Perlmanns Schweigen - Teil 123
und quetschte sich unter Protestrufen der Sicherheitsbeamten an den anstehenden Leuten vorbei hinaus in die Halle.
Auf dem Flug von Frankfurt nach Genua gab es morgen nachmittag keinen freien Platz mehr, und die Warteliste war bereits lang. Perlmann spürte noch den Druck der zerknüllten Bordkarte in der Handfläche. Wie war es mit Flügen von Frankfurt nach Turin? Lustlos fragte die Hostess den Computer ab und vertippte sich dabei mehrmals. Alle Flüge ausgebucht, aber beim einen war auf der Warteliste nur ein einziger Name. Perlmann ließ seinen auch draufsetzen.
Zehn nach zwölf. Mit dem Scheck, den er in Frankfurt hatte einlösen wollen, ging er zur Bank in der Ankunftshalle. Während er in der Schlange wartete, durchlebte er, ohne sich dagegen wehren zu können, noch einmal Leskovs Ankunft. Ich habe gern mein eigenes Geld. Danach rannte er, die ganzen Scheine noch in der Hand, hinaus zu einem Taxi und bat den Fahrer, so schnell wie möglich nach Santa Margherita zu fahren.
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Gegenüber der Anlegestelle für die Schiffe stand Leskov am Straßenrand und beobachtete angestrengt den Verkehr. Mit dem einen Bein war er auf der Straße, das andere berührte, seltsam abgeknickt, nur noch leicht den Gehsteig. Sein Oberkörper war erwartungsvoll nach vorne geneigt, und den Kopf mit der großen Brille, die er mit der einen Hand festhielt, versuchte er senkrecht zu halten. Als das Taxi, das mit einigem Abstand vor Perlmann herfuhr, auf ihn zukam, bückte er sich, um den Fahrgast besser sehen zu können. In dieser Haltung verharrte er, als er dann Perlmanns Taxi kommen sah. In seinem Rücken gab es einen Ruck, er kippte die Brille ein wenig, um sich seiner Wahrnehmung zu vergewissern, und trat dann mit schwingenden Armen, die sich über dem Kopf kreuzten, mitten auf die Fahrbahn, als müsse er nachts auf einer einsamen Strecke das einzige Auto anhalten.
Mit einem verwunderten Ausruf hielt der Fahrer an. Von dem Moment an, in dem er Leskov erblickte, hatte Perlmann nichts mehr zu denken vermocht. Nur den Griff des Handkoffers hatte er noch fester umklammert. Jetzt gab er dem Fahrer einen großen Schein und stieg aus.
«Ich habe gedacht, du kommst überhaupt nicht mehr», sagte Leskov und bemühte sich, den vorwurfsvollen Ton sofort wieder aus der Stimme zu nehmen.«Das Schiff ist schon da! »
Während der ersten halben Stunde der Fahrt fiel es nicht auf, daß Perlmann kaum etwas sagte. Leskov genoß es, vorne auf dem fast leeren Schiff zu stehen und auf das stille, blendend helle Wasser hinauszublicken. Nach einer Weile dann holte er eine Landkarte aus der Jacke. Signora Morelli habe sie ihm geliehen. Perlmann erkannte die Schmutzspuren sofort: Es war dieselbe Karte, die er bei der Planung seiner Tat benutzt hatte und die beim Aufsammeln der gelben Blätter als Unterlage für die mürbe Seite mit der Zwischenüberschrift gedient hatte. Nein, sagte er, als Leskov auf Portofino deutete, dort sei er noch nie gewesen. Und auch den Hafen von Genua kenne er nicht.
Als Leskov später von der Toilette zurückkam, setzte er sich neben Perlmann auf die Bank, und während er die Pfeife anzündete, betrachtete er den Handkoffer. Immer wenn er in den letzten Tagen einen Handkoffer gesehen habe, sagte er, habe er an seinen vermißten Text denken müssen. Und an das Stückchen Gummiband im Reißverschluß des Außenfachs.
«Du hältst es doch auch für das Wahrscheinlichste, daß ich ihn zu Hause habe liegen lassen, oder? Ich meine, nach allem, was ich dir erzählt habe?»
Perlmann nickte und griff nach den Zigaretten.«Auf jeden Fall glaube ich nicht, daß der Text einfach verloren ist», sagte er und war erleichtert über die Festigkeit in seiner Stimme.«Die Lufthansa ist berühmt für ihre Sorgfalt mit vergessenen Dingen. »
«Du meinst also wirklich, sie würden mir den Text zuschicken?»
Perlmann nickte.
«Aber die Adresse ist russisch geschrieben, und dazu ist es noch Handschrift», sagte Leskov. Hinter den dicken Brillengläsern waren seine Augen unnatürlich groß, und dadurch erschien auch die Angst, die in ihnen lag, vergrößert.
Perlmann sah rasch weg.«Die Lufthansa ist eine der größten internationalen Fluggesellschaften, und sie fliegt auch Rußland an. Da gibt es bestimmt Leute, die Russisch können. »
Leskov seufzte.«Vielleicht hast du recht. Wenn ich nur sicher wäre, daß ich die Adresse wirklich draufgeschrieben habe. Vorgestern nacht habe ich plötzlich Zweifel bekommen. »
Perlmann schloß die Augen. Sein Herz hämmerte. Er nahm Anlauf.«Welche Adresse schreibst du gewöhnlich unter einen solchen Text?»
«Wie? Ach so, die dienstliche.»Er sah Perlmann an.«Du meinst, weil ich dich gebeten habe, nur die private zu benützen? Nein, weißt du, in einem solchen Fall ist das was anderes. »
Perlmann entschuldigte sich und ging nach innen, wo er sich neben der Toilette an die Wand lehnte. Das Hämmern in der Brust nahm nur langsam ab. Nein, es war zu gefährlich, ihn nach der Adresse zu fragen. Einmal abgesehen davon, daß er keinen überzeugenden Grund vorzubringen wüßte: Er müßte ihn bitten, sie aufzuschreiben, und das Ganze würde dadurch zu einer Aktion, die als etwas Auffälliges in seinem Gedächtnis haftenbliebe. Langsam ging er zurück, wich unter der Tür einem Matrosen aus und betrat das Deck.
Sein Herzschlag setzte aus. Leskov hatte den Handkoffer auf den Knien und ließ gerade die beiden Schlösser zuschnappen. Jetzt stellte er den Koffer wieder auf den Boden. Perlmann tat ein paar Schritte zur Seite. Nein, er hatte den Umschlag nicht in der Hand, sondern stand jetzt auf und stopfte sich an der Reling eine Pfeife. Perlmann ging langsam auf ihn zu und berührte dabei die Lehne jeder einzelnen Bank, als wolle er sich versichern, daß sie ihm als Stütze zur Verfügung stünde.
«Ihr im Westen habt schon schöne Sachen», sagte Leskov und deutete mit dem Pfeifenstiel auf den Handkoffer.«Dieses Leder. Und diese raffinierten, eleganten Schlösser. Man kann wirklich neidisch werden. »
Perlmann hielt sich an der Reling fest, bis ihm die Knie wieder gehorchten.
Als sie in Genua an Land gingen, blieb Leskov plötzlich stehen.«Nehmen wir an, ich habe ihn im Flugzeug liegenlassen. Weißt du, was ich dann am meisten fürchte? Die Putzkolonne. Woher sollen diese Leute, wenn sie so etwas finden, wissen, daß es wertvoll ist?»
Es ging nicht mehr anders. Perlmann mußte es erfahren, und das war die Chance.
«Bei einem derart dicken Papierstoß wird jeder stutzig. Da tippt man nicht mehr auf unwichtige Papiere. Das ist ja doch ein halbes Buch. Oder?»
Leskov nickte.«Du könntest recht haben. Es sind immerhin siebenundachtzig Seiten. »
Dann sind es also siebzehn Seiten, die er neu schreiben muβ. Die Länge eines ganzen Vortrags. Aber er hat es ja noch im Kopf. So etwas hat man noch lange danach im Kopf.
Perlmann mied die Hafenkneipe, von der aus er vor acht Tagen Maria angerufen hatte. Aber es war schwierig, in der Nähe etwas anderes zu finden, und schließlich setzten sie sich an den einzigen Tisch vor einem Schnellimbiß, wo es nach Fisch und verbranntem Öl roch. Perlmann war froh über den Straßenlärm und die Kinder, die mit ihren Skateboards haarscharf an ihnen vorbeiglitten. Diese Dinge würden der Frage, die er nicht mehr länger zurückzuhalten vermochte, einen beiläufigen Klang geben.
«Bis wann mußt du den Text eigentlich eingereicht haben? Wegen der Stelle, meine ich. »
«Bis in zwei Wochen. »
Perlmann vermochte sich nicht mehr zu bremsen.«Dann hast du noch genau vierzehn Tage?»
Leskov sah ihn mit zerstreutem Erstaunen an.«Dreizehn», sagte er dann lächelnd,«der Samstag zählt nicht.»
«Was würde geschehen, wenn du mit dem Text erst am Montag danach kämst?»
Die Verwunderung in Leskovs Gesicht war jetzt wacher als vorhin.
«Es interessiert mich nur, wie pingelig man da bei euch ist», sagte Perlmann schnell.
«Sie würden ihn vermutlich auch dann noch anerkennen», sagte er nachdenklich.«Aber man weiß nie. Es sind Bürokraten. Es ist besser, man liefert ihnen keinen formalen Vorwand. Und der Termin ist ja auch kein Problem», fügte er ruhig hinzu, während der Kellner das Essen vor ihn hinstellte,«ich muß den Text ja eigentlich nur noch abtippen, und darin bin ich schnell. Für die Anmerkungen brauche ich höchstens einen halben Tag.»
Perlmann würgte seinen Schafskäse hinunter und spürte, wie sich der Magen verkrampfte. Vor Freitag hat er den Text nicht. Dann bleibt ihm eine Woche. Das könnte reichen. Was aber ist, wenn er ihn erst am Montag drauf erhält, oder sogar erst Dienstag?
«Wie lange war mein Brief damals eigentlich unterwegs?»fragte er.
Im ersten Moment verstand Leskov nicht.«Ach so», sagte er dann,«Du denkst an die eventuelle Sendung der Lufthansa. Ich weiß nicht mehr genau; ungefähr eine Woche, glaube ich.»Abwesend stocherte er im Salat.«Gut, daß du fragst. Das bedeutet nämlich, daß der Text noch unterwegs sein kann, wenn ich ihn morgen abend nicht vorfinde. Es können ja leicht ein, zwei Tage vergehen, bis die Sache mit der russischen Adresse geklärt ist. Ich darf dann also nicht gleich verzweifeln. Zumal am Montag selten Post kommt. Wenn dann allerdings bis Mittwoch oder gar Donnerstag immer noch nichts da ist… Ach, Unsinn», sagte er mit einem forcierten Lächeln und nahm eine Gabel voll,«der Text liegt dort auf dem Schreibtisch, mitten in der Unordnung, ich sehe die gelben Blätter direkt vor mir.»
Seit vorgestern war es mit den Hafenrundfahrten für dieses Jahr vorbei. Der Betrieb würde erst Anfang März wieder aufgenommen. Leskov las den englischen Text des Anschlags dreimal halblaut vor. Plötzlich fiel seine Begeisterung über die Umgebung und das südliche Licht in sich zusammen, und alle Zuversicht war verschwunden.
«Jetzt habe ich mir meine einzige Hoffnung auf eine sichere Stelle und ein bißchen Ruhe selbst zunichte gemacht», sagte er, als sie im Taxi an den oberen Rand der Stadt fuhren, um, wie Perlmann gesagt hatte, wenigstens diesen schönen Blick zu haben. Und dann, auf einer Terrasse mit traumhafter Aussicht, erzählte er von den Machtkämpfen und