Perlmanns Schweigen - Teil 114
– das war doch der Mann mit dem wichtigen und ehrlichen Beruf, der ihm die nötige innere Distanz gab, so daß er mit der Zeitung über dem Kopf im Liegestuhl sitzen und während der Sitzungen auf dem Stuhl balancieren konnte; der Mann, der ihm geraten hatte, das Ganze nicht so wichtig zu nehmen; und schließlich auch der Mann, der mit seinen Aufzeichnungen etwas hatte anfangen können. Und nun saß er da vorn, drehte schon zum zweitenmal die leere Kaffeekanne um und warf immer öfter unsichere Blicke in die Runde. Seine Bartstoppeln waren mit einemmal nicht mehr Ausdruck von Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit, sie wirkten nur noch ungepflegt, die Haut kam Perlmann noch bleicher vor als sonst, und jetzt entdeckte er zum erstenmal einen kleinen Furunkel an seinem Kinn. Dein Konsum an Helden, hörte er Agnes sagen, und er wußte nicht, über wen er sich mehr ärgern sollte: über sie oder über diesen Italiener, der ihr wieder einmal recht zu geben schien.
Jetzt schob Silvestri die Blätter beiseite, zündete eine neue Zigarette an und begann, die Grundgedanken seiner Untersuchung zu erläutern. Er war kein Redner, und es wurde kein flüssiger, suggestiver Vortrag. Trotzdem merkte Perlmann mit wachsender Erleichterung, daß dieser Mann etwas zu sagen hatte. Auch Leskov, der bisher unglücklich ausgesehen und mehrmals leise geseufzt hatte, entspannte sich, und Laura Sand begann, Notizen zu machen. Es steckten viele Jahre Arbeit mit Schizophrenen hinter dem, was Silvestri entwickelte, und eine schier unerschöpfliche Geduld im Zuhören. Sein weißes Gesicht mit den dunklen Augen war jetzt sehr konzentriert, und als er mit Bewunderung von Gaetano Benedetti sprach, den er für den bedeutendsten Schizophrenieforscher hielt, spürte man, mit was für einer Leidenschaft er bei der Arbeit war.
Das Geräusch von reißendem Papier zerschnitt die Stille, die eingetreten war, als Silvestri nach einem Zitat von Benedetti suchte. Millar hatte einen Zettel aus seinem Notizbuch gerissen, schrieb jetzt etwas und schob ihn dann mit einer flapsigen Handbewegung zu Ruge hinüber, der heute einen Platz weiter hinten saß als gewohnt. Im letzten Augenblick mußte er gespürt haben, daß er sich danebenbenahm, denn sein Arm zuckte, als wolle er den Zettel aufhalten. Aber es war zu spät, der Zettel rutschte zur Tischkante und segelte zu Boden, wo er vor Silvestris Augen liegenblieb. Perlmann mußte den Hals ein bißchen verrenken, dann konnte er es lesen: De Benedetti?!
Silvestri, der das Blatt mit dem Zitat endlich gefunden hatte, sah auf, folgte den Blicken der anderen und las den Zettel. Augenblicklich erstarrte er, sein Gesicht verfärbte sich, und er schloß die Augen. Niemand rührte sich. Millar sah vor sich auf die Tischplatte. Eigentlich, dachte Perlmann, war es nur ein Schnack, ein pennälerhafter Unfug. Aber in diesem besonderen Moment mußte Silvestri es wie einen Schlag ins Gesicht empfinden: Vor kurzem hatte Carlo De Benedetti, der Präsident von Olivetti, wegen seiner früheren Verwicklung in eine Bankpleite vor Gericht gestanden. Wenn man das wußte, so ließ der rötliche Zettel auf dem glänzenden Parkett die Welt des Geldes, der Macht und der Korruption vor einem entstehen. Es war nur ein Scherz und auch nicht im entferntesten eine heimtückische Anspielung. Soviel war sicher auch Silvestri klar. Aber es war in diesem Augenblick bereits zuviel für ihn, daß jemand, während von Gaetano Benedettis aufopferungsvoller Arbeit, von seinem großartigen Lebenswerk die Rede war, in Gedanken in jene andere, häßliche Welt wanderte, auch wenn die Assoziation auf denkbar einfache, harmlose Weise zustande gekommen war. Offenbar erlebte er das geradezu als einen persönlichen Angriff – so, als würde damit indirekt auch sein eigenes Engagement mißachtet oder gar lächerlich gemacht.
Silvestri hatte nicht gesehen, woher der Zettel kam. Er mußte, überlegte Perlmann, Millars Handschrift erkannt haben, denn als er nun die Augen hob, galt sein erster Blick ihm. Er fixierte ihn für einige Sekunden, und die steilen Stirnfalten über der Nase gaben dem hageren, hohlwangigen Gesicht einen bösen, unversöhnlichen Ausdruck. Während er den Blick, der jetzt etwas Verschlagenes angenommen hatte, erneut auf den Zettel richtete, nahm er den Kugelschreiber in die Hand und ließ die Mine langsam ein- und ausklikken. Er wiederholte das einige Male, der Rhythmus war gedehnt wie auf der Tonspur einer Zeitlupe, und die einzelnen Klickgeräusche schienen durch die beklommene Stille zu peitschen wie Schüsse. Perlmann hielt unwillkürlich den Atem an. Jetzt lehnte sich Silvestri zurück, verschränkte die Hände auf dem Kopf und sah, während er Atem holte, Millar voll ins Gesicht. Obwohl er nicht ihm galt, zuckte Perlmann unter der Härte des dunklen Blicks zusammen. Silvestris Stimme würde schneidend sein.
In diesem Moment ging die Tür auf, und Signora Morelli betrat mit einem Zettel in der Hand die Veranda. Die Stille im Raum mußte ihr sonderbar vorgekommen sein, denn sie stutzte und ließ die Hand auf der Klinke, bevor sie sich mit einem «Scusatemi» einen Ruck gab und auf Perlmann zuging.
«Ich dachte, Sie möchten das vielleicht sofort wissen», sagte sie, als sie sich zu ihm hinunterbeugte und ihm den Zettel gab.
Sie hatte es leise gesagt, und doch war der italienische Satz im ganzen Raum zu hören gewesen. Anruf Reisebüro: Flug Frankfurt-Genua morgen 17.00 bestätigt, stand auf dem Zettel.
«Grazie», sagte Perlmann heiser, faltete den Zettel und ließ ihn in die Jackentasche gleiten. Er wagte nicht, Leskov neben sich anzusehen, und wußte deshalb nicht, ob es vielleicht nur Einbildung war, daß er den Kopf erst jetzt wegdrehte.
Erst als die Tür ins Schloß fiel, bemerkte Perlmann, daß Silvestri aufgestanden und offenbar auf und ab gegangen war. Jetzt drückte der Italiener die Zigarette aus, zögerte einen Moment und schwang sich dann, auf der Tischplatte sitzend, in die Mitte des Hufeisens. Mit einer eckigen Bewegung hob er den rötlichen Zettel auf, stellte sich vor Millar hin und ließ das Papier wortlos und ohne ihn anzublicken behutsam auf den Tisch gleiten. Dann schwang er sich erneut über den Tisch, rückte den Stuhl peinlich genau zurecht und fuhr im Vortrag fort. Nach wenigen Sätzen ging sein Atem wieder normal. Laura Sand atmete hörbar aus.
Als die Diskussion begann, putzte Millar zunächst minutenlang die Brille. Später dann, während Silvestri mit Leskovs Fragen kämpfte, die heute viel unklarer waren als sonst, starrte er mit konzentriertem, aber leerem Blick hinaus zum Schwimmbecken, wo die schweren Regentropfen das Wasser hoch aufspritzen ließen. Hin und wieder warf ihm Silvestri aus den Augenwinkeln einen schnellen Blick zu. Im übrigen aber schien seine Aufregung abgeklungen zu sein, und er erwies sich auch hier als ein guter Zuhörer, der den Gesprächspartner durch ein knappes Nicken und die Andeutung eines Lächelns dazu ermunterte, den begonnenen Gedanken weiterzuspinnen.
Worum ihn Perlmann besonders beneidete, war die viele Zeit, die er sich nahm, bevor er auf eine Frage antwortete. Er würde sich, so hatte man den Eindruck, durch keine Frage der Welt unter Druck setzen lassen. Fragen waren nicht etwas, wodurch er sich genötigt fühlte. Sie waren in erster Linie ein Anlaß nachzudenken, gleichgültig, wie lange das dauerte. Kein Wunder, daß Kirsten ihn sofort mochte. Wieder einmal verbarg Perlmann das Gesicht hinter den verschränkten Händen und versuchte innerlich zu ertasten, wie das Lebensgefühl eines Menschen sein mußte, der so wenig Angst vor den anderen und ihren Fragen hatte. Es wurde ihm beinahe schwindlig, als er sich mit äußerster Anstrengung auf den fiktiven Punkt des Erlebens konzentrierte, der zu erreichen wäre, wenn es ihm gelingen sollte, das Gefüge seiner Angst Stück für Stück abzubauen und in eine andere Art des Empfindens umzuwandeln.
Es war Ruges glucksendes Lachen, das ihn aus seiner Betrachtung riß. Es galt offenbar der Art, wie sich Silvestri gegen Zweifel an seiner Methode verteidigte. Er hatte sich so lange und so hingebungsvoll mit seinen Patienten beschäftigt, daß er die unumstößliche Gewißheit besaß, das Muster ihrer Sprach- und Denkstörungen in der Tiefe verstanden zu haben. Was ihn, wissenschaftlich gesehen, angreifbar machte, war die Weigerung, sich bei der Arbeit von irgend jemandem über die Schulter gucken und kontrollieren zu lassen. Einen theoretischen Zusammenhang gab es da nicht, dachte Perlmann, aber irgendwie konnte diese Weigerung niemanden überraschen, der das gefährliche Glitzern kannte, das in Silvestris Augen trat, wenn von verriegelten Anstaltstüren die Rede war. Dieser Mann war ein Einzelgänger und Unabhängigkeitsfanatiker, der in einer Klinik wie ein Anarchist wirken mußte, ein Anarchist freilich, in dessen Büro das Licht auch dann noch brannte, wenn die Kollegen vom Teamwork längst zu Hause waren. Deine heldensüchtige Phantasie. Agnes war stolz auf diese Wortschöpfung gewesen.
«Vielen dieser Menschen habe ich jahrelang zugehört», sagte Silvestri mit unerschütterlicher Ruhe.«Ich weiß, wie sie sprechen und denken. Ich weiß es genau. Wirklich ganz genau. »
Rüge gab seufzend auf, und es trat eine unbehagliche Pause ein, so daß Silvestri seine Sachen zusammenzupacken begann. Da setzte sich Millar demonstrativ auf dem Stuhl zurecht, stützte sich mit beiden Ellbogen auf den Tisch und wartete, bis Silvestri seinem Blick begegnete.
«Look, Giorgio…», begann er, und die Verwendung des Vornamens klang wie Hohn. Und dann belehrte er Silvestri über die Sicherung und Auswertung von Daten, über Fehlerquellen und die Gefahr von Artefakten, über Verfahren der Mehrfachüberprüfung und schließlich über die Idee der Objektivität. Immer mehr verfiel er in den Ton von jemandem, der in einem Kurs für Erstsemester das Abc des wissenschaftlichen Arbeitens erläutert und bei seinen Zuhörern höchstens mit einer durchschnittlichen Intelligenz rechnet.
Silvestri blickte über die Tischkante hinaus aufs Parkett, dorthin, wo vorhin der Zettel gelegen hatte. In seinem Gesicht arbeitete es. Der anfängliche Ausdruck des Ärgers und der Indignation wurde von verschiedenen Schattierungen der Belustigung und sogar des Übermuts, aber auch der Ironie und Verachtung abgelöst, die bruchlos und ohne feste Ordnung ineinander übergingen. Dann,