Perlmanns Schweigen - Teil 118
aber war es mit den russischen Postboten? Konnten diese Leute das wirklich alle lesen? Er drehte den Umschlag um. Er konnte die Adresse auf der Rückseite in kyrillischer Schrift wiederholen. Ja, das war die Lösung. Er schraubte den Filzstift auf. Bei den kyrillischen Buchstaben war kein Verstellen nötig. Aber war es wirklich eine gute Idee? Sie könnten die russisch geschriebene Adresse für den Absender halten, einen anderen gab es ja nicht.
Perlmann schraubte den Filzstift zu und trat ans Fenster. Jetzt war Leskov allein auf der Terrasse, und die Chronik lag nicht mehr auf dem Tisch. Aber dann würde die Sendung doch trotzdem bei ihm landen. Er erschrak: Er hatte die Länge einer ganzen Zigarette gebraucht, um darauf zu kommen.
Unsicher setzte er sich und griff zum Filzstift. Wie wahrscheinlich war es, daß ein Angestellter der Lufthansa, der mit verlorenen Gegenständen zu tun hatte, eine Adresse in russisch schreiben konnte? Wieder war es, als müsse er sich beim Denken durch ein unsichtbares Medium von tückischer Zähigkeit hindurchkämpfen. Natürlich: Wenn einer die Adresse auf dem Text lesen und als solche identifizieren konnte, dann war er auch in der Lage, sie zu schreiben, oder zumindest, sie Strich für Strich zu kopieren. Perlmann begann zu schreiben.
Mitten in Leskovs Nachnamen hielt er inne. Es gab verschiedene Konventionen der Transkription. Besonders bei den Zischlauten, von denen es in der Adresse wimmelte, war das ärgerlich. Welches System hatte Leskov benutzt, als er ihm damals an der zugigen Straßenecke die Adresse noch einmal aufgeschrieben hatte? Wenn er dabei jetzt einen Fehler machte, kam eine andere russische Buchstabenfolge zustande als die, welche Leskov unter den Text geschrieben hatte. Die Post würde es wohl trotzdem schaffen. Aber für Leskov wäre das eine weitere Merkwürdigkeit: Warum hatte der Russisch lesende Angestellte in Frankfurt so viele Fehler gemacht, wo er die Adresse doch bloß abzuschreiben brauchte? Und wenn er dann lange genug nachdachte -.
Perlmann übermalte die Zeile so lange mit dem Filzstift, bis man nur noch einen Balken aus undurchsichtigem Schwarz sah. Dann steckte er den Umschlag in den Handkoffer, den er für morgen bereitstellte.
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Laura Sand hielt die Chronik in der Hand, als sie in der Halle auf ihn wartete. In ihrem Blick fehlte der gewohnte zornige Schatten.
«Es tut mir leid wegen der Bemerkung von vorhin», sagte sie.«Sie war völlig überflüssig. Und die Partei der Liebe ist eigentlich ein ganz witziger Gag.»
«Schon gut», sagte Perlmann und wünschte, es hätte nicht so gereizt geklungen. Man mußte jemanden für labil, geradezu für gefährdet halten, um sich bei ihm für einen derart harmlosen Scherz zu entschuldigen. Ohne ein weiteres Wort nahm er ihr die Chronik ab und bat Signora Morelli, die den Umschlag neugierig betrachtete, sie bis nachher aufzubewahren.
Täuschte er sich, oder benahmen sich auch die anderen schonend und zuvorkommend wie einem Rekonvaleszenten gegenüber – ähnlich wie vorgestern abend? Es war doch auffällig, wie schnell Evelyn Mistral die Hand zurückzog, als sie beide gleichzeitig nach dem Salz griffen. Und lag über ihrem Lächeln nicht ein Schleier von erneuter Befangenheit?
«Vielleicht gar keine schlechte Idee, einer Chronik diese Aufmachung zu geben», sagte von Levetzov, als ihre Blicke sich trafen.«Eigentlich sind das ja wirklich die Dinge, an die man sich erinnert. »
«Und das seriöse Zeug liest ohnehin niemand; viel zu trocken», grinste Ruge.
Perlmann sah die anderen vor sich, wie sie sich vorhin, als er nicht dabei war, vor Lachen gebogen hatten. Er blickte auf seinen Teller und würgte das Essen hinunter, obwohl ihm das Mittagessen aus der Trattoria immer noch schwer im Magen lag. Noch diese eine Stunde. Vielleicht ist es sogar weniger. Und morgen die Verabschiedungen. In Ivrea wird es ganz anders sein. Freier. Viel freier.
Als der Kellner den Nachtisch serviert hatte, klopfte Brian Millar ans Glas. Perlmann fuhr zusammen. Eine Rede. Eine Rede, auf die er würde reagieren müssen. Es traf ihn völlig unvorbereitet. So, als habe er so etwas noch nie erlebt. Er dachte an die erste Sitzung in der Veranda zurück, als er fieberhaft überlegt hatte, was er als sein Thema angeben könnte.
Es seien wundervolle Wochen gewesen, sagte Millar. Der intensive Gedankenaustausch. Die kollegiale, ja freundschaftliche Atmosphäre. Das tolle Hotel. Der zauberhafte Ort.
«Ich möchte Ihnen im Namen von uns allen danken, Phil. »Er hob das Glas.«Sie haben das großartig gemacht. Und jeder von uns weiß, wieviel Arbeit es für Sie war. Wir hoffen, daß auch Sie selbst etwas davon hatten – trotz Ihrer schwierigen Situation. »
Bloß jetzt nichts sagen, was nach einer Entschuldigung klingen könnte, dachte Perlmann, während er eine Zigarette anzündete, um während des langen Klatschens eine Beschäftigung für die Hände zu haben. Er schob den Stuhl zurück, schlug die Beine übereinander und wollte gerade mit einer Antwort beginnen, da erhob sich Leskov mit einem Ächzen.
Er habe ja leider nur kurz dabeisein können, sagte er feierlich, aber es seien für ihn unvergeßliche Tage gewesen. Er habe noch nie so viele Freunde auf einmal gewonnen, und noch nie in so kurzer Zeit so viel gelernt. Er sei ja nun ein Außenseiter, um nicht zu sagen Eigenbrötler, lächelte er. Um so mehr möchte er allen für die Freundlichkeit und Nachsicht danken, die sie ihm entgegengebracht hätten. Er sah Ruge an.«Auch wenn ich Dinge verfochten habe, die ziemlich verrückt klingen mußten. »Ruge grinste. Am meisten aber möchte er seinem Freund Philipp danken.«Er hat mich eingeladen, ohne viel von mir zu wissen. Auf ein einziges Gespräch hin, in dessen Verlauf er, wie ich hier erlebt habe, meine Gedankengänge besser verstanden hat als jeder andere bisher – beinahe besser als ich selbst. Dieses Vertrauen und dieses Verständnis waren eine phantastische Erfahrung. Ich werde sie nie vergessen.»Er drückte die Hände ineinander und machte die Gebärde des Dankens.
Auch er habe viel von dem Aufenthalt gehabt, begann Perlmann. Viel mehr, als habe sichtbar werden können. Sehr viel mehr. Für den einen oder anderen möge es manchmal ausgesehen haben, als liege er im Zwist mit dem Fach. Es sei jedoch genau das Gegenteil der Fall.
Perlmann merkte mit Entsetzen, daß er nicht mehr aufhalten konnte, was jetzt kam. Er sprach ganz ruhig und schlüpfte sogar in die Pose der Nachdenklichkeit. Zugleich aber umklammerte er mit der linken Hand, die zu zittern drohte, fest das Handgelenk der rechten, die auf dem Knie lag.
Seit längerem nämlich, sagte er, schreibe er an einem Buch über die Grundlagen der Linguistik. Millar und von Levetzov hoben fast gleichzeitig die Brauen, und Ruge faßte an das geflickte Gelenk der Brille. Die Arbeit daran habe ihn auf immer grundsätzlichere Fragen geführt, wie etwa diese: wie die leitenden Fragen der Disziplin überhaupt entstünden; wie man Fragen, die etwas aufzuschließen vermöchten, von verfehlten Fragen unterscheiden könne; was die Linguistik an der Sprache eigentlich verstehen wolle, und in welchem Sinn. Und so weiter.
Reglos umklammerte Leskovs Faust die erloschene Pfeife. Er lächelte verschwörerisch. Das Eis in der Glasschale vor ihm zerlief.
Und eine Frage, fuhr Perlmann fort, beschäftige ihn dabei ganz besonders: ob das Fach, wie es derzeit betrieben werde, der eminent wichtigen Rolle gerecht werden könne, welche die Sprache in der vielfältigen, facettenreichen Entwicklung des Erlebens spiele. In vielem, was er hier gesagt habe, sei es ihm um diese Frage gegangen, schloß er. Dabei habe er oft des Teufels Advokaten gespielt. Um von den anderen zu lernen.
«Das hat mich ein gutes Stück weitergebracht. Und dafür möchte ich allen danken.»
Es war noch zu früh, eine Zigarette anzuzünden. Die Hand könnte zittern. Schlecht hatte es nicht geklungen. Sogar irgendwie überzeugend. Aber hinter der Stirn eines jeden am Tisch mußte sich jetzt dieselbe Frage formen: Warum hat er dann nichts aus diesem Buch vorgetragen und uns statt dessen das andere, merkwürdige Zeug zugemutet? Mit einer hastigen Bewegung, die das befürchtete Zittern überdecken sollte, griff er nach den Zigaretten und hielt dann, damit sich die Hände gegenseitig ruhig halten konnten, das Feuerzeug so, als fege gerade ein Sturm durch den Speisesaal. Der Rauch schmeckte ungewohnt, als sei es nicht seine Marke. Er versuchte krampfhaft, an das helle Büro in Ivrea zu denken, und zwang sogar ein genaues Bild des Schreibtisches herbei. Trotzdem wurde ihm übel.
Wann man mit dem Erscheinen dieses interessanten Buches rechnen könne, fragte von Levetzov und schien Millar damit das Wort aus dem Mund zu nehmen. Er wolle sich damit Zeit lassen, antwortete Perlmann und ließ die Asche neben dem Knie hinunter auf den Teppich fallen, um die Hand nicht zum Aschenbecher führen zu müssen. Ob nicht die Veröffentlichung der hier diskutierten Arbeiten der ideale Ort wäre, um seine ersten Ideen vorzustellen, fragte von Levetzov. Als er Perlmanns Zögern sah, huschte ein Schatten des Argwohns über sein Gesicht.
«Diese Veröffentlichung ist doch fest geplant, nicht wahr?»
«Sicher», hörte sich Perlmann sagen.«Aber Sie wissen ja, wie so etwas ist: bei den Verlagen sondieren, Verhandlungen führen – das Übliche. Auch muß ich mit Angelini wegen der Finanzierung reden. Sie hören dann alle von mir. »
«Ich könnte mir vorstellen, daß mein Verleger in New York Interesse hätte», sagte Millar.«Übrigens auch an einem Buch wie dem Ihren. Soll ich mal mit ihm reden?»
Perlmann nickte wortlos. Er hatte keine Ahnung, was er sonst hätte tun können. Die Zigarette verbrannte ihm die Finger. Er ließ sie fallen und trat sie auf dem hellen Teppich aus. Leskov zeichnete mit dem Stiel des Löffels Linien aufs Tischtuch. Er denkt an eine Übersetzung seines Texts. Morgen fragt er mich wieder.
Signora Morelli erschien und bot ihnen an, im Salon Kaffee und Cognac servieren zu lassen. «La ultima serata! In der Halle machte Perlmann kehrt und ging in den Speisesaal zurück. Er hob den Zigarettenstummel