▶ JETZT! Kostenlos lesen Bestseller-Bücher online
  • HOME
  • BUCH
    • Populäres Buch
    • Bücherliste
    • Genre-Liste
  • BLOG
Suche Erweitert
Sign in Sign up
  • HOME
  • BUCH
    • Populäres Buch
    • Bücherliste
    • Genre-Liste
  • BLOG
  • Adult
  • Action
  • Bestseller
  • Romance
  • Fantasy
  • Thrillers
  • Science-fiction

Perlmanns Schweigen - Teil 132

  1. Home
  2. Perlmanns Schweigen
  3. Teil 132
Prev
Next

ihm dabei über die Schulter und war so nahe, daß sein Atem zu spüren war. Auf einmal schob sich sein Arm vor Perlmanns Gesicht und stellte ihm einen Teller hin, auf dem sich eiskaltes Essen türmte. Perlmann drehte sich zu ihm um, und als er den Kellner erkannte, warf er ihm das Essen mit soviel Schwung ins Gesicht, daß die Hälfte auf Evelyn Mistrals Haar und ihre blütenweiße Bluse spritzte.

Am Sonntag begann er damit, einen Teil von Agnes’ Fotografien abzuhängen und wegzuräumen. Es sollten nur noch einige wenige übrigbleiben, nicht unbedingt die besten, sondern diejenigen, zu denen es eine persönliche Geschichte gab. Zum Beispiel das Bild mit der kleinen Kirsten im Strandkorb auf Sylt. Es war Schwerarbeit, und mehr als einmal bekam er Herzstiche. Schließlich hatte er den Eindruck, zu weit gegangen zu sein, und hängte eine Reihe von Bildern wieder auf, wobei der Putz beim zweiten Einschlagen des Nagels zu bröckeln begann.

Gegen Abend rief Evelyn Mistral an. Es wurde ein Gespräch mit vielen Pausen. Dabei wünschte Perlmann, sie säße ihm gegenüber. Ob er etwas von Leskov und seinem Text gehört habe? Nein, sagte er, nichts.

«Du erinnerst dich doch noch an den Anruf, der mir nach dem Empfang im Rathaus plötzlich einfiel», sagte sie gegen Ende des Gesprächs.«Es war doch gut, daß ich angerufen habe. Es ging wieder einmal alles schief, was schiefgehen konnte. Und die Küstenstraße war ja ohnehin gesperrt!»lachte sie.

In der folgenden Woche setzte er sich an die Buchbesprechung. Er sah den Autor vor sich, einen glitzernden Berliner mit einer französischen Frau und einem Haus an der Cöte d’Azur. Er mußte viele Pausen machen, und manchmal, wenn der Widerwille heftig wurde, fühlte es sich in der Brust an wie Beton. Dann griff er zur Zigarette.

Im Schlüsselkapitel des Buches wurden Dinge als Neuentdeckungen ausgegeben, die Perlmann von einem wenig bekannten französischen Autor seit langem kannte. Er wußte genau, wo er hätte nachsehen können, das Buch stand oben rechts im Regal. Er wartete auf ein Gefühl des Triumphs oder wenigstens der ruhigen Genugtuung. Als es ausblieb, war er zunächst enttäuscht, dann aber froh. Er ließ das französische Buch im Regal, und in der Besprechung, die sachlich, fair und insgesamt positiv ausfiel, erwähnte er die Sache mit keinem Wort.

Mitte der Woche setzte er sich zum erstenmal wieder ans Steuer. Es überraschte ihn, wie dicht am Beifahrersitz die Handbremse seines Wagens war. Er fuhr über Land zu einem Teppichhändler, den er von früher kannte, und kaufte einen hellen tibetanischen Läufer, um endlich den Kaffeefleck zuzudecken. Auf der Rückfahrt, in der beginnenden Dämmerung, kamen ihm mehrere Lastwagen entgegen, und einer fuhr mit aufgeblendeten Scheinwerfern. Perlmann bremste jedesmal bis auf Schrittempo ab und fuhr auf die Grasnarbe. Er beschloß, in der näheren Zukunft nicht mehr Auto zu fahren, und überlegte, ob er den Wagen Kirsten schenken sollte.

Als er in der Garage den Zündschlüssel abzog, fiel ihm jener Moment bei der Tankstelle neben dem Hotel ein, wo er zu begreifen geglaubt hatte, daß das Problem der inneren Abgrenzung gegen die anderen Menschen und das Problem der Gegenwartslosigkeit in der Tiefe ein und dasselbe Problem waren. Er erinnerte sich genau, daß ihm das als die wichtigste Einsicht seines gesamten Lebens erschienen war. Auf dem Weg zur Haustür formulierte er diese Einsicht immer wieder. Aber jetzt war sie nur noch ein Satz. Ein Satz zwar, der richtig klang und dem er zustimmte, aber nur noch ein Satz und keine erlebte Einsicht mehr. An der Haustür drehte er um, schloß die Garage auf und setzte sich noch einmal hinters Steuer, die Hand am Zündschlüssel. Nachher kam es ihm lächerlich vor anzunehmen, eine erlebte Einsicht könne in eine bestimmte Körperhaltung gegossen sein.

Am Freitag war immer noch kein Brief von Leskov da. Eigentlich kein Wunder, denn das vergangene Wochenende hatte er sicher gebraucht, um sich zu erholen, und ein Brief konnte eben, wie der erfahrene Postbeamte geschätzt hatte, eine volle Woche unterwegs sein. Vom Briefkasten kommend räumte Perlmann endlich die neuen Taschentücher weg und steckte eines in die Tasche. Dann schrieb er den Absagebrief an Olivetti und einen zweiten Brief an Angelini. Als Grund gab er unvorhergesehene familiäre Probleme an, die ihn einstweilen in Frankfurt festhielten. Die beiden Briefe gelangen ihm schnell und mühelos. Er versuchte, den Schwung auszunutzen, und begann mit dem Brief für Princeton. Aber er kam nicht über die Anrede hinaus und machte daraufhin einen langen Spaziergang durch die vertraute Stadt, die ihm in dem trüben Dezemberlicht fremd vorkam.

Die Fotos von Laura Sand, die am Samstag ankamen, enttäuschten ihn, er wußte nicht warum. Es waren verträumte Landschaftsaufnahmen, einige davon mußte sie an dem nebligen Morgen gemacht haben, als er mit der Übersetzung von Leskovs Text fertig geworden war. In einem getrennten Umschlag lagen einige Aufnahmen von Kollegen, die sie, nach der Unbefangenheit von Haltung und Ausdruck zu schließen, unbemerkt gemacht haben mußte. Auf dem Zettel, der dabei lag, stand: Es gibt Ausnahmen von der Regel! Die Bilder, die ihn mit Leskov zeigten, warf er sofort weg, und auch die anderen Aufnahmen mit Kollegen landeten schließlich im Papierkorb. Nur einen Schnappschuß von Evelyn Mistral behielt er. Ihr Lachen; das verrutschte T-Shirt; die roten Schuhe. Die Landschaftsaufnahmen tat er in eine Schublade, ging dann eine Weile durch die Räume und betrachtete Agnes’ Fotografien. Eigentlich hätte er doch besser ihre besten ausgewählt, und nicht die persönlichsten. Er tauschte aus.

Nach dem Sonntagabendkonzert im Fernsehen setzte er sich an den Flügel. Er spielte die Nocturnes, die er damals im Salon gewählt hatte. Zwischen ihm und den Tönen war ein Vakuum, ein hauchdünner Hiat, der auch beim zweitenmal nicht verschwand. Er verstand nicht, was los war, und spielte die As-Dur-Polonaise. Daß er sich bei der Angststelle verhedderte, spielte keine Rolle. Schlimmer war, daß alles, auch die befreienden Akkorde, klang, als sei es eingetaucht in feinen Sand.

An Schlaf war nicht zu denken. Mitten in der Nacht setzte er sich im Schlafanzug an den Flügel und spielte andere Nocturnes. Sie klangen wie früher, und jetzt begriff er: Das, was er im Salon gespielt hatte, war von ihm weggerückt, weil er es mißbraucht hatte, mißbraucht als Waffe im Kampf gegen Millar. Das war noch ein anderer Mißbrauch als derjenige, den Szabo gemeint hatte. Musik durfte man nicht in dieser Weise als Instrument benutzen, sonst verlor man sie.

Gegen Morgen nahm er eine Schlaftablette. Als sie zu wirken begann, schoß ihm, ohne daß er vorher an den Tunnel gedacht hätte, ein Gedanke durch den Kopf: Leskov hatte ihn nie gefragt, warum er nicht einfach in der Wartebucht stehengeblieben war und den Bulldozer vorbeigelassen hatte. Warum nicht? Es wäre eine ganz einfache Frage gewesen, eigentlich die natürlichste. Und er hätte keine Antwort gewußt.

61

In dem Bündel, das der Postbote am Dienstag in der Hand hielt, war Leskovs Brief. Perlmann sah es an dem bräunlichen Papier des Umschlags, das er von seinem früheren Brief her kannte. Noch im Flur riß er den Umschlag auf und suchte mit klopfendem Herzen und fiebrigem Kopf nach Sätzen, die ihn sofort beruhigen könnten…. es war kein Text da, als ich die Wohnung betrat… da glitt ich, ohne es zunächst recht zu merken, in einen Zustand der Apathie hinein… einen Zustand dumpfen Aushaltens, wortlosen Ertragens… Wunsch, allem ein Ende zu machen… Und dann kamen die Worte, bei denen er zum erstenmal wieder atmete:… wenn der Text dann nicht doch noch aufgetaucht wäre… Er schloß die Augen und hielt sich einen Moment an der Kommode fest, bevor er, immer noch mit brennendem Blick, weiterlas:… liegt der Umschlag einfach am Hauseingang… den beiden gelben Aufklebern… Der Zustand des Texts war ein Schock… Siebzehn Seiten! Fünf endlose Absätze mußte er noch überfliegen, bis es endlich kam:… Ich habe, entgegen meiner Gewohnheit, die Privatadresse hingeschrieben, das ist alles… Er drückte die Hand auf den Magen und atmete aus, um dann bis zur nächsten Erlösung weiterzuhetzen:… Tippfehler. Aber kurz nach acht am Freitag morgen war das Ding fertig… Und im übernächsten Absatz schließlich kam der Satz, in den sich sein Blick förmlich hineinfraß:… die Entscheidung stand gegen Mittag fest: Sie konnten ein fach nicht anders, als mir die Stelle zu geben.

Perlmann lehnte sich gegen den Türrahmen, die Blätter glitten ihm aus der Hand, er begann lautlos zu schluchzen und schluchzte immer weiter und weiter, minutenlang. Er hielt erst inne, als er die Nase putzen mußte. Mit zittrigen Händen sammelte er die Blätter auf, setzte sich aufs Sofa und begann von vorn:

St. Petersburg, im Dezember

Lieber Philipp,

ich habe ein sehr schlechtes Gewissen, daβ ich Dir erst jetzt schreibe. Dabei hatte ich doch versprochen, wegen des Texts sofort Bescheid zu sagen. Aber wenn ich Dir erzähle, wie alles gekommen ist, wirst Du, hoffe ich, verstehen.

Heimgekommen bin ich mit großer Verspätung, weil am Moskauer Flughafen wieder einmal ein Chaos herrschte und die Maschine hierher erst mit über einer Stunde Verspätung wegkam, es war schon mitten in der Nacht. Die Passagiere waren heilfroh, daβ es trotzdem noch einen Bus in die Stadt gab, auch wenn seine Heizung nicht funktionierte und es eine eisige Fahrt wurde. Hier war nämlich inzwischen der tiefste Winter hereingebrochen, und wenngleich ich das merkwürdig kalte, fast unirdische Licht irgendwie mag, das von einer Schneedecke noch in der finstersten Nacht ausgeht, so dachte ich doch sehnsüchtig an das glühende und gleichzeitig transparente Licht des Südens, aus dem ich gerade kam. Ich werde nie vergessen, wie mich dieses Licht überwältigte, als ich mit Dir zusammen aus dem Flughafen trat und dann neben dem Parkhäuschen stand (bei dem sturen Mann

Prev
Next

SIE KÖNNEN AUCH MÖGEN

Der Klavierstimmer
Der Klavierstimmer
April 22, 2020
Lea
Lea – Pascal Mercier
April 22, 2020
Das Gewicht der Worte
Das Gewicht der Worte
April 18, 2020
Nachtzug nach Lissabon
Nachtzug nach Lissabon
April 22, 2020
  • HOME
  • Copyright
  • Privacy Policy
  • DMCA Notice
  • ABOUT US
  • Contact Us

© 2019 Das Urheberrecht liegt beim Autor der Bücher. All rights reserved