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Perlmanns Schweigen - Teil 104

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oder sechs nach Hause ging, stellte sie den Rechner einfach ab.

Später. Irgendwann später würde er sich Zugang zum Büro verschaffen und die gefährliche Datei eigenhändig löschen. Unmöglich war das nicht. Er entspannte sich.

Das Mädchen in den Turnschuhen schwang den Handkoffer über dem Kopf, als sei er federleicht. Wenn dagegen er selbst ihn hochzuheben versuchte, war er wie ein Stück Blei, das von einem Magneten am Boden festgehalten wurde. Ein Meer aus Löschblättern um ihn herum färbte sich dunkel und war am Ende eine riesige Platte aus Rost. Ob er etwa glaube, dies hier sei eine Eisenwarenhandlung, fragte die weiße Lehrerin und zog den Hut der Heilsarmee ins Gesicht. Nein! schrie er mit versagender Stimme und zerrte an dem in der Wagentür eingeklemmten Handkoffer. Während er auf dem Bahnsteig mit dem beschleunigenden Zug Schritt zu halten versuchte, sah er den schwarzen Tunnel immer näher kommen.

45

Es war stockdunkel, als Perlmann über dem hartnäckigen Surren des Telefons schließlich wach wurde. Er möchte sich dafür entschuldigen, daß er nicht zum Abendessen komme, sagte Leskov. Maria habe sich bereit erklärt, mit ihm noch eine Weile am Computer zu arbeiten, damit seine schriftliche Vorlage für die Sitzung von morgen fertig werde.

«Ich weiß nicht, was ich sonst machen würde», sagte er.«Ich bin eben erst fertig geworden, obwohl ich fast die ganze Nacht gearbeitet habe. Und das alles nur, weil ich Idiot den verdammten Text vergessen habe!»

Perlmann holte den Text aus dem Schrank. Die frischen Löschblätter hatten nur noch kleine Flecke. Der größte Teil der Blätter war inzwischen trocken. Das größte Problem machte das Blatt aus der Straßenmitte, dasjenige mit der vierten Zwischenüberschrift. Und schwierig war es auch mit einem Blatt aus dem Graben, das so naß gewesen war, daß es unter einem ständig tropfenden Baum gelegen haben mußte. Diese beiden packte er noch einmal zwischen frische Löschblätter. Den Handkoffer schloß er wieder in den Schrank und steckte den Schlüssel in die Tasche des Blazers, als er zum Essen ging. Seit Wochen war er das erste Mal pünktlich.

Wie war die Freundlichkeit, sogar Wärme, zu verstehen, die sie ihm alle entgegenbrachten, als er an den Tisch trat? Es war nichts Falsches darin und auch nichts Aufdringliches, dachte er, während er die Suppe löffelte. Und doch war sie schwer zu ertragen. Denn sie hatte etwas von der Freundlichkeit und bemühten Menschlichkeit, die man einem Patienten entgegenbrachte – jemandem, dem man eine Atempause, eine Schonzeit einräumte. Für eine Weile klammerte man viele, sonst selbstverständliche Erwartungen und Anforderungen ein. Und das hieß: Man nahm ihn vorübergehend nicht ganz ernst. Perlmann war froh, als Silvestri ihn über den Tisch hinweg ganz geschäftsmäßig fragte, ob es ginge, daß er am Freitag nun doch noch eine Kleinigkeit vortrüge.

Die Wahrnehmung, die ihn zu beschäftigen begann, als er dem Tischgespräch zuhörte, brauchte Zeit, um einen klaren Gehalt zu bekommen. Während er in seinem Wahn und seiner Angst eingeschlossen gewesen war, hatten die anderen ihr Leben weitergelebt. Und das hatten sie auch zusammen getan, als eine Gruppe, in der sich vielfältige Beziehungen herausgebildet hatten. Da gab es laufend Andeutungen, Anspielungen und geteilte Erinnerungen. Es gab Ironie, ein Wissen um die verzeihlichen Schwächen der anderen, ein Spielen mit Kritik und Selbstbehauptung, eine Freude am intellektuellen und persönlichen Geplänkel. Und es gab gemeinsame Erfahrungen mit diesem Ort hier, mit Lokalen, Kirchen, der Post – Erfahrungen, welche die anderen gemacht hatten, während er mit der Chronik in einem Innenhof gesessen und versucht hatte, durch die Vergangenheit hindurch die Gegenwart zu finden. Er spürte einen Stich, und es kamen ihm Klassenfahrten in den Sinn, wo er oft das Schlußlicht gebildet hatte.

Achim Ruge – auch das bemerkte Perlmann mit einem Staunen, als sei er erst heute hier eingetroffen – war in der Zwischenzeit offenbar so etwas wie der heimliche Star der Gruppe geworden. Sein glucksendes Lachen steckte die anderen regelmäßig an, und bei jedem neuen Thema schien es Perlmann, als warte die Runde auf eine seiner trockenen Bemerkungen. In der Diskussion über Laura Sands Film damals war von Ruge etwas Persönliches sichtbar geworden. Sonst wußte er über diesen Achim Ruge eigentlich nichts.

Ich habe den anderen nie eine Chance gegeben, mich näher kennenzulernen. Nie hatte er sich von einer anderen als der rein beruflichen Seite gezeigt. Seine Angst hatte die anderen von vornherein auf eindimensionale, schematische Figuren reduziert. Sie waren in erster Linie Gegner. Das galt letztlich auch für Evelyn Mistral. Ununterbrochen hatte er versucht, die anderen auszurechnen. Er hatte innerlich harsche Urteile über sie gefällt. Dabei wußte er, von Äußerlichkeiten abgesehen, so gut wie nichts über sie. Die panische Angst vor dem Entlarvtwerden hatte seine Wahrnehmung in einer erschreckenden Oberflächlichkeit erstarren lassen. Noch zwei Tage, dann reisten sie ab. Er hatte nichts über sie erfahren, nichts von ihnen gelernt, und die einzige Beziehung, die er zu ihnen entwickelt hatte, bestand darin, daß er sich gegen sie abzukapseln und zu schützen suchte.

Leskov habe aber wirklich Pech mit seinem vergessenen Text, sagte von Levetzov. Da habe er diese lange Reise gemacht, sei das erste Mal im Westen, und nun sitze er seit gestern mittag pausenlos in seinem Zimmer und bereite sich vor. Dabei müsse er am Sonntag schon wiederzurück.

«Manchmal», fügte er hinzu,«scheint er Angst zu haben, daß der Text unterwegs verlorengegangen ist. Das hat er mir heute mittag angedeutet. Er sah ganz verstört aus. Es scheint für ihn auch beruflich einiges davon abzuhängen. »

Perlmann ließ den Nachtisch stehen und ging hinaus zu Marias Büro. Als Leskov ihn durch die Glastür sah, kam er mit übernächtigtem und vor Aufregung gerötetem Gesicht auf ihn zu.

«Wir sind bald fertig. Unglaublich, was so ein Computer kann! Daß man einen Text einfach mit einem Tastendruck auf den Bildschirm holen kann! Mit einem einzigen Druck! Man muß nur die Markierung an die richtige Stelle schieben! »

Perlmann ging auf die Terrasse und rauchte eine Zigarette. Er sah Marias Hände mit den roten Fingernägeln und den zwei silbernen Ringen vor sich. Sie würde mit der Markierung aufpassen. Sie war nicht schusselig. Sie würde aufpassen. Bevor er sich zur Tür wandte, sah er unwillkürlich zu seinem Zimmer hinauf. Die einzige Fensterreihe ohne Balkon.

Ob sein Vater noch lebe, fragte ihn Laura Sand beim Kaffee.

«Er irrte sich nämlich gewaltig: In Mestre gibt es wunderbare Ecken. Wenn man Augen hat. Ich empfinde diese bescheidene, hart arbeitende Stadt immer als eine Erholung nach dem spektakulären und irgendwie unwirklichen Venedig. Ins Hotel gehe ich immer in Mestre, nie in Venedig. David hält das für eine Marotte. Aber mir gefällt es so. Vom Preis ganz abgesehen. »

«Ich dagegen finde Mestre das letzte», sagte Millar und sah Perlmann mit einem Grinsen an, in dem versöhnlicher Spott lag.«Ich mußte dort einmal übernachten, weil irgend etwas mit dem Damm nach Venedig nicht in Ordnung war. Der Abend schien sich endlos hinzuziehen. »

Perlmann war ihm dankbar für die Bemerkung. Millar verachtete ihn wegen gestern nicht. Er hat mich hochgetragen. Ihre Blicke trafen sich. Auch er schien an den Moment im Rathaus zu denken.

«Ich kannte mal ein Mädchen in Mestre», sagte Silvestri, ohne eine Miene zu verziehen.«Eine tolle Stadt. »

«Well», sagte Millar und runzelte ironisch die Stirn.

«Ecco!» sagte Silvestri und blies Rauch in seine Richtung.

«Meinen nächsten Urlaub mache ich in Mestre», gluckste Ruge beim Aufbruch,«und fahre kein einziges Mal nach Venedig rüber! »

Die beiden am meisten strapazierten Seiten hatten noch einmal Feuchtigkeit an die frischen Löschblätter abgegeben. Aber trocken waren sie noch lange nicht, und Perlmann legte sie zusammen mit einigen anderen auf die Heizung. Dann machte er den runden Tisch frei, holte die Zahnbürste und begann, den Dreck von den trockenen Blättern zu entfernen.

Es blieben viele bräunliche, manchmal auch gesprenkelte Flecke, die nicht wegzukriegen waren, und dort, wo dicke Wassertropfen hingefallen waren, hatte sich das Papier durch das Trocknen verzogen. Aber der Text war, wenn auch verblaßt, wieder lesbar, und Leskov selbst würde auch bei den formlosen Tintenkleksen bald Bescheid wissen. Perlmann bekam Übung mit der Zahnbürste, er hatte jetzt den richtigen Winkel für die Borsten im Gefühl und wußte, wie man feuchte Reste von Erde entfernte, ohne zu schmieren. Den Staub blies er laufend weg, und zwischendurch holte er aus dem Bad ein Handtuch, um die Zahnbürste zu säubern. Er schaukelte bei der Arbeit leicht mit dem Oberkörper und machte mit dem Fuß eine rhythmische Gymnastik.

Gerade hatte er mit Seite 49 begonnen, und es war halb zwölf, als es klopfte.

«Ich bin’s», sagte Leskov.«Kann ich einen Moment reinkommen? Ich muß mit dir reden. »

Ich muß mit dir reden. Perlmann erstarrte und hatte auf einmal das Gefühl, seit Stunden in eisiger Kälte zu sitzen. Sie hat sich mit der Markierung vertan. Er hat den Text gesehen. Er weiß alles.

«Philipp?»Leskov klopfte von neuem.

«Einen Moment, bitte», rief Perlmann und konnte ein hysterisches Quietschen in der Stimme nicht verhindern,«ich muß mich erst anziehen! »

In fiebriger Hast packte er den fertigen Stapel auf den anderen und sammelte die Blätter auf der Heizung ein. Dabei rutschte die Problemseite mit dem Zwischentitel aus den Löschblättern, fiel zu Boden und bekam beim Aufheben einen Riß. Wertvolle Sekunden verstrichen. Perlmann sah sich mit gehetzten Augen um und schob dann den ganzen Stoß unters Bett. Auf dem Weg zur Tür warf er Handtuch und Zahnbürste im Bad auf den Boden. Bevor er öffnete, blickte er zurück. Der Papierkorb aus Draht voller fleckiger Löschblätter. Der taubenblaue Teppich voll von hellem Staub. Der Tisch unnatürlich leer. Zu spät. Jetzt ist es soweit. Es hat mich also doch noch eingeholt.

«Entschuldige, daß ich dich so spät noch störe», sagte Leskov und blies hastig

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