonaise gespielt hatte, erwähnte er. Zwar verstand sie danach irgendwie, warum er sie damals angerufen hatte. Aber ohne den Tunnel, die Angst und die Verzweiflung klang das Ganze hohl und kindisch. Als sie ihm auf dem Weg zur Küche spielerisch übers Haar fuhr, wie sie es früher getan hatte, war er drauf und dran, noch einmal anzufangen und ihr die ganze Geschichte zu erzählen. Aber etwas in ihrem Gesicht, etwas Neues, das er nicht zu beschreiben gewußt hätte, kam ihm fremd vor, und dann war das Gefühl vorüber. Sie sprachen noch eine Weile über Liszt, aber es wurde zu einer Fachsimpelei, die ihn bald langweilte, denn sie hatte keinen Zusammenhang mit Millar und den ockerfarbenen Sesseln im Salon. Nachher auf der Straße dachte er, daß sie sich neulich am Telefon näher gewesen waren als während der ganzen Begegnung heute abend.

Sie hatten sich für den nächsten Tag zum Mittagessen verabredet. Perlmann ging nicht hin. Er schob ihr, während er sie einen Lauf spielen und etwas erklären hörte, einen Zettel unter der Wohnungstür durch und fuhr dann mit dem Bus zum Konservatorium. Aus dem Raum, in dem er damals immer geübt hatte, klang Mozart. Nach einer Weile öffnete er die Tür einen Spaltbreit. Am Flügel saß ein Mann mit krausem Haar und einem orientalischen Gesicht, der mit unerhörter Leichtigkeit spielte. Der Raum hatte jetzt eine ganz andere Tapete, und das Bild von Klee hing nicht mehr da. Behutsam schloß er die Tür. Er hatte vorgehabt, die Straße aufzusuchen, wo er aufgewachsen war. Doch als er auf einmal die schwarzen Eisenzäune vor sich sah und spürte, wie sein Arm in bogenförmigen Bewegungen über die Lücken hüpfte, ließ er den Plan fallen und nahm den nächsten Zug nach Frankfurt.

Im Briefkasten lag eine Benachrichtigung der Post über ein Paket. Daß es von Leskov kam, sah er sofort, als der Beamte es am nächsten Morgen aus dem Regal nahm. Er wünschte, es wäre nicht gekommen, was immer es enthalten mochte. Leskovs Brief, den hatte er gebraucht, und er hatte ihn aushalten müssen. Daß er ihn in seiner Ausführlichkeit als zudringlich empfunden hatte, das durfte er sich nur zugeben, wenn er weghörte. Der Brief war das Äußerste gewesen, was er ertrug, das letzte, was er von diesem Vasilij Leskov noch hören wollte. Gut, er würde ihm irgendwie antworten müssen. Aber das konnte in einem konventionellen Ton geschehen, es gab Stimmungen, in denen er solche Dinge ohne innere Beteiligung rasch herunterschrieb. Und dann wollte er nie wieder etwas hören. Nie wieder.

Obenauf lag das angekündigte Exemplar von Leskovs Text. Darunter vier in hellbraunes Kunstleder gebundene Bände in russischer Sprache: Maksim Gorkij, Žizn’ Klima Samgina. Auf dem ersten Blatt des ersten Bandes stand in zittriger Handschrift: Moemu synu Vasiliju. Die Widmung war mit schwarzer Tinte geschrieben, und die Feder hatte gespritzt, es gab einen Hof von schwarzen Pünktchen um die Wörter herum. Das Leder war abgegriffen, fleckig und an zwei Stellen aufgeritzt. Es waren die Bände, die Leskov im Gefängnis gelesen hatte; vierzehnmal.

Perlmann wußte, daß er Rührung empfinden sollte, und empfand nur Wut, eine Wut, die mit jedem Blick, den er auf die Bücher warf, größer wurde. Durch diese braunen Bände mit der goldenen Aufschrift hatte sich Leskov Zugang zu seiner Wohnung verschafft und war nun auf eine Art anwesend, die fast noch durchdringender und lähmender war als eine körperliche Gegenwart. Jetzt roch er auch den Hauch von süßlichem Tabak, der zwischen den Seiten hängengeblieben war. Er spürte, daß er gleich die Nerven verlieren und die Bücher zum Fenster hinaus in den Matsch werfen könnte, und so zog er wieder den Mantel an und ging langsam um den Häuserblock.

Später legte er die Bände in der Besenkammer aufs Regal und deckte sie mit einem Lappen zu. Als er den getippten Text danach widerwillig durchblätterte, entdeckte er, daß Leskov ihm zu Beginn des Anmerkungsteils überschwenglich für die Diskussion einer früheren Fassung dankte und seine konstruktive Kritik in vier Fußnoten erwähnte. Die Last, die durch den Brief von ihm genommen worden war, schien erneut auf ihn herunterzusinken, wenngleich er nicht verstand, wie das sein konnte, wo Leskov die Stelle doch nun hatte.

Er verteidigte sich gegen die Bücher in der Besenkammer, indem er die Rezension abschloß und mit der Vorbereitung seiner Lehrveranstaltungen begann. Als Adrian von Levetzov anrief und sich nach der Veröffentlichung erkundigte, setzte Perlmann hinterher ein Rundschreiben an die Kollegen auf, in dem er behauptete, einige Teilnehmer der Gruppe hätten mit ihrem Beitrag inzwischen etwas anderes vor, so daß er den Plan einer besonderen Veröffentlichung fallengelassen habe. Noch am selben Tag rief er bei der Schulbehörde an und fragte nach der Möglichkeit, als Lehrer eingestellt zu werden. Nicht ohne zweites Staatsexamen, sagte ihm die schnarrende Stimme, und nicht bei der derzeitigen Stellensituation. In jener Nacht träumte er von Signora Medici, die in einem Schottenrock und Bergschuhen vorne stand und aus hellbraunen Büchern Sätze einer unbekannten Sprache vorlas, während er in der Schulbank aufgeregt nach dem Spickzettel suchte.

Das Training in Langsamkeit fing an zu wirken. Meistens war es nicht mehr nötig, eigens ins Wohnzimmer zur Uhr zu gehen; er hielt einfach inne und hörte das vorgestellte Ticken. Er fing an, auch beim Telefonieren an das Ticken zu denken, und allmählich begriff er, daß Langsamkeit im Reagieren der körperliche Ausdruck von Unbeflissenheit sein konnte. Er war so glücklich über diese Entdeckung, daß er es übertrieb und nun wieder einmal gegen die Neigung zum Fanatismus ankämpfen mußte.

Hin und wieder, wenn er spät in der Nacht noch im Wohnzimmer saß und die Uhr ticken hörte, versuchte er darüber nachzudenken, warum er die Hände vom Steuer genommen hatte. Wegen Leskov? Wegen sich selbst? Aber es war immer dasselbe: Die Gedanken versiegten, noch ehe sie richtig begonnen hatten. Er war in Gedanken bereit gewesen zu sterben. Aus Verzweiflung zwar, und nicht aus stoischer Gelassenheit. Trotzdem hatte die Erfahrung des nahen Todes etwas in ihm verändert. Freilich war es ein Irrtum zu glauben, diese Veränderung, deren Konturen noch im dunkeln lagen, würde sich ganz von selbst zu größerer Sicherheit und einem Stück innerer Freiheit entwickeln. So einfach war es nicht. Doch was genau war es, was er dazu tun mußte?

Eines Abends, als er im Fernsehen auf eine alberne Komödie stieß, lachte er zum erstenmal wieder. Dabei fiel ihm der Mann mit dem langen, weißen Schal aus der Flughafenbar ein, und er mußte schlukken. Aber schon beim übernächsten Scherz lachte er wieder.

Am nächsten Tag besorgte er sich die deutsche Übersetzung von Gorkijs Roman und las, bis er zu der Stelle mit dem Eisloch kam. Rot glänzend nannte Gorkij die Hände, die an den Rand des Eises faßten, das abbrach. Perlmann ging in Agnes’ Zimmer, um das zweite Wort nachzuschlagen. Erst als er die Lücke im Regal sah, kam die Erinnerung an die weggeworfenen Bücher. Er war verblüfft über sein Tun, als habe er jetzt erst davon erfahren.

Er fand den Roman schwerfällig, und die zahllosen weltanschaulichen Dialoge gingen ihm auf die Nerven. Am liebsten hätte er ihn einfach weggelegt. Aber noch an diesem Tag arbeitete er sich durch weitere hundert Seiten, und er rechnete aus, daß er täglich mindestens hundertzwanzig Seiten bewältigen mußte, wenn er in diesem Jahr noch fertig werden wollte. Oft erlag er der Versuchung, die Aufmerksamkeit zu lockern und den Blick nur über die Seiten wischen zu lassen, ohne richtig zu lesen. Aber er ließ es sich nie durchgehen, sondern blätterte zurück und las mit widerstrebender, aber erbitterter Genauigkeit alles noch einmal, wissend, daß er das meiste sofort wieder vergessen würde. In den ersten Tagen sagte er sich, daß es darum ging, auf diese Weise ein Stück der Gedankenwelt kennenzulernen, in der Leskov im Gefängnis Zuflucht gefunden hatte. Das war er ihm schuldig, dachte er, und stolperte jedesmal über das vage Gefühl, nicht zu wissen, was er da dachte. Erst nach Tagen begriff er, daß es gar nicht das war, was ihn dazu trieb, sich jeden Abend erneut mit der Lektüre zu quälen. Es war vielmehr der diffuse Wunsch, seine Schuld Leskov gegenüber abzutragen und den geplanten Mord zu sühnen. Nach dieser Entdeckung kam er sich lächerlich vor, wenn er das Buch erneut aufschlug. Aber er machte weiter.

Kurz vor Weihnachten rief er noch einmal Maria an. Er wünschte ihr schöne Feiertage und hoffte, sie würde von sich aus etwas über das Löschen seiner Texte sagen. Aber es wurde nicht mehr als ein freundlicher Austausch von guten Wünschen

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